Abgehängt und selber schuld
Europa braucht eine neue industrielle Revolution von Laurent Carroué
Trotz der These von der „postindustriellen Freizeitgesellschaft“, die seit den 1990er Jahren in Mode gekommen ist, kann vom Ende der Industrie keine Rede sein. Nach wie vor ist die industrielle Produktion von zentraler Bedeutung für die Staaten und die Entwicklung ihrer Volkswirtschaften sowie für die Machtverhältnisse, die sich im Prozess der Globalisierung ausprägen. Dabei hat sich in den zwei Jahrzehnten von 1990 bis 2010 die Rangfolge im Bereich der Fertigungsindustrie1 stark verschoben. Der Anteil der EU-Länder (plus Schweiz, Island und Norwegen) an der weltweiten gewerblichen Produktion ist von 36 auf 24,5 Prozent gesunken. 2011 wurde China zur führenden Industriemacht erklärt,2 womit ein Jahrhundert der US-amerikanischen Hegemonie zu Ende ging. Bereits 2010 überholte Brasilien Frankreich und wurde zur sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Südkorea hat Großbritannien hinter sich gelassen, das nur noch knapp vor Indien liegt.3
Diese wirtschaftsgeografischen Verschiebungen sind das Ergebnis einer neuen internationalen Arbeitsteilung, die sich im Rahmen einer multipolaren Weltordnung herausgebildet hat.4 Wir erleben eine beispiellose Verlagerung der Märkte mit entsprechenden Sogeffekten für Investitionen, Arbeitsplätze und Marktaktivitäten (siehe Karte und Grafik).
Die mit dem Absatz in Schwellenländern erzielte Rendite der 220 größten europäischen Unternehmen stieg im Zeitraum von 1990 bis 2010 von 15 auf 24 Prozent. Das hat die Standortpolitik der transnationalen Konzerne grundlegend verändert. Zwar wollen sie mit Produktionsverlagerungen nach wie vor die Lohnkostendifferenzen nutzen, aber sie haben auch gleichermaßen die zahlungskräftige Nachfrage neuer städtischer Mittelschichten im Auge, deren Einkommen in den entwickelten Industrieländern stagnieren. Das hat einen Run auf die Märkte des Südens ausgelöst.
Doch auch die großen Schwellenländer selbst beschränken sich nicht mehr auf den Niedriglohnsektor. Sie wollen sich vielmehr auch in technisch anspruchsvolleren Branchen etablieren: im IT-Sektor, in der Luft- und Raumfahrtindustrie, in der Nuklearindustrie und beim Bau von Hochgeschwindigkeitszügen und Supertankern. Deshalb verhandeln sie zielstrebig über Technologietransfers, investieren massiv in die Ausbildung ihrer Arbeitskräfte und legen sich transnationale Unternehmen zu, die auf den Weltmärkten immer dynamischer mit den westlichen Konzernen konkurrieren.
Ein Beispiel sind die vor Kurzem zwischen Indien und dem französischen Flugzeughersteller Dassault aufgenommenen Verhandlungen über die Lieferung von 126 Rafale-Kampfflugzeugen. Dabei geht es um die Zahl der Flugzeuge, die der indische Staatskonzern Hindustan Aeronautics montiert (die Rede ist von 86 Prozent), um Modalitäten des Technologietransfers und um wirtschaftliche und finanzielle Gegengeschäfte.
Wie das Beispiel China zeigt, beruht die neue Landkarte der Innovation auf den drei Faktoren menschliche Arbeitskraft, Finanzmacht und Technologie. Zum ersten Faktor: China kommt mit 1,15 Millionen Wissenschaftlern auf 82 Prozent des Potenzials der USA und 79 Prozent der EU. Die National Science Foundation in Washington schätzt, dass 2025 weltweit 30 Prozent aller Wissenschaftler Chinesen sein werden. Zum Faktor Finanzen: Der von Peking ausgewiesene Forschungsetat war 2009 der zweitgrößte der Welt, noch weit hinter den USA, aber immerhin vor Japan.5 Zum Faktor Technologie: 2011 wurde China zum weltweit führenden Patentanmelder – Resultat einer nationalen Strategie, die bestrebt ist, das „Made in China“-Zeitalter durch die Ära des „Designed in China“ abzulösen.
