09.03.2012

Vier Lehren aus Fukushima

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Vier Lehren aus Fukushima

Horizontale Solidarität und vertikales Misstrauen von Ikezawa Natsuki

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Am 11. März 2011 um 14.46 Uhr wurde Japan von einem Erdbeben erschüttert, das vor allem in der Region Tohoku im Nordwesten des Landes verheerende Zerstörungen anrichtete.

Denen, die dergleichen nie erlebt haben, kann man nur schwer vermitteln, wie beängstigend das ist: schwankende Häuser, in denen die Möbel umfallen, Geschäfte, wo die Waren sich auf den Boden ergießen, wogende Straßen, zusammenstürzende Gebäude, sich windende Bahngleise, berstende Brücken.

Die Erde ist ein fester Sockel, darauf verlassen sich alle lebenden Wesen. Der Boden unter den Füßen, Inbegriff der Stabilität. Doch es gibt Orte auf der Welt, wo sich dieser Boden zuweilen regt. Japan ist einer davon.

Wenn wir im Alltag plötzlich eine Erschütterung spüren, halten wir in der Arbeit inne, unterbrechen für einen Moment das Gespräch, konzentrieren uns auf unsere Empfindungen und versuchen die Stärke des Erdbebens abzuschätzen. Ein kurzes Schweigen geht durch den Raum. Meistens geschieht nichts weiter, und die Erschütterung hört schnell wieder auf. Aber manchmal wird das Beben stärker. Allmählich spürt man Gefahr. Im Haus kann man von umfallenden Möbeln erschlagen werden oder in einem Feuer umkommen, weil man keine Zeit mehr hatte, das Gas abzustellen; im Auto kann man von einer Brücke geschleudert oder unter einem Erdrutsch begraben werden.

Am 11. März löste das Erdbeben eine riesige Flutwelle aus. Versucht euch vorzustellen, ihr seid an einer Küste, und das Meer ist mehr als zehn Meter über euch. Oder ihr steht vor einer dicken Glasscheibe, wie vor einem riesigen Aquarium und seht die mächtige Wasserwand. Plötzlich verschwindet das Glas. Das Wasser stürzt sich auf euch. Diese Masse ist beinahe unendlich groß, bewegt sich immer weiter vorwärts, zerstört auf seinem Weg alle menschlichen Bauwerke, steigt die Hügel hinauf, strömt in die Flussbetten und dringt viele Kilometer tief ins Landesinnere.

Wir leben mit diesen apokalyptischen Phänomenen, die sich alle paar Jahre wiederholen. Auch mit anderen, Taifunen oder Vulkanausbrüchen. Aber wir haben nicht das geringste Verlangen, dieses Land gegen ein anderes zu tauschen. Das Klima ist meist mild, es gibt reichlich Sonne und Regen. Geopolitisch liegt der japanische Archipel in optimaler Entfernung zum Festland. Die reiche Kultur des benachbarten Chinas ist bis zu uns gelangt, für große Armeen erwies sich die Überfahrt als schwieriger. So hat das Land bis 1945 keine Herrschaft anderer Völker auf seinem Territorium erlebt. Es konnte auch die Verbreitung von Krankheiten vermeiden, wie etwa der Pest, die einst Europa heimsuchte.

Eine Naturkatastrophe gleicht einem Krieg. Was unmittelbar darauf folgt, entspricht dem, was man nach einer Schlacht vorfindet: Reihen von Leichen, Berge von Müll, Mangel an Lebensmitteln, Überleben in Kellern, tiefe Hoffnungslosigkeit. Unwillkürlich denke ich an das Gedicht von Wislawa Szymborska1 „Koniec i poczatek“ („Ende und Anfang“):

Nach jedem Krieg

muss jemand aufräumen.

Leidliche Ordnung

kommt doch nicht von allein.

Jemand muss die Trümmer

von der Straße kehren,

damit die Leichenwagen

passieren können.

