Angst vor einer neuen Diktatur in Syrien
von Emmanuel Haddad

Der kleine Aram strampelt in der Luft, sein Vater hält den drei Monate alten Sohn in die Höhe. Es sieht aus, als sei der Kleine angesteckt von der Freude der Menschenmenge, die sich vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten auf den Anhöhen von Damaskus versammelt hat. Es ist die Nacht des 3. Juli, die Dunkelheit wird von Lichtstrahlen durchschnitten, hier soll auf einer großen Bühne das neue Nationalwappen Syriens enthüllt werden.
Allein dass man sich so nahe am Präsidentenpalast versammeln kann, ohne dass man Gefahr läuft, verhaftet zu werden, lässt die ungläubige Aufregung der ersten Tage der Befreiung im Dezember 2024 wieder aufleben, als Baschar al-Assad gestürzt wurde und nach Moskau floh.1 „Nichts ist ewig, Baschar ist gefallen“, skandiert eine Gruppe junger Menschen.
Dann stimmen sie die neue inoffizielle Hymne Syriens an: „Heb das Haupt, du bist ein freier Syrer.“ Zwei Tage zuvor wurde in Damaskus und anderen großen Städten gefeiert, dass die US-Sanktionen gegen das Land aufgehoben wurden. Ein großes Hindernis für den Wiederaufbau nach 14 Jahren Krieg, Zerstörung und Plünderungen fiel damit weg.
Schließlich ist es so weit: Auf einem riesigen Bildschirm erscheint die „Neue visuelle Identität der Syrischen Arabischen Republik“: ein goldener Adler auf grünem Grund, darüber drei Sterne. Dann folgt die Übertragung der Rede des Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa, der verkündet: „Die nationale Identität, die wir uns heute geben, steht für ein Syrien, das weder Spaltung noch Teilung akzeptiert.“ Die kulturelle und ethnische Vielfalt sei ein Reichtum und keine Ursache für Konflikte. Drei Tage später streichen die USA die islamistische Rebellengruppe Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS), deren Anführer der Präsident einst war, von der Liste der ausländischen Terrororganisationen.
Doch in diesem Land, das sich eben erst aus langer Dunkelheit erhebt, genügt ein einziger Funke, damit das Pulverfass explodiert und alles wieder in Finsternis versinkt.
Ein Angriff bewaffneter Beduinen auf einen drusischen Gemüsehändler auf der Straße zwischen Damaskus und Suweida, der größten Stadt im mehrheitlich drusischen Süden des Lands, führte am 11. Juli zu Zusammenstößen zwischen bewaffneten drusischen Gruppen und Beduinenkämpfern. Als nach drei Tagen Regierungstruppen aufseiten der Beduinen eingriffen, um „die Ordnung wiederherzustellen“, kam es zu einer Reihe von Übergriffen auf Zivilist:innen auf beiden Seiten. Israel nahm dies zum Anlass, erneut militärisch einzugreifen und unter dem Vorwand, die drusische Minderheit zu schützen, Einrichtungen der syrischen Armee bis ins Zentrum von Damaskus hinein zu bombardieren.2
„Die Regierungstruppen haben Wasser und Strom abgestellt, den Zugang zu Nahrungsmitteln abgeschnitten und die Drusen unter Ausschluss der Öffentlichkeit massakriert. Allein auf mein Viertel haben sie fünf Raketen abgeschossen und drei meiner Nachbarn getötet“, erzählte uns am 16. Juli Osama T., ein junger Druse, der aus Suweida gefohen war.
Alle Aussagen, die wir zu dem Gewaltausbruch sammeln konnten, stimmen überein: Der religiöse Hass der Täter steigerte sich teils bis ins Absurde. So wurden 13 Angehörige einer Familie in ihrem Haus „von Mitgliedern des Verteidigungs- und Innenministeriums“ ermordet, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) berichtete. „Dabei zählte die Familie Radwane zu den wichtigsten Unterstützern der Revolution gegen das Assad-Regime“, klagt Maxim Abu Diab, ein Aktivist der Zivilgesellschaft.