Mit dieser Strategie lassen sich ganz neue Felder direkter Konkurrenz erschließen. Am 23. Dezember 2011 erwarb die chinesische Unternehmensgruppe Three Gorges (benannt nach dem großen Wasserkraftwerk am Jangtsekiang) 21,3 Prozent des Stromkonzerns Energias de Portugal (EDP), der im Namen der Haushaltssanierung privatisiert wurde. Die deutsche Eon und der brasilianische Stromriese Eletrobrás hatten das Nachsehen, weil die Chinesen 2,7 Milliarden Euro boten, 50 Prozent mehr als der aktuelle Börsenwert.
Schon jetzt fertigt China die Hälfte der Weltproduktion an Solarzellenpanels und heizt damit auch westlichen Herstellern ein, wie die Pleite der deutschen Unternehmen Solon und Solar Millennium gezeigt hat. Zudem verfügt das Land über den weltweit größten Windpark, der bis 2020 um das fast Fünffache anwachsen soll.
Frappierend ist in diesem Zusammenhang die Perspektivlosigkeit der EU-Politik und die Blindheit der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas. In den USA dagegen hat der Aufstieg Chinas zur führenden Industriemacht einen regelrechten Schock ausgelöst.6 Es ist höchste Zeit, dass sich Europa ernsthaft über seine industrielle, wissenschaftliche und technologische Zukunft Gedanken macht. Schließlich waren Ende 2011 in der EU 23,8 Millionen Arbeitsuchende registriert.
Die Krise zeigt sich auch darin, dass die europäische Industrieproduktion zwischen 2007 und 2009 um 20 Prozent einbrach (West- und Mitteleuropa: 15 Prozent, Estland: 33 Prozent, Lettland: 25 Prozent). In Deutschland (21,4 Prozent), Italien, Finnland oder Schweden schrumpfte die Produktion um mehr als 20 Prozent. Vom Beginn der Krise im Herbst 2008 bis Ende 2010 gingen in der EU 4 Millionen industrielle Arbeitsplätze verloren, was 11 Prozent entspricht. Diese Einbußen waren im dritten Quartal 2011 noch nicht wieder kompensiert (Ausnahme Deutschland). Die Rezession, die sich aufgrund der gigantischen Sparprogramme für den Zeitraum von 2012 bis 2014 abzeichnet, kann diesen Niedergang nur verschlimmern.
Frankreich hat sich unter den vier Großen der Eurozone (zu denen noch Deutschland, Spanien und Italien gehören) am stärksten deindustrialisiert. Von 1980 bis 2011 sank der Anteil der Industriearbeitsplätze an der Gesamtbeschäftigung von 24 auf 13Prozent. Die Gründe für diesen rapiden Abbau sind umstritten. Konsens ist, dass der Strukturwandel zu einem Viertel auf veränderte Produktionsabläufe und die verstärkte Übernahme industrieller Tätigkeiten durch Dienstleister zurückgeht, etwa in Form von Leiharbeit. Damit werden bestimmte Konstruktions-, Instandhaltungs- und auch Sekretariatstätigkeiten formell zu Dienstleistungen, während sie früher der industriellen Produktion zugerechnet wurden.7 Zu einem weiteren knappen Drittel ist der Personalabbau durch Produktivitätssteigerungen bedingt.8
Dabei darf man nicht über die beunruhigende Tatsache hinwegsehen, dass der Trend zur Deindustrialisierung in Frankreich schon lange vor der aktuellen Krise begonnen hat und durch diese nur verstärkt wurde. Das belegen viele Indikatoren wie der Rückgang der Investitionstätigkeit (um 10 Prozent von 2008 bis 2010) oder das Außenhandelsdefizit, das seit 2004 bedrohlich zunimmt.9 Die Handelsbilanz für Industriegüter ist bei fast allen Produkten negativ, Ausnahme ist die Nahrungsmittelbranche. Die industriellen Ausfuhren belaufen sich auf nur 87 Prozent der Einfuhren, bei Investitionsgütern sind es ebenfalls 87, bei Konsumgütern 73 Prozent. In den fünf letzten Jahren hat sich das Handelsdefizit in diesem Bereich auf 113,6 Milliarden Euro summiert (vor allem wegen des Defizits gegenüber Deutschland und China).