So war das in Tohoku. In unserer Ungeschicklichkeit haben wir die Opfer leiden, frieren und hungern lassen, weil die Hilfe so spät kam. Die Regierung machte viel Wirbel, aber mit wenig Wirkung. Die zerstörten Verwaltungseinrichtungen waren handlungsunfähig, Verkehrswege und Kommunikationsnetze unterbrochen.

Die Japaner mussten erkennen, wie schlecht sie tatsächlich vorbereitet waren. Es war aber nicht so, dass sie sich nicht gekümmert hätten. Zwar mussten die Trümmer von Fachleuten mit schwerem Gerät geräumt werden, aber Freiwillige sind von Haus zu Haus gegangen, um den von der Flutwelle zurückgelassenen Schlamm zu beseitigen. Sie sind in die Notunterkünfte gekommen, um zu sehen, was fehlt. Sie haben zugehört und die Opfer merken lassen, dass sie nicht allein sind. Sie haben mit den Kindern gespielt, Unterricht organisiert, wo es keine Schulen mehr gab, und die rings um zerstörte Häuser verstreuten Familienfotos eingesammelt, gereinigt und ausgestellt, um deren Besitzer zu finden.

Tohoku gilt als arme Region, dort ist es kälter als in den anderen Gegenden Japans. Früher, als sich die Wirtschaft noch um den Reisanbau drehte, waren Regionen wie Tohoku, wo die Ernten von Jahr zu Jahr unterschiedlich ausfallen konnten, stark benachteiligt.2 Leute aus Tohoku wurden wegen ihrer Armut diskriminiert, sie galten als zurückgeblieben, man spottete über ihren Dialekt. Ein Freund unter den Opfern hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ihnen nun zum ersten Mal das ganze Land zu Hilfe geeilt ist.

Die bei der Zerstörung des Atomkraftwerks von Fukushima Daiichi ausgetretene Radioaktivität hat viele Städte und Dörfer für lange Zeit in unbewohnbare Gebiete verwandelt, und viele Menschen werden noch jahrzehntelang, ja über mehrere Generationen hinweg mit der Angst vor den Folgen für ihre Gesundheit leben.

Die radioaktive Emission in die Luft und ins Meer sind ein krimineller Akt mit internationalen Auswirkungen. Der Betreiber des Kernkraftwerks, das Unternehmen Tokyo Denryoku (Tepco), und die Regierung, die die Baugenehmigung erteilt hat, sowie die Chefs der großen Industriebetriebe, die die in Fukushima produzierte Energie nutzen, behaupten, der Störfall sei durch eine unvorhersehbare Naturkatastrophe eingetreten. Aber wer hätte denn nicht gewusst, dass Japan ein Land ist, in dem Erdbeben, Flutwellen und Vulkanausbrüche häufig vorkommen?

Da es hier nur wenige Flüsse gibt, die gleichmäßig Wasser führen, konnten Atomkraftwerke, die große Wassermengen für die Kühlung brauchen, nur nah am Meer gebaut werden. Das Risiko von Flutwellen war von Anfang an bekannt. Die einzige Entschuldigung, die Tepco vorbringen konnte, war das Ausmaß dieses Tsunamis, das alle Vorhersagen und Berechnungen übertroffen habe. Es gab jedoch bereits vor acht Jahrhunderten in dieser Region einen Tsunami von gleicher Stärke – und für eine solchen Katastrophe ist das kein zu vernachlässigender Zeitraum. Zudem gibt es verschiedene Hypothesen, dass das Atomkraftwerk bereits vor der Welle durch das Erdbeben beschädigt war. Die Anlage war offenbar ein unglaublicher Pfusch.

