11.09.2025

Großbritannien – Ende des Sozialstaats?

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Großbritannien – Ende des Sozialstaats?

Der Rücktritt von Vize-Regierungschefin Angela Rayner könnte den Anfang vom Ende der Regierung Starmer markieren. Der Labour-Premier tut seit seinem Wahlsieg vor einem Jahr alles, um dem Brexit-Dirigenten Farage den Weg an die Macht zu ebnen.

von Daniel Finn

Keir Starmer und sein neuer Chefberater Darren Jones SIMON DAWSON avalon/picture alliance/photoshop
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Für Premierminister Keir ­Starmer und sein Beraterteam war das Vorbild stets die ­Labour Party unter Tony Blair. Und auf den ersten Blick konnte sich Starmers Wahlsieg im Juli letzten Jahres tatsächlich mit den Wahlerfolgen Blairs messen: Mit 411 Sitzen verfügte Starmer über die größte parlamentarische Mehrheit, die je eine Partei seit den beiden Wahlsiegen von Blairs „New Labour“ erzielt hat. Die hatte im Mai 1997 die Rekordzahl von 418 Sitzen und im Juni 2001 immer noch 412 ­Sitze erobert.

Doch wenn man genauer hinsieht, steht Starmers Regierung weniger stabil da. Seine Partei erhielt bei den Wahlen im letzten Jahr nur 33,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, 1997 hatte der Stimmenanteil von Labour noch um 7 Prozentpunkte höher gelegen. Gegenüber den Parlamentswahlen von 2019 konnte die Partei ihren Wähleranteil um lediglich 1,6 Prozentpunkte steigern. Dass sie damit dennoch die Anzahl ihrer Parlamentssitze verdoppeln konnte, verdankt sie den Eigenheiten des britischen Wahlsystems (siehe Text auf Seite 10 rechts oben).

In absoluten Zahlen hat Labour unter Starmer weniger Stimmen bekommen als unter seinem Vorgänger ­Jeremy Corbyn im Jahr 2019. Doch Starmer profitierte vom katastrophalen Absturz der Konservativen, die schwere Stimmenverluste in alle Richtungen erlitten: in der politischen Mitte an die Liberaldemokraten und nach rechts an Reform UK (die frühere Brexit ­Party) des Rechtspopulisten Nigel Farage.

Seit seinem Wahlsieg geht es für Starmer kontinuierlich bergab. Bereits am 24. Dezember 2024 behauptete die Financial Times, selbst in Labour-Kreisen herrsche der Eindruck vor, dass der Premier „die ersten Monate an der Macht vermasselt“ habe: „Kein Pre­mier­minister der jüngeren Vergangenheit hat je in so kurzer Zeit einen so katastrophalen Verlust an öffentlicher Unterstützung erlebt.“

Lob vom Labour-Chef für die Eiserne Lady

In Blairs erster Amtszeit dauerte es mehr als drei Jahre, bis Labour in den Meinungsumfragen von der ­Conservative Party, den Tories, überholt wurde, und das war damals nur ein kurzfristiger Aussetzer. Doch unter Starmer ist die Partei schon vor Weihnachten in mehreren Umfragen hinter die Tories zurückgefallen. Seit Jahresbeginn liegt sie sogar nur noch auf dem dritten Platz, weil die rechtspopulistische Reform UK von Nigel Farage sowohl Labour als auch die Konservativen überholt hat und aktuell die beliebteste Partei im Königreich ist.

Seit Anfang September ist Starmer noch mehr in der Bredouille. Seine Vize-Premierministerin Angela Rayner musste wegen Steuervergehen zurücktreten, was die Labour-Rechte als willkommene Gelegenheit sieht, Rayners arbeitsrechtliche Gesetzesvorhaben im Interesse der Arbeitgeber zu verwässern.