In den sozialen Medien zirkulieren zahlreiche Videos von Erschießungen, die von den Tätern gefilmt wurden; damit lassen sich zwar die Verbrechen beider Seiten dokumentieren, aber sie schaffen auch ein Klima der Angst und Straflosigkeit. „Ich bin Syrer“, antwortet ein am Boden liegender Mann seinem Henker, der ihn fragt, ob er „Muslim oder Druse“ sei, und ihn dann vor laufender Kamera erschießt.
Innerhalb einer Woche wurden nach Angaben von SOHR 1 311 Menschen getötet, darunter drei beduinische und 300 drusische Zivilist:innen, von denen 196 Opfer von Exekutionen wurden. Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) verzeichnete mindestens 814 Tote.
Nachdem die USA am 19. Juli einen Waffenstillstand zwischen Israel und Syrien verkündet hatten, rief al-Scharaa die beduinischen Kämpfer zu dessen Einhaltung auf und gratulierte ihnen gleichzeitig zu ihrem „Heldentum“. Er versprach zudem, die Urheber der Gewalttaten gegen das „drusische Volk, das unter dem Schutz und der Verantwortung des Staats steht“, zur Rechenschaft zu ziehen.
Am 31. Juli kündigte das Justizministerium einen Untersuchungsausschuss an, der zu den Gewalttaten in Suweida ermitteln und seinen Abschlussbericht bis Ende September vorlegen sollte. Trotz solcher Gesten leben die Menschen in der Stadt weiterhin im Belagerungszustand: eine kollektive Bestrafung, die an die schlimmsten Zeiten des früheren Regimes erinnert.3
Für viele Syrer:innen symbolisiert dieser Gewaltausbruch – einer von vielen seit Beginn der Übergangszeit – das Ende der Euphorie und die Rückkehr in die bittere Wirklichkeit. Das alte Syrien mit seiner Diktatur und den omnipräsenten Muchabarat,den Geheimdiensten, ist zwar tot, aber das neue will nicht erscheinen. „Der Sturz des Regimes ist nur eine Etappe auf dem Weg, unser Land zurückzuholen“, sagt Sana Yazigi, die 2013 eine Onlineplattform namens Kreatives Gedächtnis der syrischen Revolution gegründet hat, um „freie Meinungsäußerung, Kunst und Kultur in Zeiten von Revolution und Krieg in Syrien zu archivieren“.
Vor neun Monaten war der Optimismus noch überall zu spüren. Der emotionale Aufruhr nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad war so heftig, da die meisten Syrer:innen bereits jede Hoffnung aufgegeben hatten. Im ganzen Land sah man dramatische Szenen, als Menschen aus dem Exil zurückkehrten und angesichts der sich überschlagenden Ereignisse völlig die Fassung verloren.
Auch Mustafa al-Hadsch fuhr am 15. Dezember aus dem Libanon, wo er eine Schule für syrische Geflüchtete leitete, gemeinsam mit seinem Cousin Giath Richtung Bekaa-Ebene zum Grenzposten von Masnaa, dem wichtigsten Übergang nach Syrien. Auf der syrischen Seite amtierten nun Kämpfer des HTS-geführten Militärbündnisses unter einem zerrissenen Bild des früheren Diktators. Al-Hadsch, gewöhnlich ein kontrollierter Mensch, fiel auf die Knie, riss ein Büschel Gras aus und brach in lautes Schluchzen aus, das er seit 14 Jahren zurückgehalten hatte. „Es ist das erste Mal, dass ich mein Land betrete und es liebe“, sagte er mir, bevor er nach Damaskus weiterfuhr, wo er seit 2011 nicht mehr gewesen war.
Diese Freude wurde damals von der großen Mehrheit der Syrer:innen geteilt. Sie hatten schwer unter dem jahrelangen Krieg gelitten, wie die hohen Geflüchtetenzahlen belegen: 6,2 Millionen Geflüchtete im Ausland (Libanon, Türkei, Deutschland) und über 6,8 Millionen Binnenvertriebene.
Die ersten Signale der neuen Machthaber ließen hoffen, Syrien werde einen friedlichen Übergang anstelle eines neuen Zyklus der Gewalt erleben. Zum einen kam es aufgrund der überstürzten Flucht der Armee, die nach der Niederlage der Hisbollah gegen Israel geschwächt war, nicht zu Bruderkämpfen. Zum anderen richtete al-Scharaa, der seinen Kriegsnamen Abu Muhammad al-Dschaulani abgelegt hatte, beruhigende Reden an die religiösen Minderheiten im Land, die er zu schützen versprach.
