11.09.2025

Von Damaskus nach Tübingen

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Von Damaskus nach Tübingen

Im Jahr 2015 kamen fast 1 Million Menschen nach Deutschland. Die meisten von ihnen sind heute erwerbstätig. Was es für eine gelingende Integration in den Arbeitsmarkt braucht.

von Alieren Renkliöz

Angestellter aus Eritrea in einem Stuttgarter Betrieb SEBASTIAN GOLLNOW picture alliance/dpa
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Die junge Frau von der Ausländerbehörde zeigt auf das Studentenwohnheim in einem Tübinger Außenbezirk: „Hier haben wir anfangs gewohnt“, erzählt Salwa Saada. 15 Quadratmeter für sie und ihre Tochter, ein mit Fremden geteiltes Bad, die Müdigkeit einer Flucht von tausenden Kilometern in den Knochen.

Im September 2015 kam sie mit einem Säugling auf dem Arm in Deutschland an, als Kriegsflüchtling und alleinerziehende Mutter, eine von damals 890 000 Menschen.1 „Ich hätte nie gedacht, dass ich woanders als in Damaskus leben könnte“, erinnert sich Saada, die in Syrien Jura studiert hatte.

In der ersten Zeit haben Ehrenamtliche ihr Kleidung vorbeigebracht, beim Ausfüllen von Formularen geholfen und sind mit ihr Kaffee trinken gegangen. Nachdem sie Deutsch gelernt hatte, machte sie eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten und bekam schließlich eine Stelle als Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde. Heute ist sie Deutsche, und ihre mittlerweile elf Jahre alte Tochter geht aufs Gymnasium. Ob sich noch einmal so viele Freiwillige finden würden? Saada schüttelt den Kopf, die Stimmung im Land sei inzwischen eine ganz andere.

Narrative wie das von „arbeitsscheuen Flüchtlingen, die in die Sozialsysteme einwandern“, dominieren die politischen Debatten über Migration. Die AfD ist mittlerweile zweitstärkste Kraft – eine Partei, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu ihrem politischen Markenkern gemacht hat. Von der CDU bis hin zu den Grünen versucht man sie von rechts einzuholen und legitimiert so deren rechtsextreme Agenda. Ex-Kanzlerin Merkels Losung „Wir schaffen das“ ist in Verruf geraten. Niemand würde heute angesichts von knapp einer Million Neuankömmlingen begeistert das „nächste deutsche Wirtschaftswunder“ pro­gnos­ti­zie­ren wie damals Daimler-Chef ­Dieter ­Zetsche.

Doch lagen die beiden wirklich so falsch? 64 Prozent der 18- bis 64-Jährigen, die damals nach Deutschland kamen, waren 2024 abhängig beschäftigt, 5 Prozent selbstständig. Unternehmensverbände wie die Industrie- und Handelskammer (DIHK) oder Gesamtmetall betonen weiterhin, wie wichtig Migration für den Arbeitsmarkt ist. Schaut man sich die Beschäftigungsquote der 2015 angekommenen Männer an, lag diese 2024 mit 76 Prozent sogar leicht über dem Durchschnitt der männlichen Bevölkerung in Deutschland (72 Prozent).2

Die deutsche Gesellschaft altert. Bis 2036 werden 12,9 Millionen Erwerbstätige das Rentenalter erreicht haben. Selbst wenn die gesamte Alterskohorte zwischen 15 und 24 Jahren nach abgeschlossener Ausbildung erwerbstätig wäre, würde sie nur etwa 8,4 Millionen Erwerbspersonen stellen. Der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (IWD) schätzt, dass jedes Jahr mindestens 400 000 Menschen mehr zu- als abwandern müssten, um dieses Defizit auszugleichen.3 Wer nicht daran glaubt, dass KI und Roboter uns alle bald ersetzen werden – ganz abgesehen von der Frage, ob man in einer solchen Gesellschaft überhaupt leben möchte –, muss sich konstruktiv mit dem Thema Migration auseinandersetzen und kann aus den Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre lernen: Was hat Geflüchteten auf ihrem Weg in den deutschen Arbeitsmarkt geholfen, und was hat sie dabei behindert?