Der entscheidende Faktor, der Starmers Popularitätsverfall erklärt, ist sein eisernes Festhalten an den „Errungenschaften“ des Thatcherismus. Ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen von 2024 zeichnete Starmer in einem Gastbeitrag im erzkonservativen ­Sunday ­Telegraph am 2. Dezember 2023 ein trostloses Bild vom Zustand seines Landes: „Öffentliche Dienste, die nichts mehr für die Öffentlichkeit tun; Familien, die von rasant steigenden Hypothekenkosten und Nahrungsmittelpreisen erdrückt werden; ganze Stadtviertel, die von Kriminalität und antisozialen Verhaltensweisen geplagt werden.“

Ein anderer Labour-Chef hätte diese Probleme vielleicht als Symptome eines versagenden Wirtschaftsmodells begriffen. Nicht so Keir Starmer. Der lobte stattdessen Margaret Thatcher, die für dieses Modell verantwortlich ist, in den Himmel: Die Eiserne Lady habe „das Land aus seinem Dämmerschlaf gerissen, indem sie unseren angeborenen Unternehmergeist freigesetzt hat“.

Das war keineswegs ein beiläufiger Spruch, mit dem sich Starmer bei den Lesern einer konservativen Zeitung anbiedern wollte. Die Bemerkung gibt vielmehr seine genuinen politischen Ansichten wieder. Wie der Historiker David Edgerton erläutert, ist Labour unter Starmer zu einer Partei geworden, der es nicht mehr um die Bewahrung der sozialen Errungenschaften geht, die von der ersten Nachkriegsregierung des Labour-Premiers Clement

Attlee durchgesetzt wurden. Es gehe ihr vielmehr „um die Erhaltung der Welt, die Margaret Thatcher und ihre Nachfolger geschaffen haben“.1

Eines der Hauptziele von Starmer als Parteivorsitzender war es, eine Partei, die sich von jeher auf die finanzielle Unterstützung ihrer Mitglieder und assoziierte Gewerkschaften verließ, zu einer Partei zu machen, die sich auf Spenden der Reichen stützt. Bei einer Fundraisingveranstaltung im Februar 2024 umwarb Starmer auch Manager von Google und Goldman Sachs. „Jedes unserer großen nationalen Vorhaben trägt auch Ihre Handschrift“, versicherte er ihnen.2

In der Zeit vor den Wahlen mischte sich Starmers Team ständig in die Nominierung der Kandidaten in den Wahlkreisen ein, damit der Parteichef im Unterhaus über eine Fraktion verfügen kann, die seine Vorstellungen umsetzt. Als die neue Labour-Fraktion im Juli 2024 zum ersten Mal zusammentrat, wurde das Ergebnis dieses Auswahlprozesses offensichtlich: Fast jeder oder jede Dritte der neu gewählten Abgeordneten hatte zuvor Lobbyarbeit für eine reiche Klientel geleistet, unter anderem für Glücksspielunternehmen und Immobilieninvestoren.

Das ergab eine Analyse der Sunday Times vom 7. Juli 2024: „Die Zahl der Angeordneten aus beruflichen Bereichen wie Unternehmensberatung und Finanz- und Immobilienwirtschaft ist inzwischen höher als die von traditionell mit der Labour-Partei verbundenen Berufsgruppen wie Lehrer, Ärzte oder Angestellte im öffentlichen Dienst. Von den neuen Parlamentsabgeordneten kommen mehr als doppelt so viele aus dem Berufsfeld Lobbying und strategische Kommunikation wie aus der Gewerkschaftsarbeit.“

Die engen Beziehungen zur Welt der Großkonzerne und Wirtschaftslobbys zeigen sich auch in Starmers Regierungsprogramm – ganz wie er es versprochen hatte: Der Premier und seine Schatzkanzlerin Rachel Reeves verfolgen eine Wirtschaftspolitik, die den Wiederaufbau der maroden britischen Infrastruktur bevorzugt Unternehmen wie BlackRock anvertraut, wobei der Privatwirtschaft die Verträge noch mit staatlichen Subventionen und Risiko­garantien versüßt werden.3