Er zeigte auch einen gewissen Pragmatismus, indem er Russland als Schutzmacht des alten Regimes erlaubte, die Marine- und Luftwaffenstützpunkte in Tartus und Hmeimim zu behalten. Seine ersten Schritte als Staatsmann ließen al-Scharaa als kompromissbereiten, flexiblen Politiker erscheinen, der durchaus in der Lage wäre, ein zerrissenes Land auf den Weg der Versöhnung zu bringen. Nachdem Assad und seine Clique gestürzt waren, schien alles möglich.
Doch nach mehr als einem halben Jahrhundert unter der bleiernen Herrschaft eines Mafiaclans, der das Land zu einem Narcostaat gemacht hatte,4 stehen die Syrer:innen vor einer schwindelerregenden Leere. Und sofort stellte sich die Frage nach dem Schicksal der 136 614 Gefangenen – in der Mehrzahl solche des Regimes. Nach dem Sturz des Diktators eilten Tausende zu den Haftanstalten, um Bruder, Schwester, Vater wiederzufinden, die oft schon seit langer Zeit verschollen waren. Allzu oft blieb die Suche erfolglos.
Die Menschen, die aus den Kerkern befreit wurden, waren ausgezehrt und verstört. Fadel Abdulghany, der Leiter des SNHR, erklärte gegenüber dem Sender Al Jazeera, es handle sich nur um etwa 33 000 kürzlich Inhaftierte. Wo waren die anderen? „Man muss der Realität ins Gesicht sehen“, sagte Abdulghany. „Zwischen 80 000 und 85 000 Verschwundene sind vermutlich unter der Folter gestorben.“5
In ihrer Wohnung in Dscharamana, einem Vorort von Damaskus, sagt Madschida Kabdo: „Es geht nicht mehr darum, unsere Angehörigen lebend zu finden, sondern ihre Überreste zu identifizieren.“ Ihr Schwager Mazen al-Hamada war in Sednaya inhaftiert, dem schlimmsten Gefängnis im Folteruniversum der Assads. Wie zahlreiche weitere Gefangene wurde er kurz vor der Befreiung am 8. Dezember erschossen.
Kabdo erklärt, sie schätze sich glücklich, dass sie ihren Schwager begraben konnte. „Der Schmerz ist noch heftiger bei denen, von deren Angehörigen jede Spur fehlt. Es ist, als ob sie der Erdboden verschluckt hätte.“6 Tausende Angehörige getöteter Gefangener warten auf die Exhumierung der Massengräber im ganzen Land, laut SNHR sollen es davon mehr als 60 geben.
Abu Anas al-Asuak ist nach Daraya zurückgekehrt, der Wiege der Revolution im Süden von Damaskus. Er steht vor dem Nichts: Dort, wo sich früher das Stadtviertel Khalij mit 25 000 Einwohner:innen befand, erstreckt sich eine Schuttwüste bis zum Horizont.„Hier stand mein Haus, aber ich kann es nicht wiederfinden. Alle Orte aus meinen Erinnerungen wurden zerstört, ausgelöscht, nur weil unser Viertel nah am Militärflughafen Mezzeh liegt“, klagt der Landwirt. Wie er mussten Zehntausende miterleben, wie ihre Häuser von den Regierungstruppen zerstört und geplündert wurden.
Andere Leerstellen dagegen zeugen vom Sieg über die Diktatur. Sämtliche Assad-Porträts an den Hauswänden wurden zerstört oder abgerissen, sein Konterfei sieht man jetzt nur noch auf Socken, die man auf dem alten Bazar in Damaskus kaufen kann. Verschwunden sind auch die Absperrungen, die Damaskus von der lange belagerten Rebellenenklave Ost-Ghuta trennten.
