11.09.2025

Was sagt China zu Gaza?

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Was sagt China zu Gaza?

von Renaud Lambert und Meriem Laribi

Protestslogan in Hongkong, März 2025: „Stoppt das Töten palästinensischer Zivilisten!“ ­PONGMANAT TASIRI picture alliance/sopa/sipa
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Langsam sinken die Fallschirme mit ihren schweren Lasten Richtung Boden. Menschen strömen zu den Stellen, wo die Behälter mit Hilfsgütern aufsetzen. Man hört die Freudenschreie desjenigen, der die Szene filmt, bevor er selbst losrennt. Das Video ging im Mai viral. „Während die EU weiterhin Waffen an die zionistische Regierung schickt, wirft China Lebensmittel und Medikamente über Gaza ab“, lobte ein User auf X am 10. Mai 2025. Allein, das Video war eine Fälschung. Viele Beobachter fragten sich daraufhin erneut: Warum unternimmt China nichts für die Menschen in Gaza?

Aber ist dieser Vorwurf überhaupt begründet? Als die israelische Regierung nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 von China verlangte, den Angriff der Hamas als „terroristisch“ einzustufen, lehnte die Regierung in Peking dies ab. Am 22. Februar 2024 erklärte der Rechtsberater des chinesischen Außenministeriums, Ma Xinmin, dazu vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH): „Der israelisch-palästinensische Konflikt hat seinen Ursprung in der anhaltenden Besetzung der palästinensischen Gebiete.“1

Zudem rechtfertigte Xinmin den bewaffneten Kampf: „Bei der Verfolgung seines Rechts auf Selbstbestimmung ist die Anwendung von Gewalt durch das palästinensische Volk, um der ausländischen Unterdrückung zu widerstehen und die Gründung eines unabhängigen Staats zu erreichen, ein unveräußerliches Recht, das fest im Völkerrecht verankert ist.“

Seit Beginn der verheerenden Angriffe der israelischen Armee gegen Gaza hat China allen UN-Resolutionen zugestimmt, in denen ein Waffenstillstand gefordert wird. Im Juli vergangenen Jahres vermittelte Peking zudem ein Abkommen zwischen 14 palästinensischen Gruppierungen, darunter Fatah und Hamas, über die Bildung einer „Einheitsregierung“ in Gaza nach Beendigung des Konflikts.

Und im Juli dieses Jahres beteiligte sich China an dem internationalen Gipfel, den die Haager Gruppe (Bolivien, Kolumbien, Kuba, Honduras, Malaysia, Namibia, Südafrika und Senegal) in Bogotá veranstaltete. Offizielles Ziel des Treffens war, in der Gazafrage den Worten Taten folgen zu lassen und der Straflosigkeit, die Israel auf der internationalen Bühne genießt, ein Ende zu setzen.

Die Abschlusserklärung unter­zeichnete Peking jedoch nicht. In ihr wurden konkrete Maßnahmen angekündigt, darunter eine Verpflichtung, „die Lieferung oder den Transfer von Waffen, Munition, militärischem Treibstoff, militärischer Ausrüstung und ­Dual-Use-Gütern nach Israel zu verhindern“.2

Trotz großer Worte treibt China ungerührt weiter Handel mit Israel und ist nach den USA dessen zweitgrößter Wirtschaftspartner sowie größter Importeur. Seit 2021 kontrolliert der Hafenbetreiber Shanghai International Port zudem ein automatisiertes Containerterminal in Haifa. Sein ökonomisches Gewicht könnte Peking also zweifellos nutzen, um stärker auf den aktuellen Konflikt Einfluss zu nehmen.

Für Eli Friedman, Professor an der Cornell University, zeigt diese Haltung, dass „China kein aufrichtiges und solidarisches Interesse an der Befreiung Palästinas hat“.3 Diese Erklärung reicht aber nicht aus, um zu verstehen, wie sich die chinesische Position vom antikolonialen Internationalismus in den Anfängen der Volksrepublik nach 1949 zu der Untätigkeit entwickeln konnte, die ihr heute vorgeworfen wird.

„Israel und Formosa [Taiwan] sind Stützpunkte des Imperialismus in ­Asien“, hatte Mao Tse-tung im März 1965 vor einer Delegation der Palästinensischen ­Befreiungsorganisa­tion (PLO) erklärt, die China als erstes nichtarabisches Land anerkannte. „Für euch schufen sie Israel und für uns Formosa.“4 Fünf Jahre zuvor hatten die USA Atomraketen auf der Insel vor Chinas Küste stationiert. Zu dieser Zeit förderte China den bewaffneten antikolonialen Kampf, und Palästina profitierte davon.

Später änderte Peking jedoch seine Position. Das zeigte etwa der Besuch von US-Präsident Richard Nixon in Peking 1972 und das Treffen zwischen seinem Nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger und dem chinesischen Premierminister Tschou En-lai ein Jahr später. Diese Ereignisse markierten einen Wendepunkt: Peking und Washington näherten sich an, getrieben von gemeinsamer Abneigung gegen Moskau.

