09.03.2012

Starker Nachbar Indien

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Starker Nachbar Indien

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Nepal ist ein zwischen Indien und China eingepferchter Binnenstaat. Seine beiden riesigen Nachbarn haben jeder mehr als vierzigmal so viele Einwohner. Obwohl auch die Barriere des Himalaja im Norden nie unüberwindbar war, ist Chinas Einfluss über Tibet hinweg doch geringer und weniger sichtbar als der, den Indien jenseits der Ebenen im Süden ausübt.

Seit dem 30. Juni 1950, als Nepal und Indien den „Vertrag über Frieden und Freundschaft“ unterzeichneten, ist der indische Einfluss in Nepal besiegelt. Er spielt für Religion, Kultur und Alltag eine große Rolle: 80 Prozent der Nepalesen sind Hindus, das Kastensystem ist nach wie vor sehr ausgeprägt, und die Amtssprache ist das ursprünglich von der Königsfamilie vorgeschriebene, mit dem Hindi verwandte Nepalesisch. Neuerdings wird er auch an den engeren Beziehungen zwischen der indischen Kongresspartei und ihrer nepalesischen Namensschwester erkennbar sowie daran, dass die Sprösslinge der Eliten dieselben Schulen besuchen.

Im Friedensvertrag von 1950 erkannte Indien zwar die Unabhängigkeit Nepals an, verlangte jedoch von der Regierung, über jede Entwicklung und jede Auseinandersetzung, die die gute Nachbarschaft gefährden könnte, informiert zu werden. Für die Bevölkerung beider Länder sieht der Vertrag die Abschaffung von Visa, ja von Grenzen überhaupt sowie eine Niederlassungs- und Eigentumsfreiheit vor. Indien behält die Außen- und Verteidigungspolitik seines kleinen Nachbarn unter Beobachtung und schielt auch auf dessen Ressourcen, vor allem Wasser. Als Nepal 1989 eine allgemeine Arbeitserlaubnis für Inder einführen und chinesische Waffen kaufen wollte, wurde es mit einer harten Blockadepolitik zur Ordnung gerufen.

Peking hingegen, das äußerst bedacht ist auf die Anerkennung seiner „Ein-China-Politik“ und den Tibetern die Flucht ins südliche Nachbarland unmöglich machen will, zeigt sich gegenüber den Herrschern in Kathmandu meist tolerant. Außerdem hat der nördliche Nachbar viel Geld in den Bau von Straßen durch das Gebirge investiert. Obwohl sich die nepalesischen Aufständischen auf Mao beriefen, waren die Chinesen sehr beunruhigt über ihr Auftauchen und unterstützten König Gyanendra ab 2001 auch militärisch.

Vermutlich haben die chinesischen Waffenlieferungen und die Einmischung der USA die Regierung in Neu-Delhi veranlasst, den Monarchen fallenzulassen und trotz aller Vorbehalte gegen die Rebellen und deren ideologische Nähe zur naxalitischen Guerilla in Indien1 ab 2005 ganz auf den Friedensprozess zu setzen.

Indiens Einfluss in Nepal beruhte auf zwei Grundpfeilern: der konstitutionellen Monarchie und dem Mehrparteiensystem. Angesichts der Stärke des nepalesischen Aufstands und des wackelnden Throns von König Gyanendra gab Indien ab 2005 den ersten Pfeiler auf, um seinen Einfluss im politischen Spiel nicht zu verlieren.

Der unbequeme Nachbar im Süden dient in Nepal vielfach als Abschreckung. Denn die Absichten, die man dem „großen Bruder“ unterstellt, nähren den nepalesischen Nationalismus. Während des Aufstands der Maoisten und ihrer Zeit in der Opposition bedienten sie sich einer großspurigen, antiindischen Rhetorik. Dennoch reiste der Maoist Baburam Bhattarai am 23. Oktober 2011, keine zwei Monate nach seiner Ernennung zum Premierminister, nach Neu-Delhi, um einen wichtigen Vertrag über bilaterale Investitionen zu unterzeichnen. Historiker haben die entscheidende Rolle belegt, die Indien in den wichtigen Momenten der nepalesischen Politik gespielt hat (1951, 1990, 2005; siehe Chronologie auf Seite 21). Der jüngst unterzeichnete Vertrag über den Friedensprozess wird von diesem ungeschriebenen Gesetz nicht abweichen. P. D.

Fußnote: 1 Siehe Naïké Desquesnes und Nicolas Jaoul, „Operation ‚Green Hunt?‘ “, Le Monde diplomatique, Oktober 2011.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2012, von P. D.