In den Krisenjahren 2008 bis 2010 ist die französische Produktion in allen Bereichen eingebrochen (mit Ausnahme der Abfall-, Umweltsanierungs- und Wasserwirtschaft). Und zwar um 28 Prozent bei Kokereien und Ölraffinerien, um 26 Prozent in der Textilindustrie, um 15 bis 20 Prozent in der Schwerindustrie und im Maschinenbau, in der IT-Branche und in der optischen und Elektroindustrie, wo immer mehr Fertigungsstätten geschlossen werden. Von 1989 bis 2011 sind mehr als 2,5 Millionen industrielle Arbeitsplätze verloren gegangen. Und das nicht nur in der Schwerindustrie und Branchen mit vielen ungelernten Arbeitskräften (was wenig überraschend ist), sondern gleichermaßen in innovativen Zukunftsindustrien wie Anlagenbau und Robotertechnik.
Der Verlust von insgesamt 671 000 Arbeitsplätzen traf zwar vor allem ungelernte Arbeitskräfte (55 Prozent), aber auch 182 000 Facharbeiterstellen sowie 74 000 Ingenieure und Führungskräfte. Im Oktober 2011 kündigte Peugeot den Abbau von 6 000 Stellen an, davon 1 900 in der Produktion und 3 100 in der Verwaltung und insbesondere im Bereich Forschung und Entwicklung; bei Outsourcing- und Leiharbeitsfirmen verlieren weitere 3 000 Leute ihre Arbeit. Es trifft also nicht nur einige alte, von den Gaullisten zwischen 1960 und 1980 aufgebaute und schon länger angeschlagene Staatsbetriebe (in Bereichen wie Raumfahrt, Rüstung, Flugzeugbau) oder die Nahrungsmittelbranche. Vielmehr ist die industrielle und technologische Basis des Landes in Auflösung begriffen, ohne dass man sich in den letzten dreißig, vierzig Jahren um eine alternative Strategie bemüht hätte.
Dass die Deindustrialisierung in Frankreich wie in den USA in den anstehenden Präsidentschaftswahlen eine wichtige Rolle spielt, ist folglich nicht verwunderlich. Alle französischen Kandidaten, von links bis rechts, äußern sich zu diesem Thema. Der für Fragen der Industrie zuständige Minister Eric Besson propagiert eine „Reindustrialisierungsbeihilfe“ in Form von Dreijahreskrediten für mittelständische Betriebe. Des Weiteren soll ein Französischer Investitionsfonds (FSF) Anteile an mittelständischen Unternehmen erwerben, die als „strategisch wichtig“ eingestuft werden. Doch solche Maßnahmen und Absichtserklärungen sind nicht auf der Höhe der Probleme.
Die EU-Kommission und die nationalen Regierungen der letzten dreißig Jahre haben den Aufbau und den späteren Zusammenbruch der Spekulationsblasen im Finanzsektor ebenso zu verantworten wie die allgemeine Deindustrialisierung der EU-Länder – die beide nur die komplementären Seiten derselben Systemkrise sind. Die Lissabon-Strategie der EU aus dem Jahr 2000 hat sich als Illusion erwiesen. Sie formulierte das – nie erreichte – Ziel, dass alle Mitgliedstaaten 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Forschung, Entwicklung und Innovation aufwenden sollen. Man setzte damit auf das ideologische Konstrukt einer „Wissensökonomie“, die an die Stelle der materiellen Produktion treten sollte.
Dieses Denken hatte vor allem zur Folge, dass man ganze Industriezweige im Namen einer internationalen Arbeitsteilung aufgab, in der die Zukunftsindustrien und Spitzentechnologien der Europäischen Union vorbehalten waren. Es bildete die Begleitmusik zu der Umlenkung der internationalen Kapitalbewegungen, der Ausrichtung auf kurzfristige Gewinne, dem verstärkten Ungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie der systematischen Ablehnung einer koordinierten Industriepolitik – auf europäischer oder nationalstaatlicher Ebene – im Namen einer zum Dogma erhobenen freien marktwirtschaftlichen Konkurrenz.
Diese ideologische, politische und wirtschaftliche Abrüstung kommt uns teuer zu stehen. Zwischen 2000 und 2010 stieg das BIP pro Kopf in der EU um durchschnittlich um 1,3 Prozent, in Frankreich um 1,1 Prozent, in Deutschland um 0,9 Prozent. Europa gerät dadurch unter doppelten Druck: seitens der Entwicklungsländer mit ihren Billiglöhnen und seitens der großen Schwellenländer, die in fünfzehn Jahren als Konkurrenten in Bereichen auftreten werden, in denen europäische Produzenten zuvor unter sich waren. In der Eurozone stieg der Anteil der Produkte aus Niedriglohnländern an den Gesamtimporten zwischen 1998 und 2008 von 17 auf 44 Prozent.10
Im Fall Frankreich ist der Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit allerdings nicht nur auf die Lohnkosten zurückzuführen. Jede ernsthafte Analyse der Konkurrenzfähigkeit muss weitere Faktoren berücksichtigen: die Auswirkungen einer Politik des starken Euro, die unzureichende Qualität des Ausbildungswesens, die Organisation der Arbeitsbeziehungen, den geringen Stellenwert von Forschung und Innovation, die Besonderheiten des Wirtschaftssystems und die hohe Kapitalabschöpfung (zum Beispiel mittels der Ausschüttung von Dividenden).