Verschwunden ist auch die Angst, aufgrund eines Worts oder Namens „hinter die Sonne gebracht“ zu werden. In Harasta, einem zerstörten Ort in der Oase Ghuta, erzählt uns Malak J., man habe sie fünf Monate lang festgehalten und gefoltert, weil sie es gewagt habe, nach ihren beiden verschwundenen Söhnen zu suchen. Heute ist sie stolz, dass sie dem neuen Präsidenten in seinem Palast davon erzählen konnte: „Er war sieben Jahre in Abu Ghraib im Irak eingesperrt. Er kennt unser Schicksal.“
Doch im Laufe der Zeit, noch bevor die Lage in Suweida eskalierte, kamen erste Zweifel auf. Ist das syrische Volk wirklich so einig, dass es die Zeit nach der Diktatur meistern kann? In Duma, der Hauptstadt von Ost-Ghuta, die von Giftgasangriffen und Fassbomben gezeichnet ist, hat Dschamāl Taha schon sehr früh seine Skepsis zum Ausdruck gebracht. Der Revolutionär der ersten Stunde amüsiert sich über die Porträts al-Scharaas, die heute viele Autos schmücken. Er hegt keinerlei Illusionen angesichts der Leute, die er als „Gemeinschaft der Wendehälse“ bezeichnet.
„Der Mukhtar [Ortsvorsteher] von Duma hatte sich anlässlich der Präsidentschaftswahl von 2021 mit Baschar al-Assad fotografieren lassen. Kaum war das Regime gestürzt, schrieb er auf Facebook über die Ungerechtigkeiten der Baath-Partei.“
Nach Tahas Meinung haben solche Wendemanöver aber weniger mit Opportunismus zu tun als mit der über 50 Jahre herrschenden Kultur der Angst: „Meine Mitbürger sind reflexartig bereit, sich jedem neuen starken Mann zu unterwerfen. Wir wollen aber keinen ewigen Führer mehr, sondern einen demokratischen Staat mit Wahlen, die alle vier Jahre abgehalten werden. Eine Amtszeit, und dann kommt der Nächste an die Reihe!“
Die martialisch anmutende Konferenz des Siegs der Syrischen Revolution am 29. Januar verstärkte Tahas Befürchtungen zusätzlich. Der zum Übergangspräsidenten ernannte al-Scharaa verkündete die Auflösung des Parlaments und der Baath-Partei sowie die Aufhebung der 2012 verabschiedeten Verfassung.
Am folgenden Tag versprach er in seiner ersten Rede als Präsident, „die Verbrecher zu verfolgen, die syrisches Blut vergossen haben“, und „eine echte Übergangsjustiz“ aufzubauen sowie einen Ausschuss zur Vorbereitung einer Konferenz für nationalen Dialog, um „die verschiedenen Perspektiven auf das zukünftige politische Programm anzuhören“.
Westliche Regierungen und die syrische Bevölkerung zu beruhigen und zugleich die entscheidenden Elemente der Macht in die Hand zu bekommen, das ist ein gewagter Drahtseilakt für einen Mann, dessen Vergangenheit an seiner demonstrativen Mäßigung zweifeln lässt. Man habe sogar „die Pflicht, daran zu zweifeln“,7 schreibt der Journalist und Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh. Er meint, „die linken, liberalen, atheistischen, nicht gläubigen Syrer“ liefen Gefahr, „am Straßenrand stehen gelassen zu werden“. Am 31. Januar startete die von Saleh gegründete Medienplattform Al-Jumhuriya eine Petition zur Wahl einer verfassunggebenden Versammlung.
„Das syrische Volk wird Einschränkungen nur so lange akzeptieren, wie die Begeisterung nach dem Sturz Assads anhält“, warnt Samer Aldeyaei, Mitgründer des Vereins der freien syrischen Anwälte (Free Syrian Lawyers). Er schließt nicht aus, dass aus der Übergangsphase ein neues Ungeheuer hervorgeht: „Ohne einen rechtlichen Rahmen zur Übergangsjustiz und eine Verfassung, die die Bürger:innen schützt, bereitet man eine neue Diktatur vor. Die ersten Signale sind schon da.“ Man müsse sich nur die Konferenz für nationalen Dialog anschauen, meint Aldeyaei: „Die hat nur ein paar Stunden gedauert.“ Diese große, vorgeblich demokratische Versammlung wurde am 24. und 25. Februar abgehalten, aber erst am Vorabend angekündigt, sodass im Ausland lebende Syrer:innen nicht teilnehmen konnten.

Entführungen und willkürliche Hinrichtungen
Den etwa 500 anwesenden Volksvertreter:innen blieb lediglich Zeit, die bereits von den Machthabern vorgegebenen Ziele abzunicken.8 Dennoch verkündete die EU am 24. Februar die Aufhebung einiger Sanktionen und Einschränkungen in den Bereichen Energie, Verkehr, humanitäre Unterstützung und Bankgeschäfte.