Eine der ersten Entscheidungen, die Schatzkanzlerin Reeves traf, war die Abschaffung des Heizkostenzuschusses für Rentner im Winter. Im Frühjahr 2025 folgte dann die Ankündigung der größten öffentlichen Ausgabenkürzungen seit der Regierung von David Cameron.4 Noch bevor Reeves ihren Haushaltsplan vorlegte, hatte ein Report der Joseph Roundtree Foundation prognostiziert, dass der Lebensstandard sämtlicher britischer Haushalte bis 2030 sinken werde, und zwar bei den niedrigen Einkommensgruppen „doppelt so schnell“ wie bei Haushalten mit mittlerem oder hohem Einkommen.5

Am 7. Februar kündigte Liz ­Kendall, Ministerin für Arbeit und Renten, Einschnitte bei den Sozialleistungen für Behinderte an, um „Leute, die nicht von Stütze leben sollten“, wieder in Arbeit zu bringen.6 Nach einer Analyse des Thinktanks Resolution ­Foundation werden diese Pläne zur Verarmung der Betreffenden führen.

Die Ankündigung des „,größten Umbaus des Wohlfahrtssystems seit einer Generation“ löste allerdings eine Rebellion von mehr als hundert Labour-Abgeordneten aus. Daraufhin musste Starmer die wichtigsten Kürzungen zurücknehmen, dennoch stimmten am 7. Juli 2025 immer noch 47 seiner eigenen Abgeordneten gegen das Maßnahmenpaket. Um seine angekratzte Autorität wiederherzustellen, schloss der Labour-Chef sieben Abgeordnete aus der Fraktion aus, die er als „unverbesserliche Rebellen“ bezeichnete.

Was die Außenpolitik betrifft, so wollen Starmer und sein Außenministers David Lammy die enge Beziehung zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten auch unter der Präsidentschaft Trumps aufrechterhalten. Bereits im Mai 2024 hatte Lammy in einer Rede am konservativen Hudson ­Institute in Washington seine frühere Kritik an Trump zurückgenommen und ganz auf dessen Linie die studentischen Proteste gegen die Zerstörung Gazas verurteilt. Wobei sich der designierte Außenminister, ein Kind von Einwanderern aus Britisch-Guayana, ausgerechnet auf Nelson Mandelas Unterscheidung friedlicher Proteste von gewalttätigen Ausschreitungen berief.

Seit Lammy das Foreign Office leitet, laviert er zwischen der öffentlichen Meinung in Großbritannien, die die Fortsetzung des Gazakriegs überwiegend ablehnt, und der bedingungslosen Unterstützung Israels, wie sie in Washington vorherrscht. So hat Lammy einige wenige Lizenzen für den Export von Waffen nach Israel aufgekündigt, die Mehrzahl jedoch unangetastet gelassen. Und als eine Gruppe von NGOs gegen die Lieferung britischer Bauteile für F-35-Kampfflugzeuge klagte, erklärten die Anwälte der Regierung im Mai, es gebe keinerlei Belege dafür, dass die israelischen Streitkräfte „absichtlich auf Frauen und Kinder zielen“.7

Die große Chance für Nigel Farage

Im Mai 2025 wurde auf einer – nicht öffentlich angekündigten – Feierstunde im British Museum der 77. Jahrestag der Gründung Israels begangen. Den Festvortrag hielt die israelische Botschafterin Tzipi Hotovely. Die britische Regierung wurde von der Ministerin für militärisches Beschaffungswesen, Maria Eagle, repräsentiert, die in ihrer Rede hervorhob, das Vereinigte Königreich habe Israel in „einigen der schwersten Stunden seiner Geschichte“ zur Seite gestanden, nicht zuletzt mit seinen „Aufklärungsflügen über dem östlichen Mittelmeer“.8

Eines der Aufklärungsflugzeuge hatte am 1. April 2025 den Augenblick festgehalten, als eine israelische Drohne in Gaza drei britische Entwicklungshelfer tötete. Das Verteidigungsministerium beschied danach den Familien der Opfer, die Aufnahmen könnten aus „Rücksicht auf die nationale Sicherheit“ nicht veröffentlicht werden.9