Vergessen wir nicht, dass die Lohnkosten pro Arbeitsstunde im Jahr 2008 in der französischen Fertigungsindustrie mit 33,16 Euro niedriger lagen als in Deutschland (33,37 Euro) und dass auch die Pro-Kopf-Produktivität in Frankreich ein europäischer Spitzenwert ist: Sie liegt 21 Prozent über dem EU-Durchschnitt und 15 Prozent höher als in Deutschland. Deshalb führt auch die Strategie der ständigen Lohnkostensenkung nicht weiter.
Da in der französischen Debatte immer wieder unreflektiert auf das Beispiel Deutschland verwiesen wird, sei hier an einige Fakten erinnert. Die deutsche Wirtschaftskraft basiert vor allem auf einem starken industriellen Sektor, der 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts produziert und 19 Prozent der Arbeitsplätze stellt. Dieser verdankt seine Erfolge wiederum einer lebhaften Innovationstätigkeit, der Orientierung auf hochwertige Produkte und der Ausrichtung des Motoren- und Fahrzeugbaus auf vorwiegend zivile (und nicht militärische) Zwecke, insbesondere aber auch einer wirtschaftlichen Infrastruktur, in der die Großkonzerne mit vielen innovativen, exportorientierten mittelständischen Betrieben verflochten sind.
Nimmt man die Wirtschaftsdaten der letzten zwanzig Jahre, so kommt Frankreich im Durchschnitt auf 73,5 Prozent des nominellen deutschen BIP. Bei der industriellen Produktion hingegen erreicht es nur 42 Prozent, bei den Exporten von Gütern und Dienstleistungen nur 52 Prozent der deutschen Vergleichswerte.
Diese strategischen Weichenstellungen haben unmittelbare Konsequenzen: Trotz der Krise ist die offizielle Arbeitslosenquote in Deutschland mit 6,8 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit zwanzig Jahren. Das Wirtschaftswachstum für 2011 liegt bei 3 Prozent, es entstanden 535 000 neue Vollzeitarbeitsplätze, das Haushaltsdefizit konnte auf 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts abgebaut werden. Die Kapitalgüterinvestitionen nahmen um 8,3 Prozent zu, die Exporte um 8,2 Prozent, vor allem in die Schwellenländer, von denen China in drei Jahren Deutschlands wichtiger Handelspartner sein dürfte.
Deutsche Stärken und französische Schwächen
Natürlich haben auch die deutschen Konzerne einen Teil ihres Produktionsapparats (Automobil-, Maschinenbau und so weiter) ins Ausland verlagert, vor allem in mittel- und osteuropäische Länder. Von 1998 bis 2012 stieg der Anteil des Imports von Zwischenprodukten an der industriellen Wertschöpfung von 33 auf 59 Prozent (in Frankreich von 50 auf 80 Prozent).11 Dabei haben die deutschen Unternehmen jedoch die entscheidenden Bereiche und Funktionen unter ihrer Kontrolle behalten. Vor allem aber haben sie dabei auch ihren Produktionsapparat in Deutschland unaufhörlich modernisiert, um sich auf die neuen globalen Anforderungen einzustellen.
Die Schwächen des französischen Kapitalismus sind seit vierzig Jahren bekannt: die Unterindustrialisierung (12 Prozent des BIP und 11 Prozent der Arbeitsplätze), unzureichende privatwirtschaftliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die Orientierung auf mittelmäßige Produktqualität, die Vernichtung und Ausplünderung des Mittelstands durch die Großunternehmen (in Deutschland ist die Zahl exportorientierter mittelständischer Betriebe dreimal so hoch). Ein altes Problem sind auch unzureichende Aus- und Weiterbildung und mangelnde Qualifikationen, aber auch nicht genutzte vorhandene Qualifikationen und die mangelnde Anerkennung fachlicher, technischer oder naturwissenschaftlicher Kenntnisse.