Es stimmt natürlich, dass al-Scharaa die Legitimität des Befreiers für sich verbuchen kann. Nur wenige Syrer:innen bestreiten, dass er ausreichend Spielraum benötigt, um die zahlreichen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Herausforderungen eines durch Bürgerkrieg zerstörten Lands anzugehen. Ein Bericht des UN-Entwicklungsprogramms UNDP schätzt Syriens „verlorenes Bruttoinlandsprodukt“ von 2011 bis 2024 auf rund 800 Milliarden US-Dollar; die Infrastruktur liegt in Trümmern, die Banken verfügen kaum über Liquidität, und neun von zehn Einwohnern leben unterhalb der Armutsschwelle.9
Der neue starke Mann muss die staatlichen Institutionen auf sauberen Fundamenten neu begründen, ohne die Exzesse der Hexenjagd auf Baath-Anhänger zu wiederholen, die nach der US-Invasion 2003 zum Zusammenbruch des irakischen Staats führten. Dafür muss al-Scharaa Zugeständnisse machen und moderat erscheinen, ohne seine radikalsten Verbündeten gegen sich aufzubringen. Und zugleich muss er eine zersplitterte Armee und ein fragmentiertes Staatsgebiet wieder vereinen und gegen regionale Einmischungen verteidigen.
Die Integration der bewaffneten Gruppen – die eigentlich alle aufgelöst sein sollten – in eine einheitliche Armee bleibt ein schwieriges Unterfangen. Im Nordosten verweigern die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), ein mächtiges, kurdisch dominiertes und von den USA unterstütztes Bündnis, den Anschluss an die neue Armee, wenn ihnen nicht ein gewisses Maß an Autonomie garantiert wird.
Im Süden handeln die drusischen Gruppen auf eigene Faust, wie uns in Suweida Scheich Bassem Abu Fakhr, Sprecher einer Gruppe namens Männer der Würde, erklärt: „Im Februar waren wir schon dabei, die letzten Punkte eines Abkommens zwischen der Regierung und mehreren bewaffneten Drusengruppen zu verhandelt, darunter auch die Männer der Würde und die Kämpfer von Scheich al-Hidschri. Aber der hat im letzten Moment einen Rückzieher gemacht.“
Al-Hidschri, einer der drei spirituellen Führer der drusischen Gemeinschaft, suche die Unterstützung Israels, sagt Abu Fakhr, während seine eigenen Leute Tel Aviv als Feind betrachteten. Dennoch könne er al-Hidschris Beweggründe nachvollziehen: „Al-Scharaa hat zwar eine neue Frisur und trägt jetzt Krawatte, aber viele seiner Kämpfer pflegen weiterhin eine rebellische und fundamentalistische Einstellung.“
Wir treffen zwei dieser Kämpfer, Ali M. und Hassan B., im Zentrum von Damaskus: Mit langem Haar und Bart, die Kalaschnikow auf der Schulter, machen sie Selfies vor der Umayyaden-Moschee. Zum ersten Mal seit 14 Jahren spazieren sie durch die Stadt. Sie stammen aus Latakia und haben die gesamte Kriegszeit in Idlib bei der HTS verbracht. Heute sind sie die Gesichter der neuen syrischen Armee. „Ursprünglich habe ich englische Literatur studiert“, erzählt Hassan und versucht zu beruhigen: „Hätte das Assad-Regime nicht so blutig gehandelt, hätte ich niemals zu den Waffen gegriffen. Wir sind nicht die Kopfabschneider, als die uns manche Leute darstellen.“
Die Ereignisse im Westen Syriens lassen indes Zweifel an Hassans Worten aufkommen. Am 6. März begannen loyale Kräfte des alten Regimes mehrere koordinierte Angriffe gegen Militärposten in den Küstenprovinzen Latakia und Tartus. Dadurch hofften sie einen größeren Aufstand der Alawiten zu provozieren – jener Religionsgemeinschaft, der auch der Assad-Clan angehört und die von der neuen Regierung an den Rand gedrängt wurde.