Nur wenige Wochen nach dem Festakt im Museum verbot Starmers Innenministerin Yvette Cooper die Aktivistengruppe Palestine Action, die Sabotageakte gegen israelisch geführte Waffenfabriken und einen Luftwaffenstützpunkt der Royal Air Force durchgeführt hatte. Damit stellte sie ­Palestine Action rechtlich auf eine Stufe mit Organisationen wie dem IS oder Boko Haram. Vertreter der israelischen Botschafter hatten bereits seit 2022 auf ein solches Verbot gedrängt.10

Am 9. August schließlich nahm die Londoner Polizei mehr als 500 Personen fest, die gegen das Verbot von Palestine Action demonstrierten. Die Hälfte der Festgenommenen war über 60 Jahre alt. Die beispiellose Härte dieses Vorgehens und ebenso die weiteren Verbote von Protesten gegen den Genozid in Gaza vermitteln der Regierung Netanjahu die klare Botschaft: Starmers und Lammys Lippenbekenntnisse einschließlich ihrer jüngsten Erklärung, einen nicht existierenden palästinensischen Staat anerkennen zu wollen, sind lediglich Zugeständnisse an die öffentlichen Meinung, die Tel Aviv getrost ignorieren kann.

Die Labour-Regierung ist schon mit einem vergleichsweise niedrigen Stimmenanteil an die Macht gekommen; Starmer und sein Umfeld haben mit ihrer Politik die Zustimmung noch weiter sinken lassen, und der Rechts-außen-Partei Reform UK die Chance serviert, den politischen Durchbruch zu schaffen. Noch kommt die Partei des Brexit-Vorkämpfers Nigel Farage in keiner Umfrage auf so viel Wählerzuspruch wie Labour bei den Unterhauswahlen 2024, doch seit Anfang Mai liegt Reform UK in sämtlichen Umfragen 5 bis 7 Prozentpunkte vor der unpopulären Labour Party.

Farage, Gründer und ehemaliger Chef der UK Independence ­Party (Ukip), hatte im April 2019 die ­Brexit Party gegründet, die noch bis zum Ende der britischen EU-Mitgliedschaft am 31. Januar 2020 mit 30 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten war. Nachdem sie sich Anfang 2021 in Reform UK umbenannt hatte, hielt sich Farage von der Parteipolitik fern. Doch zu den Unterhauswahlen von 2024 kehrte er triumphal zurück.

Der neue alte Parteiführer will Reform UK in eine Gefolgschaftspartei nach dem Vorbild der niederländischen PVV von Geert Wilders umwandeln. Bis Februar 2025 hatte seine Partei noch die Struktur eines privaten Unternehmens mit Farage in der Rolle des Hauptaktionärs.

Die Wahl von 2024 brachte für ­Farage und Reform UK den entscheidenden Durchbruch. Seine früheren Erfolge, die er mit Ukip und der ­Brexit Party bei den Europawahlen erzielt hatte, verdankte er dem Verhältniswahlsystem. Aber es war ihm nie gelungen, bei den nationalen Wahlen ähnlich gut abzuschneiden, denn unter dem Mehrheitswahlrecht können kleine Parteien nur schwer einen Wahlkreis erobern. Doch im Juli 2024 gewann Reform UK mit 14 Prozent Stimmenanteil erstmals fünf Sitze im Unterhaus.

Farage verfolgt das klare Ziel, die Tories als stärkste Kraft der britischen Rechten abzulösen. Diesem Ziel ist er am 1. Mai 2025 ein gutes Stück näher gekommen, als Reform UK bei den Kommunalwahlen in England sowohl die Konservativen als auch Labour überflügelt hat. Das nächste große Ziel sind die Kommunalwahlen in Schottland und Wales im nächsten Jahr. Der Schatzmeister der Partei hat bereits eine Spendenkampagne begonnen, die vor allem auf reiche Expats zielt, die aus steuerlichen Gründen in Monaco oder in den Golfstaaten leben.