Einer der wichtigsten Erklärungsfaktoren ist die unzureichende Investitionsquote im privaten Sektor. Diese entsprach 2008 lediglich 25 Prozent der ausgeschütteten Nettodividende – 1995 waren es noch 35 Prozent gewesen.12 Und 2010 machten die im französischen Privatsektor investierten Summen lediglich 57 Prozent des Investitionsvolumens deutscher Unternehmen aus. Was die Ausbildung betrifft, so haben von den 25- bis 45-jährigen Beschäftigten noch 46 Prozent allenfalls einen Berufsschulabschluss oder einen Facharbeiterbrief. Vor allem aber leidet die Produktivität darunter, dass die strategischen Entscheidungen über die industrielle Entwicklung nur noch unter Profitgesichtspunkten getroffen werden – und damit im Grunde von den Finanzinvestoren.
Angesichts der genannten Zwänge und Notwendigkeiten müssen Frankreich und die EU ein völlig neues Entwicklungsmodell konzipieren. Das Finanz- und Bankensystem muss wieder die Aufgabe wahrnehmen, die sie nie hätte aufgeben dürfen: die Finanzierung eines effizienten, nachhaltigen und solidarischen Wachstums. Wir sollten innerhalb einer Generation, also in den nächsten dreißig Jahren, eine wirkliche industrielle Revolution auf den Weg bringen. Der technische und technologische Umbruch muss dabei so radikal ausfallen wie der industrielle Aufbruch am Ende des 19. Jahrhunderts. Schließlich geht es um entscheidende Fortschritte in den Zukunftsbranchen, die über die globale Stellung Europas im 21. Jahrhundert entscheiden.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass die Weltbevölkerung bis 2030 um 1,32 Milliarden oder 19 Prozent zunehmen wird und sich die globale Erwerbsbevölkerung bereits bis 2020 verdoppeln soll. Da erscheint die Globalisierung des US-amerikanischen Konsummodells als Sackgasse. Notwendig ist vielmehr die Diskussion über Strategien einer gezielten europäischen und nationalstaatlichen Reindustrialisierung, gestützt auf ein langfristiges Engagement für technische Innovationen, für die Grundlagen- und angewandte Forschung und für die Ausbildung und Qualifizierung der Arbeitnehmer. In eine solche Strategie müsste Frankreich 4 bis 5 zusätzliche Prozentpunkte seines BIP investieren, also jährlich die – durchaus verkraftbare – Summe von 100 Milliarden Euro.
Das Konsummodell ist eine Sackgasse
Die Überwindung der Krise ist nur im Rahmen eines neuen nationalen und europäischen Entwicklungsmodell denkbar, das auf nachhaltigen Fortschritt setzt. Das geht nicht ohne mehrere Voraussetzungen: Es muss wieder einen handlungsfähigen Staat geben, der langfristige industriepolitische Ziele festlegt. Der Finanz- und Bankensektor muss wieder stärker reguliert und auf produktive Investitionen ausgerichtet werden. Zudem gilt es, das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen weiterzuentwickeln und Innovationen zu fördern sowie die Angebotspalette um neue, spezialisierte Produkte und neue Produzenten zu erweitern.
Für eine solche Strategie verfügen Frankreich und die Europäische Union trotz ihrer aktuellen Probleme über eine Reihe günstiger Voraussetzungen.13 Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Energiesicherheit. Die wachsende Kluft zwischen Angebot und Nachfrage zwingt, zusammen mit dem langfristigen Ansteigen der Rohstoffpreise, zu einem effizienteren und sparsameren Umgang mit den Energie- und Rohstoffressourcen (erweitertes Recycling), zum Einsatz neuer Energien und zu einem Umbruch in der Nuklearpolitik.
Da der Nahrungsmittelbedarf weltweit zunimmt (bis 2025 um 50 Prozent), stehen wir darüber hinaus vor der gewaltigen Herausforderung, mehr und besser zu produzieren – im Sinne ökologischer, gesundheitlicher und gesellschaftlicher Erfordernisse – und gleichzeitig die Ernährung für alle zu sichern. Auf dem Weg zu einer neuen industriellen Revolution eröffnen sich noch viele weitere Felder: im Bereich grüner Technologien und alternativer Energien (etwa der Kohlendioxidspeicherung), der Biowissenschaften und der Nanotechnologien, der Kognitionswissenschaften und neuer Informationstechnologien.
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien
Laurent Carroué ist Forschungsdirektor am Französischen Institut für Geopolitik (IFG) an der Universität Paris VIII.