Verbale Solidarität bei regem Handel mit Israel

Um die Annäherung zu erleichtern, mäßigte China seine antiimperialistische Rhetorik. Doch seine Position zu Israel blieb unverändert. Peking werde keine diplomatischen Beziehungen zu Tel Aviv aufnehmen, solange das Land „das Gebiet, das es gewaltsam an sich gerissen hat, nicht zurückgibt“, betonte Tschou gegenüber Kissinger.5

Die Zeit, die mit dem Amtsantritt von Deng Xiaoping 1978 begann, stellte gewiss einen Bruch dar, doch dieser war nicht so radikal, wie oft suggeriert wird. „Wir haben linke Fehler gemacht“, erklärte Deng 1988 bezogen auf die Kulturrevolution (1966–1976). Und die KPCh definierte neue politische Prioritäten: „Vom Klassenkampf zur Produktivität, von der Abschottung zur Öffnung.“

Alles wurde nun in den Dienst des Wachstums gestellt, auch die interna­tio­nalen Beziehungen. Nur in Bezug auf den Nahen Osten änderte sich Pekings Position zunächst nicht: Als in Algier 1988 der Staat Palästina ausgerufen wurde, erkannte ihn die chinesische Regierung umgehend an.

Im Laufe der Jahre betrieb China seine Wiedereingliederung in die internationalen Organisationen, indem es eine strenge Achtung der UN-Charta propagierte, insbesondere den Grundsatz der Nichteinmischung. Da sich dieses Prinzip nur schwer mit der Unterstützung des bewaffneten palästinensischen Kampfes vereinbaren ließ, versiegte Chinas Unterstützung allmählich.

Ein praktischer Nebeneffekt für Peking: Diese Entwicklung erleichterte die Annäherung an die kapitalistische Welt im Allgemeinen und an Israel im Besonderen. Bestärkt durch die Zurückhaltung der arabischen Länder in der Palästinafrage, verabschiedete sich China vom Antizionismus und trat nunmehr für die Zweistaatenlösung ein. Im Januar 1992 nahm Peking diplomatische Beziehungen zu Israel auf.

Dies war also die chinesische Position vor dem 7. Oktober 2023: eine propalästinensische Tradition, die aber den Erfordernissen der „Öffnung“ nicht im Weg stehen darf. Da in Gaza mittlerweile ein Genozid im Gang ist, stellt sich aber eine Frage immer drängender: Warum unterstützt China die Menschen in Gaza nicht, indem es sich dem Westen, der Israel größtenteils unterstützt, deutlicher entgegenstellt? Immerhin hält sich Peking im Brics-Bündnis (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) mit seiner Kritik am US-Imperialismus keineswegs zurück.

„China ist sich darüber im Klaren, dass es schwer zu rechtfertigen wäre, Washington eine politische Instrumentalisierung der Zollpolitik vorzuwerfen und gleichzeitig selbst Sanktionen gegen Israel zu verhängen“, meint Bruno Guigue, Gastprofessor an der Pädagogischen Universität Südchina (SCNU). Solche Maßnahmen beschränkt China auf Staaten und Personen, die sich in das einmischen, was es als seine inneren Angelegenheiten ansieht: Taiwan, Xinjiang, Tibet und so weiter.

Das sei jedenfalls die „offizielle“ Position, meint Guigue, schließt jedoch ein diskretes Vorgehen nicht aus. Das israelische Nachrichtenportal Ynet zitierte im Dezember 2023 „einen leitenden Mitarbeiter“ einer israelischen Hightechfirma: „Die Chinesen verhängen eine Art von Sanktionen gegen uns. Sie erklären es nicht offiziell, aber sie verzögern Lieferungen. Sie führen verschiedene Ausreden und Vorwände an, zum Beispiel verlangen sie von chinesischen Lieferanten Exportlizenzen für Israel, die es vorher nicht gab.“6 Ob China wirklich auf diese Weise indirekt Druck ausübt, lässt sich allerdings nicht eindeutig belegen.

Ein chinesischer Wissenschaftler, der anonym bleiben möchte, argumentiert: „Es ist unklar, was China überhaupt tun kann, wenn die arabischen Länder selbst tatenlos bleiben.“ Außenminister Wang Yi hatte im Januar 2022 klargestellt: „Unserer Auffassung nach obliegt es den Völkern des Nahen Ostens, die Region zu verwalten. Sie brauchen keine Bevormundung von außen.“7 Damals verloren die USA ihr Interesse, sich in der Region einzumischen, weswegen einige Stimmen die chinesische Regierung zu einem stärkeren Engagement aufforderten.