Pläne für eine neue linke Partei

Allerdings ist Farage inzwischen bei Elon Musk, der ihn eigentlich mit 100 Millionen Dollar unterstützen wollte, in Ungnade gefallen, nachdem er einen rechtsradikalen, wegen diverser Straftaten verurteilten Agitator namens Tommy Robison nicht in seine Partei aufgenommen hat. Mit solchen Figuren will Farage nichts zu tun haben, und doch profitiert er von der Stimmung, die Robison und seinesgleichen mit ihren gewalttätigen Aktionen gegen Asylsuchende erzeugen.

Reform UK und Farage propagieren eine grundfalsche Analyse der Probleme des Landes, nach der an allem die Migration schuld ist. Sollte es ihnen gelingen, eine Regierung zu bilden und neue Einwanderungskontrollen einzuführen, würde dies keines der be­stehen­den Probleme lösen, aber manche noch verschärfen.

Aber einer der Gründe für den Erfolg von Reform UK liegt in dem weitverbreiteten Gefühl, dass vieles im Königreich im Argen liegt und radikaler Reformen bedarf. Weder Labour noch die Konservativen können auf dieses Gefühl eingehen, weil man sie grundsätzlich mit dem Status quo assoziiert.

Hat die Linke dem gescheiterten britischen Modell etwas entgegenzusetzen? Immerhin hat Labour 2017 mit dem seit Langem radikalsten Wahlprogramm einen Stimmenanteil von fast 40 Prozent errungen. Aber dann erwies sich Jeremy Corbyn als unfähig, die Partei durch die Brexit-Krise nach dem Referendum vom Juni 2016 zu steuern. Damit war sein politisches Schicksal als Parteichef besiegelt. Seitdem ist Starmer dabei, alle linken Positionen gnadenlos aus dem Parteiprogramm zu streichen. Seine Entscheidung, Corbyn bei den Wahlen von 2024 eine Kandidatur für Labour zu versagen, ist bezeichnend.

Corbyn konnte dann allerdings als unabhängiger linker Abgeordneter seinen Wahlkreis im Norden Londons erneut gewinnen. Inzwischen hat der 76-Jährige angekündigt, eine neue Linkspartei zu gründen, gemeinsam mit der 31-jährigen Zarah Sultana, die ebenfalls für Labour im Unterhaus saß, bis sie im Juli 2024 von Starmer aus der Fraktion ausgeschlossen wurde. Corbyn, Sultana und ihre Verbündeten haben die neue Partei noch nicht offiziell aus der Taufe gehoben. Und noch gibt es zahlreiche ungelöste Fragen, vom Namen über die Organisationsstruktur bis hin zum Verhältnis zur Green Party, die bislang die schärfste Konkurrentin aufseiten der Linken war.

Der Rechtsruck der Labour Party unter Keir Starmer hat zweifellos objektiven Bedarf und den politischen Raum für eine solche neue Kraft geschaffen. Während der Ära Blair sind alle Versuche gescheitert, eine linke Alternative zu dessen „New Labour“ aufzubauen, doch mittlerweile ist das britische Parteiensystem viel volatiler als noch vor zwei Jahrzehnten. Deshalb könnte es heute für Labour nicht mehr ganz so leicht sein, eine solche Herausforderung von links abzuwehren.

1 David Edgerton, „Keir Starmer’s bad history“, Red ­Pepper, London, 29. Februar 2024.

2 George Parker und Jim Pickard, „Keir Starmer and big business, a love story“, Financial Times, London, 15. Februar 2024.

3 James Meadway, „Labour’s slippery manifesto ­offers no end to austerity“, Novara Media, 13. Juni 2024; ­Daniela V. Gabor, „Labour is putting its plans for Britain in the hands of private finance. It could end badly“, The ­Guardian, London, 2. Juli 2024.

4 Kiran Stacey, Pippa Crerar und Jessica Elgot, „­Reeves to reveal biggest UK spending cuts since austerity in spring statement“, The Guardian, 19. März 2025.