Auch Ali und Hassan waren an der Gegenoffensive der Regierungstruppen gegen die „Relikte des alten Regimes“, wie sie nun offiziell bezeichnet werden, beteiligt. Die Kämpfe dauerten drei Tage, in ihrem Verlauf kam es zu Massakern an Frauen, Kindern und alten Menschen aus der alawitischen Glaubensgemeinschaft.
Nach Angaben des SNHR starben 1 034 Menschen, davon mindestens 595 Zivilist:innen und bereits entwaffnete Kämpfer, die von den Sicherheitskräften der neuen Regierung getötet wurden. Am 9. März wurde ein Schweigemarsch zum Gedenken an die zivilen Opfer in Damaskus von Gegendemonstranten angegriffen, die alle Alawiten der Komplizenschaft mit dem alten Regime bezichtigten und zur Gründung eines „sunnitischen muslimischen Staats“ aufriefen.
„Wir erleben einen faschistischen Moment. Nach fünf Jahrzehnten Diktatur nährt die Angst vor dem Unbekannten eher den Racheinstinkt als die Vernunft“, meint Yamine Hussein, den wir im alawitischen Viertel Zahra in der Stadt Homs 140 Kilometer nördlich von Damaskus treffen. Er selbst lebt zurückgezogen, denn in Homs, wo alle Konfessionen vertreten sind, erlebte die alawitische Gemeinde Entführungen und willkürliche Hinrichtungen.
Hussein war ein Gegner des alten Regimes. Er meint, die Opfer von gestern erlägen jetzt der Versuchung, Selbstjustiz zu üben: „Assad hat die Alawiten zu Komplizen der von ihm begangenen Massaker gemacht, während er die Opfer als Terroristen abstempelte. Deshalb fühlen sich die meisten Sunniten heute nicht solidarisch mit ihren alawitischen Mitbürgern, die dann zum Ziel von Übergriffen werden.“
Bei jeder solchen Tragödie wiederholt die Regierung ihr Versprechen, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, wie es auch bei den Angriffen und Morden in Latakia und Tartus im März geschah. Kurz darauf kam eine neue Entwicklung hinzu, die den allgemeinen Pessimismus noch verstärkte. Am 13. März unterzeichnete al-Scharaa eine Übergangsverfassung, die die islamische Rechtsprechung als Hauptquelle des Rechts festschreibt, der Präsident selbst erhielt nahezu unbegrenzte Machtbefugnisse bis zur Abhaltung von Wahlen in fünf Jahren.10
Einige Tage später wurde die Installation einer „Regierung für Wandel und Wiederaufbau“ angekündigt. Dass ihr auch vier Minister aus den Minderheiten der Alawiten, Drusen, Kurden und Christen angehören, werteten viele in Damaskus als Versuch, die despotischen Ansprüche der neuen Machthaber zu verschleiern. Und als der Ausschuss, der die Übergriffe in den Provinzen Latakia und Tartus am Mittelmeer untersuchen sollte, seinen Bericht Ende Juli vorlegte, mutete es wie eine Ironie der Geschichte an, denn gerade erst waren die Gräueltaten an den Drusen in Suweida beendet worden.
Nach monatelangen Ermittlungen zählte der Ausschuss 1 426 Opfer, die meisten davon Zivilist:innen. Er bestätigte, dass an den Ausschreitungen bewaffnete Gruppen der Sicherheitskräfte beteiligt waren. Eine direkte Verantwortung und entsprechende Befehle der Regierung in Damaskus sah der Bericht allerdings nicht. Das hatte wenige Tage zuvor die Nachrichtenagentur Reuters gemeldet.11
Bis heute wurde keiner der Offiziere, die nach Recherchen von Medien und Menschenrechtsorganisationen Übergriffe verübten oder anordneten, strafrechtlich verfolgt. Manche von ihnen wurden sogar befördert. Syrien mag mit einem neuen Nationalwappen die gemeinsame Identität beschwören. Doch von innerem Frieden und Stabilität ist das Land noch weit entfernt.
1 Akram Belkaïd, „Syrien – Souveränität ohne Gewähr“, LMd, Januar 2025.
2 Angélique Mounier-Kuhn, „Wie Israel in Syrien Fakten schafft“, LMd, Januar 2025.
3 Emmanuel Haddad, „Straflos in Damaskus“, LMd, Oktober 2017.
4 Jean Michel Morel, „Gnadenlos und unerschüttert“, LMd, März 2023.
6 Siehe auch: Charlotte Wiedemann, „Hinter einem Vorhang aus Schmerz“, LMd, Juni 2025.
8 „The new Syria: Halting a dangerous drift“, International Crisis Group, 28. März 2025.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Emmanuel Haddad ist Journalist.