Nach Ansicht von Yin Gang von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften wünschen sich „innerhalb der US-Eliten einige tatsächlich, dass China das von den USA hinterlassene ‚Machtvakuum‘ im Nahen Osten füllt. Sie hoffen, dass die chinesische Regierung dieselben Fehler begeht, sich in der komplexen Situation verstrickt und geschwächt wird. Aber China wird nicht in diese Falle tappen.“

Tatsächlich beklagt Oriana Skylar Mastro, die im Pentagon für die strategische Planung zuständig war, dass die chinesische Regierung „nicht an ausländische Militärinterventionen als Machtinstrument glaubt“. Sie selbst habe an Versuchen mitgearbeitet, um China in diese Art von Schlamassel zu ziehen, etwa in Iran, jedoch ohne Erfolg.8

Eine Intervention „würde den Prinzipien widersprechen, die China seit Langem vertritt“, erklärt Lin Jing vom Nahost-Institut der Universität Singapur. „Es könnte dem sorgfältig gepflegten Image schaden, nämlich dem einer verlässlichen, blockfreien Macht, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über geopolitische Rivalität stellt.“ Die chinesische Regierung bedaure durchaus, dass multilaterale Institutionen an Bedeutung verlören, und sei nach wie vor der Ansicht, dass „Konflikte durch die UNO und nicht unilateral durch hegemoniale Mächte gelöst werden sollten“.9

Aber was, wenn eine Hegemonialmacht – in diesem Fall die USA – den Weg über die UNO blockiert? Und kann ein Völkermord einfach als „Konflikt“ abgetan werden? Sollten Staaten, die solchermaßen gegen das Völkerrecht verstoßen, nicht damit rechnen, dass ihre Souveränität infrage gestellt wird? Das kann man so sehen, doch aus der Perspektive Pekings bestünde bei einer solchen Logik die Gefahr, dass sie sich gegen China selbst wendet, vor allem in Bezug auf Xinjiang: Einige werfen Peking vor, dort einen Genozid an den Uiguren zu begehen.

Das mörderische Vorgehen Israels in Gaza reicht jedenfalls nicht aus für eine Neuordnung der chinesischen Prioritäten, angefangen bei der wichtigsten: der inneren Stabilität. In einer Zeit, in der sich die Anhänger Palästinas und Israels in den sozialen Netzwerken gegenseitig zerfleischen, will die chinesische Regierung keine internen Debatten anheizen.

Zudem muss sie sicherstellen, dass die Wirtschaft weiterwächst, um den sozialen Frieden zu schützen.10 Angesichts der aktuellen Zollverhandlungen und der Verwerfungen im internationalen Handelssystem bemüht sie sich, die Handelsbeziehungen zu Israel und den USA bestmöglich aufrechtzuerhalten. Dies dürfte auch erklären, warum weder die Regierung noch die offiziellen chinesischen Medien den Begriff Völkermord in den Mund nehmen.

1 „Public sitting held on Thursday 22 February 2024, at 10 a. m., at the Peace Palace, President Salam presiding, on the Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem“, Internationaler Gerichtshof, Den Haag, 22. Februar 2024.

2 „Joint statement by the Hague Group on the con­clusion of the emergency conference on Palestine at the Bogotá conference, in Bogotá, Republic of Colombia, from 15 to 16 July 2025“, Pressemitteilung, 16. Juli 2025.

3 Zitiert nach Shireen Akram-Boshar, „China’s ties with Israel are hindering the Palestinian struggle for freedom“, Truthout, 1. Dezember 2024.

4 Zitiert nach Zhang Sheng, „From Global Anti-­Imperialism to the Dandelion Fighters: China’s Solidarity with ­Palestine from 1950 to 2024“, Transnational ­Institut, 12. März 2025.

5 „Memorandum of conversation“, Office of the Historian, Washington, D. C., 18. Februar 1973.

6 Navit Zomer, „Israeli high-tech factories have diffi­culties importing components from China“, Ynet News, 24. Dezember 2023.

7 Yang Sheng und Zhang Changyue, „China will not fill the so-called power vacuum after US pullout; Mideast countries ‚should control own destiny‘ “, Global Times, 16. Januar 2022. Auch die folgenden Zitate sind diesem Text entnommen.

8 Zitiert nach Arnaud Bertrand in „Is China helping Iran by not intervening?“, Substack, 18. Juni 2025.

9 Lin Jing, „No troops, no demands: China’s new appeal in a war-weary world“, ThinkChina, 9. Juli 2025.

10 Siehe Renaud Lambert, „China am längeren Hebel“, LMd, Mai 2025.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Renaud Lambert ist Redakteur bei LMd, Paris. ­Meriem Laribi ist Journalistin und Autorin von „Ci-gît l’humanité. Gaza, le génocide et les médias“, Paris (Éditions ­Critiques) 2025.

Le Monde diplomatique vom 11.09.2025, von Renaud Lambert und Meriem Laribi