Am erbärmlichsten ist jedoch das Verhalten der inkompetenten Verantwortlichen, die nur darauf bedacht sind, sich selbst zu schützen. Als vor 46 Jahren das erste Atomkraftwerk gebaut wurde, erklärte man, diese Energiequelle sei absolut sicher. Nun erscheinen diese Behauptungen als Teil eines großen Lügengespinsts: Wissenschaftler, die Einwände vorbrachten, wurden entlassen; Simulationen von Störfällen, die den Mythos hätten infrage stellen können, wurden nicht durchgeführt.

Armenhaus Tohoku

Die Gründe? Die Atomindustrie warf riesige Profite ab, die seit jeher unter den Betreibern, der Regierungspartei und der Verwaltung aufgeteilt wurden. Dafür genoss sie Sonderrechte, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden. Stromtarife wurden auf der Grundlage falscher Berechnungen festgelegt, die weder die Atommüllentsorgung noch die Stilllegung von Reaktoren berücksichtigten. Alle, die bisher davon profitierten, kungeln jetzt weiter, um die vorübergehend abgeschalteten Reaktoren wieder in Betrieb nehmen zu können, ohne jeden Skrupel gegenüber den Opfern.

Sie haben den Familien, die ihre Häuser verloren, den Bauern, die ihr Vieh verhungern lassen mussten, den Landwirten, die das Land, das sie seit vielen Generationen bebauten, nicht mehr bewirtschaften dürfen, und vielen anderen Entschädigungen angeboten, deren Höhe so lächerlich ist wie ihre Schamlosigkeit grenzenlos.

Das Erdbeben und die Flutwelle haben uns vier Tatsachen erkennen lassen:

Die erste ist, dass die Natur nicht für die Menschen da ist. Sie ist auch nicht gegen sie. Sie ist einfach gleichgültig. Man kann sich mit solchen Ereignissen, die das Schicksal bereithält, einfach nur abfinden, so tragisch sie auch sein mögen.

Die zweite ist, dass die Menschen die Fähigkeit besitzen, immer wieder von vorn anzufangen. Auch jene, die nach dem Verlust ihrer Liebsten oder ihrer Habe vor Verzweiflung schreien. Es kommt der Tag, wo sie sehen, wie sich ihre Hände wieder regen, um die Trümmer beiseitezuräumen. Sie können auf ihre eigene innere Kraft zählen, aber auch auf die „horizontale“ Solidarität von ihresgleichen.

Die dritte ist, dass in der gegenwärtigen Welt von jedem „vertikalen“ Vertrauen abzuraten ist. Der Staat, die Industriellen, die Experten: Sie könnten lügen – entweder vorsätzlich oder ohne es selbst zu merken. Man sollte auch den neuen Technologien misstrauen, von denen unsere Gesellschaft so abhängig ist. Das Vertrauen des modernen Individuums in sich selbst und in eine Technologie, die die Natur unterwirft, waren nur Illusion. Den Kenntnissen der Wissenschaft ist vielleicht zu trauen, aber deren praktische Anwendungen erweisen sich oft als fehlerhaft.

Die vierte Tatsache ist, dass eine Katastrophe auch die Gelegenheit zum Wandel sein kann. Wenn sich die Gesellschaft nach einer tiefen Erschütterung und Verletzung wieder erhebt, geht sie in eine neue Richtung. In zwanzig Jahren wird man vielleicht die jüngsten Ereignisse als einen Wendepunkt für Japan bezeichnen. Daran möchte ich gern glauben.

Sapporo, Dezember 2011

Fußnoten: 1 Polnische Dichterin (1923–2012), Nobelpreis für Literatur 1996. Aus dem Band „Auf Wiedersehn. Bis morgen“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1995. 2 Durch die Verbesserung des Saatguts und der Kulturen ist die Region inzwischen Produzent der besten japanischen Reissorte geworden.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Ikezawa Natsuki ist Schriftsteller. Auf Deutsch ist von ihm erschienen: „Aufstieg und Fall des Macias Guili“, Berlin (be.bra) 2002.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2012, von Ikezawa Natsuki