Israels Interessen
von Emmanuel Haddad
Was werden die Drusen unternehmen? Wird es der neuen Regierung in Damaskus gelingen, diese religiöse Minderheit nach den blutigen Übergriffen doch noch in die Nation zu integrieren, getreu ihrem Motto „Weder Spaltung noch Teilung“? Auf jeden Fall will sie verhindern, dass eine „Bundesrepublik Syrien“ entsteht, über die in den sozialen Medien bereits viel diskutiert wird.
Der drusische Scheich Hikmat al-Hidschri, ein Mann mit weißem Bart, sitzt in seinem Hauptquartier in Qanawat in der Provinz Suweida. Er betrachtet die versöhnlichen Gesten von Präsident Ahmed al-Scharaa lediglich als Fassade. „Israel ist nicht unser Feind. Unser Feind sitzt in Damaskus“, erklärt er mit Nachdruck.
Wir trafen al-Hidschri, wenige Tage bevor im Juli ein Streit beduinischer Kämpfer mit seinen Leuten grausam eskalierte. Bereits im April waren bei Zusammenstößen mit Regierungstruppen in den mehrheitlich drusischen Städten Dscharamana und Sahnaya in der Nähe von Damaskus viele Menschen getötet worden.
Zur Vergeltung flog Israel am 30. April einen Luftangriff auf eine „extremistische Gruppe“ in Sahnaya, die Drusen angegriffen haben soll. Die israelische Strategie zielt darauf, die Drusen, die in Israel als historische Verbündete beim Aufbau des jüdischen Staats gelten, in Syrien auf die Seite Israels zu ziehen.
Obwohl die Mehrheit der syrischen Drusen das militärische Eingreifen Israels verurteilt, werden sie von einem Teil der syrischen Bevölkerung als Verräter betrachtet.
Zudem finden viele Syrer:innen, Israel müsse die wasserreichen Golanhöhen zurückgeben, die 1967 erobert und 1981 annektiert wurden.
Inzwischen führt Israel intensive, durch die USA vermittelte Gespräche mit der neuen syrischen Regierung. Berichten zufolge soll der israelische Minister für strategische Angelegenheiten und Netanjahu-Vertraute Ron Dermer den syrischen Außenminister Asaad al-Schaibani am 20. August in Paris getroffen haben, um über die Sicherheitslage im Süden Syriens zu sprechen.
Übergangspräsident al-Scharaa bestätigte Ende August, man stehe mit Israel in „fortgeschrittenen Verhandlungen“ über ein Sicherheitsabkommen. Israels Außenminister Sa’ar machte allerdings bereits deutlich, dass „in jedem Friedensabkommen der Golan ein Teil des Staats Israel bleiben wird“.
Alles deutet darauf hin, dass Israel ein schwaches Syrien an seiner Grenze wünscht. Direkt am 8. Dezember 2024 besetzte die israelische Armee die Pufferzone auf der syrischen Seite der Golanhöhen – ein Bruch des Truppenentflechtungsabkommens, das die beiden Staaten 1974 geschlossen hatten.
Kurz darauf zerstörte Israels Luftwaffe innerhalb von 48 Stunden rund 80 Prozent der militärischen Kapazitäten seines Nachbars und begann mit dem Aufbau von Militärposten an der Grenze unter dem Vorwand, die Bewohner:innen der Golanhöhen schützen zu müssen.
Dient diese neue Besatzung womöglich dazu, die alte vergessen zu machen? Das vermutet Abu Zein, der in Chan Arnaba am Rand der Pufferzone lebt: „Wenn es zu Verhandlungen kommt, könnten die Israelis durchsetzen, dass es nur um den Rückzug aus der Pufferzone und nicht um die Rückgabe der Golanhöhen an Syrien geht.“
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu forderte bereits im Februar die „komplette Demilitarisierung des südlichen Syriens“; jetzt nutzt er den Schutz der Drusen als Vorwand, um diesen Anspruch durchzusetzen.