Salwa Saada vergibt heute selbst Aufenthaltstitel. Sie hat einen prüfenden Blick, und man fragt sich, wie streng sie wohl als Sachbearbeiterin ist. Der wichtigste Schritt, erzählt sie, sei für sie das Deutschlernen gewesen. Doch damit musste sie warten, bis ihre Tochter zwei Jahre alt wurde und einen Kitaplatz bekam. Den Fehler, nicht auf Deutschunterricht in der Breite zu setzen, den man bei den sogenannten Gast­ar­bei­te­r:in­nen in den 1950er und 1960er Jahre machte, hat man vor zehn Jahren nicht wiederholt. Seit 2015 haben knapp 2,5 Millionen Geflüchtete4 etwa 155 000 Integrationskurse besucht.

Die schnelle Anerkennung eines Asylantrags beschleunigt laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) später die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Je länger sich hingegen ein Asylverfahren hinzieht, desto später werden Geflüchtete nach ihrer Anerkennung erwerbstätig. So senkt ein um sechs Monate verlängertes Asylverfahren die Übergangsrate in die Erwerbstätigkeit um 11 Prozent.5 Die Unsicherheit, jeden Tag abgeschoben werden zu können, schränkt die Selbstwirksamkeit von Menschen nachhaltig ein.

Schon 2016 gründete die DIHK das Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge (Nuif). Damals stand für viele Betriebe vor allem diese Frage im Raum: „Dürfen wir den Kandidaten überhaupt einstellen?“, berichtet Marlene Thiele vom Nuif. Mittlerweile sind in dem Netzwerk mehr als 4600 Firmen organisiert. Der Informationsaustausch zwischen großen und kleinen Betrieben sei wichtig gewesen, so Thiele. Die großen hätten mehr Ressourcen und häufig eine eigene Rechtsabteilung. Kleinere Unternehmen seien wiederum beweglicher und könnten schneller neue Konzepte ausprobieren.

Ulrich Temps blickt auf den Betonrohbau in seinem Geburtsort Neustadt am Rübenberge, die neue Firmenzen­trale für seinen Malerbetrieb. Bald werde er die Leitung abgeben: „Ein potenzieller Nachfolger wird schon auf den Job vorbereitet“, sagt er. Auch sonst denkt er viel an die Zukunft. Rund 50 Azubis mit Fluchthintergrund haben seit 2019 in seiner Firma eine Ausbildung gemacht; dagegen seien immer weniger junge Leute, die in Deutschland aufgewachsen sind, noch bereit, körperliche Arbeit zu verrichten, sagt Temps.

Die Zahl der Auszubildenden lag in der Gesamtrepublik 2010 bei 1,5 Mil­lio­nen, 2023 war sie auf 1,2 Millionen gefallen.6 Vor allem junge Deutsche machen immer seltener eine Ausbildung, bei ausländischen Staatsangehörigen hingegen stieg die Zahl der Azubis zwischen 2015 und 2023 um 54 Prozent.

Als er die Entscheidung traf, gezielt Geflüchtete einzustellen, habe er zuallererst seine Belegschaft überzeugen müssen, erzählt Temps. „Warum holen wir uns diesen Flüchtling in den Betrieb?“, habe sich einer beschwert. Daraufhin habe er eine Versammlung einberufen: „In zehn Jahren sind circa 15 Prozent von euch im Ruhestand. Wenn wir nicht genug neue Mitarbeiter einstellen, wird das Unternehmen schrumpfen, und dann müssen wir Mitarbeiter in der Verwaltung entlassen“ – ein schlagendes Argument. So würde er es am liebsten auch mit dem Rest des Landes machen: „Man muss die Leute überzeugen, dass Migration erforderlich ist. Dann muss man die richtigen Wege finden und entwickeln.“

Ein Industrieparklatz in Hannover: Zwei Mitarbeiter der Firma Temps stehen in ihren weißen Maleranzügen auf einem Gerüst. Ausgestattet mit Rollpinseln, malen sie ein Logo auf die Fassade. Dieter (Name geändert) blickt nach oben zu seinen Kollegen und erzählt, dass es schon mal zu Reibungen komme, wenn jemand die Sprache nicht richtig spreche. „Dann kannst du halt nicht einfach hier unten stehen und sagen, dass was weiter nach links muss oder dass der Finger da nicht richtig ist.“ In solchen Situationen müsse er oft Dinge wiederholen, manchmal auch selbst hoch, um es vorzumachen. „Dann fragt sich der Chef, warum etwas noch nicht fertig ist.“ Guter Wille lässt Probleme nicht verschwinden, doch er schafft Raum, um an ihnen zu arbeiten.