5 Toby Helm, „All UK families ‚to be worse off by 2030‘ as poor bear the brunt, new data warns“, The Guar­dian, 24. März 2025.

6 Maya Bowles, „Too many people ‚taking the mickey‘ with benefits, work and pensions secretary says“, ITV News, 7. Februar 2025.

7 Patrick Wintour, „No evidence of genocide in Gaza, UK lawyers say in arms export case“, The Guardian, 13. Mai 2025.

8 Als Basis für diese Flüge diente die britische Militärbasis Akrotiri auf Zypern; mehrere Anfragen, ob Akrotiri auch von der israelischen Luftwaffe genutzt wird, ließ das britische Verteidigungsministerium unbeantwortet. Siehe auch: Imran Mulla, „Kemi Badenoch, Nigel Fa­rage and Jimmy Carr attend secret Israeli party at British Museum“, Middle East Eye, 15. Mai 2025.

9 Ali Mitib, „Family of British aid worker killed in Gaza may sue Israel“, The Times, London, 1. April 2025.

10 Haroon Siddique, „Israeli embassy officials attempted to influence UK court cases, documents suggest“ und „Ban on Palestine Action would have ‚chilling effect‘ on other protest group“ The Guardian, 20. August 2023 und 23. Juni 2025.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Daniel Finn ist Redakteur beim Magazin Jacobin.

© LMd, London; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Winner takes all

Das britische Wahlrecht weist einige Besonderheiten auf. Die wichtigste ist sicherlich das Mehrheitswahlrecht, das „First past the post“-System. Das ganze Königreich einschließlich Nordirland ist in Wahlkreise aufgeteilt, in denen bei Unterhauswahlen jeweils der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen den Parlamentssitz gewinnt. Das Prinzip kennen wir auch in Deutschland, allerdings beschränkt auf die Verteilung von Direktmandaten durch die Erststimmen. In Großbritannien gibt es jedoch keine Zweitstimme und damit keinen Ausgleich für die Stimmen der unterlegenen Parteien. Damit privilegiert das System die großen Parteien.

Im 19. Jahrhundert wechselten sich noch Liberale (Whigs) und Konservative (Tories) an der Regierung ab; erst mit Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1918 und des vollen Frauenwahlrechts 1928 wurde die Labour Party zur wichtigen Kraft. Schottische, walisische und nordirische Regionalparteien haben hingegen kaum Gewicht, außer in seltenen Fällen als Mehrheitsbeschaffer.

Das Mehrheitswahlrecht hat den Vorzug, dass es klare Parlamentsmehrheiten schafft. Regierungskoalitionen sind die Ausnahme. Je mehr sich die Opposition in drei oder mehr Parteien aufspaltet – wie etwa 1983 durch die Abspaltung der SDP von der ­Labour Party oder im letzten Jahrzehnt durch das Erstarken der rechtsnationalen Ukip, der heutigen Reform UK von Nigel Farage –, kann es zu einem Erdrutschsieg kommen. Wie eben im letzten Jahr, als Labour mit einem Stimmenanteil von lediglich 33,7 Prozent 173 Sitze mehr erringen konnte als die anderen Parteien zusammen.

Eine zweite Besonderheit des britischen Wahlsystems besteht darin, dass der Premierminister den Zeitpunkt für Neuwahlen nach Gutdünken bestimmen kann. Das Unterhaus wird für jeweils maximal fünf Jahre gewählt, aber es steht dem Regierungschef frei, innerhalb dieses Zeitraums die Auflösung des Parlaments und die Ausrufung von Neuwahlen zu beschließen.

Ziel des britischen Wahlsystems ist vor allem, solide Regierungsmehrheiten herzustellen und der jeweiligen Regierung Handlungs- und Gestaltungsspielraum zu verschaffen. Dies geschieht um den Preis einer genauen Repräsentation der Wählerstimmen und der Parteienvielfalt. Das System stärkt außerdem die Bindung der Wählerinnen und Wähler an ihre lokalen Abgeordneten. ⇥Robin Cackett

Le Monde diplomatique vom 11.09.2025, von Daniel Finn