Wie sieht die Integration im Malereibetrieb Temps konkret aus? Wichtige Stütze ist das Programm „Ausbildung Plus“, womit migrantische Auszubildende auf dem Weg zum Facharbeiterabschluss begleitet werden. In allen drei Lehrjahren besuchen sie neben der Berufsschule einmal pro Woche das betriebsinterne Schulungszen­trum. Um eine Ausbildung zu beginnen, sind ein Schulabschluss und Deutschkenntnisse keine zwingenden Voraussetzungen, stattdessen werden Azubis mit geringen Deutschkenntnissen für den betriebsinternen Sprachkurs freigestellt. Unterrichtet werden sie von pensionierten Lehrer:innen. Erhebungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeigen, dass solche Berufssprachkurse die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung wahrscheinlicher machen.7

In Tettnang im Bodenseekreis hat der Outdoorausrüster Vaude seinen Sitz. Die Unternehmerin Antje von ­Dewitz begann früh, Geflüchtete in den Betrieb zu integrieren. Doch weil zwischenzeitlich fast alle von Abschiebung bedroht waren, gründete sie gemeinsam mit anderen Unternehmern die Initiative Bleiberecht durch Arbeit.

„Unternehmen wurden von der Politik dazu aufgefordert zu integrieren, und dann wurden die integrierten Leute abgeschoben – das war für uns völlig paradox.“ Die Initiative habe in Baden-Württemberg erreicht, dass die Verwaltungspraxis geändert worden sei, und sie habe sich in die Debatte um das Gesetz zur Beschäftigungsduldung eingeschaltet, das Anfang 2020 bundesweit in Kraft trat. So habe man bei Vaude Abschiebungen verhindern können – bis Februar dieses Jahres.

Noch am Morgen habe man mit dem Mitarbeiter aus Nigeria gesprochen, der bei Vaude einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatte. Der Personaler Georg Müller erzählt: „Er war sehr optimistisch, denn alles sah gut aus, nur noch ein Sprachzertifikat fehlte.“ In der Nacht wurde er abgeschoben, mit seiner Frau und drei Kindern.

„Wir haben daraufhin versucht, die Abschiebung auf rechtlicher Ebene zu stoppen, und uns um politische Unterstützung bemüht“, erzählt Müller. Doch das Abschiebeflugzeug startete. Er erinnert sich an einen Videocall: Die Familie, die verwirrten Kinder in Nigeria – „das hat uns kalt erwischt“.

Von Dewitz fordert eine schnellere Klärung des Aufenthaltsstatus, um langjährige Duldungen zu vermeiden. So wäre frühzeitig entschieden, ob jemand eine echte Chance hat. Während die Zahl der Asylanträge seit 2023 kontinuierlich sinkt, ist die Zahl der Abschiebungen gestiegen.8 Anders als oft von rechten Po­li­ti­ke­r:in­nen und Medien behauptet, handelt es sich dabei in vielen Fällen nicht um Straftäter. Bisher konnte eine Duldung oft eine Abschiebung verhindern. Seit im Februar 2024 das neue Rückführungsgesetz in Kraft getreten ist, werden nun aber auch Menschen abgeschoben, „die gut integriert, erwerbstätig und nicht vorbestraft sind“, schreibt das Deutsche Institut für Demokratie und Entwicklung.9

Der Theatermacher und Jugendpädagoge Tareq Alwawi, der 2015 als syrischer Geflüchteter nach Deutschland kam, erzählt, dass die ständige Angst, abgeschoben zu werden, Menschen so sehr belaste, dass sie die Motivation für viele Dinge verlieren. Mit Workshops versucht er die Selbstwirksamkeit von geflüchteten Kindern und Jugendlichen zu fördern. Die Autorin Ursula Krechel beschreibt in ihrem Essay „Vom Herzasthma des Exils“, wie solche andauernden Zustände existenzieller Unsicherheit zu Krankheiten und seelischem Schmerz führen können, und findet klare Worte: „Ein Nein zur Mi­gra­tion ist ein Ja zum Rassismus.“10

Ein gambischer Geflüchteter berichtete, dass er mehrere Jahre bei einem Friseur in Ausbildung war, der ihn sexuell belästigte. Doch er habe den Job nicht kündigen können. „Es war schon schwer genug, den Platz zu bekommen“, sagt er und blickt schüchtern unter seinem Käppi hervor. Weil seine Duldung an den Ausbildungsplatz geknüpft war, musste er die Situation ertragen. Dabei gäbe es eine einfache Lösung: Man legalisierte den Status aller Migrant:innen, die derzeit hier leben. Dann lebten die Menschen nicht in ständiger Angst und hätten es dadurch leichter, sich zu integrieren.

Menschen sollten nicht nur bleiben dürfen, weil sie „nützlich“ sind, sondern weil es jedem freistehen sollte, dort zu leben, wo man will. Unternehmer wie Ulrich Temps oder Antje von Dewitz stehen für eine Rationalität, die man in der Politik vermisst. Doch ein abgeschobener Azubi ist ersetzbar, ein Unternehmen verkraftet das; schließlich gibt es auch Abbrecher unter Nichtgeflüchteten. Hinter jeder Abschiebung steht aber ein Mensch, dessen Hoffnungen und Anstrengungen auf einen Schlag vernichtet werden.

In Tübingen läuft Salwa Saada an einem Spielplatz vorbei: „Hier hat meine Tochter früher oft gespielt. Das war praktisch, ich konnte sie vom Fenster aus sehen.“ Es macht sie wütend, dass in der Politik meist nur von Straftätern gesprochen wird: „Dieses Land hat uns aufgenommen, dafür bin ich sehr dankbar. Doch was wir für Deutschland leisten, muss auch gesehen werden.“

„Wenn sie jetzt wirklich anfangen, nach Syrien abzuschieben, dann sollten alle Syrer, die hier arbeiten, streiken“, sagt sie. Das könnte ein Erfolg versprechendes Unterfangen sein. Als Friedrich Merz im Dezember 2024, wenige Tage nach dem Sturz des Assad-Regimes, diese Debatte startete, war die Pflegebranche eine der ersten, die anmerkte, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht auf die syrischen Arbeitskräfte verzichten könnte.

Braucht es also einen Geflüchtetenstreik, um zu demonstrieren, wie wichtig Migration ist?

1 „Migrationsbericht 2015“, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 14. Dezember 2016.

2 Herbert Brücker, Philipp Jaschke und Yuliya Kosya­kova, „10 Jahre Fluchtmigration 2015: Haben wir es geschafft? Eine Analyse aus Sicht des Arbeitsmarktes“ (IAB-Kurzbericht 17/2025), Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 25. August 2025.

3 „Deutschland braucht mehr ausländische Fachkräfte“, IWD, 30. Oktober 2024.

4 Presseanfrage ans Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) am 4. August 2025. Genaue Anzahl der Teilnehmer: 2 458 000.

5 Hanna Brenzel und Yuliya Kosyakova, „Geflüchtete auf dem deutschen Arbeitsmarkt: Längere Asylverfahren verzögern Integration und Spracherwerb“ (IAB-Kurzbericht 6/2019), 12. März 2019.

6 „Zahl der Auszubildenden“, Statistisches Bundesamt, Stand: 14. November 2024.

7 „Evaluation der berufsbezogenen Deutschsprachförderung nach § 45a AufenthG. Abschlussbericht Option“, BMAS, Februar 2025.

8 Siehe „Asylanträge in Deutschland“, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 1. August 2025; sowie „Abschiebungen in Deutschland“, bpb, 14. März 2025.

9 „Abschiebung ohne Vorwarnung: Integration, Arbeit und der menschliche Preis in Deutschland“, Deutsches Institut für Demokratie und Entwicklung, 28. Juni 2025.

10 Ursula Krechel, „Vom Herzasthma des Exils“, Stuttgart (Klett-Cotta) 2025.

Alieren Renkliöz ist freier Journalist. © LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.09.2025, von Alieren Renkliöz