09.03.2012

Die Mafia von Madagaskar

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Die Mafia von Madagaskar

Die Bevölkerung leidet unter der Korruption und den Sanktionen gegen das Regime von Thomas Deltombe

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Angekündigt waren vier oder fünf, doch dann saßen über 30 Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Holzbänken, die die Gewerkschaft normalerweise für ihre Versammlungen nutzt, und wollten mit uns über „die Krise“ reden. Nicht alle sind Mitglied in der Fisema, der ersten Arbeitnehmerorganisation des Landes. Doch fast alle arbeiten in den Textilfabriken der Sonderwirtschaftszone von Antsirabe, der drittgrößten Stadt von Madagaskar, 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Antananarivo. Hier wurden im Auftrag der großen Labels bis vor drei Jahren Jeans, Shorts und Sweatshirts für den europäischen und amerikanischen Markt zusammengenäht. Zwischen 90 000 und 110 000 Ariary (30 bis 40 Euro) verdienen die Arbeiter im Monat.

„Die Krise“ – das ist zunächst der politische Stillstand, der im Land herrscht, seit im März 2009 Andry Rajoelina, der damalige Bürgermeister von Antananarivo, den umstrittenen Präsidenten Marc Ravalomanana mit Unterstützung der Armee aus dem Amt jagte und sich an die Spitze einer Übergangsregierung (Haute Autorité de transition, HAT) stellte. Damals hatten die Afrikanische und die Europäische Union sowie die Vereinten Nationen die sofortige Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung verlangt und Sanktionen gegen Madagaskar verhängt, die bis heute andauern.

Obwohl Ravalomanana offiziell abgedankt hat, will er seinem Rivalen nicht das Feld überlassen. Im Januar versuchte er – vergeblich – aus seinem Exil in Südafrika nach Madagaskar zurückzukehren. Die Auseinandersetzung zwischen Ravalomanana und Rajoelina hat indes die tiefer liegenden Strukturprobleme des Landes offengelegt: die politische Unfähigkeit der madagassischen Führungsschicht und das Scheitern eines seit Jahrzehnten von außen diktierten Entwicklungsmodells.

„Die Politiker sind schuld, aber wir leiden unter den Folgen“, sagt eine Näherin aus Antsirabe, die wie die anderen anonym bleiben will. Ein Kollege erinnert daran, dass schon die Weltwirtschaftskrise von 2008 ein harter Schlag gewesen sei, die internationalen Sanktionen hätten die Lage dann noch einmal verschärft. Ein Riesenproblem sei vor allem, dass Madagaskar seitdem nicht mehr von dem US-amerikanischen „Gesetz zur Förderung von Wachstum und Chancen in Afrika“ (African Growth and Opportunity Act, Agoa) profitiere, das 2000 unter der Clinton-Regierung verabschiedet worden war. Das US-Handelsgesetz, das unter anderem den Agoa-Ländern niedrigere Importzölle gewährt, hatte in den vergangenen zehn Jahren für einen regelrechten Boom in der madagassischen Textilindustrie gesorgt.

Seit Beginn des US-Boykotts im Dezember 2009 haben mehr als 25 000 Arbeiter (von insgesamt 100 000 in der Textilbranche) ihren Job verloren, die Übrigen wurden mit Kurzarbeit abgespeist. Die Mklen-Fabrik, die ausschließlich für den US-Markt produziert hatte, musste dichtmachen und auf einen Schlag 1 200 Arbeiter entlassen. Diejenigen, die heute noch für die madagassischen Hersteller Cottonline, Cotona und Aquarelle arbeiten, wissen nicht, was aus ihren ehemaligen Kollegen geworden ist. Es kursieren lediglich Gerüchte. Manche, heißt es, hätten sich den zahllosen Rikschafahrern in den Straßen von Antsirabe angeschlossen, einige sollen in ihre Dörfer zurückgekehrt oder von den Firmen zu den Zweigstellen in Mauritius oder Jordanien geschickt worden sein.

Unternehmen wie Cottonline, die nicht nur in die USA exportiert haben, konnten ab 2010 wieder Leute einstellen. Doch die Bosse nutzten die schwierige Lage, um die Löhne zu drücken. „Sie kürzen uns unter irgendeinem Vorwand das Gehalt“, erzählt eine junge Frau aufgebracht. „Manchmal entlassen sie die Leute einfach so, nur um zu zeigen, dass sie das letzte Wort haben.“ Auf der Bank neben ihr berichtet eine andere Frau, wie sie wegen einer Krankheit nach acht Dienstjahren bei Cottonline ohne vorherige Abmahnung fristlos entlassen worden war. Mit einer Abfindung von 200 000 Ariary (70 Euro) hatte man sie nach Hause geschickt.

Im madagassischen Staatshaushalt fehlen an allen Ecken und Enden die internationalen Hilfsgelder, die 2008 noch die Hälfte der gesamten Staatseinnahmen ausgemacht hatten. Weil man ihre Budgets zusammengestrichen hat, sind die Gewerbeaufsicht oder das Sozialamt (Caisse nationale de prévoyance sociale, Cnaps) nicht mehr in der Lage, die Unternehmen zu kontrollieren. Der Leiter der Finanzaufsicht bei der Cnaps, Manan’lala Adriantsalama, gibt ohne Umschweife zu, dass sein Amt die 20 000 registrierten Betriebe nicht mehr überprüfen könne. „Und die Arbeiter haben solche Angst, ihren Job zu verlieren, dass sie sich nicht trauen, zu uns zu kommen, um sich zu beschweren“, fügt er hinzu.

Das zweite Exil des Joghurtkönigs

Die vollmundigen Versprechen, die man den Madagassen bei der Einführung der Sonderwirtschaftszonen 1989 gemacht hatte, haben sich nicht bewahrheitet. Damals hieß es, Madagaskars Wirtschaft werde unaufhörlich wachsen, wenn es sich auf seine niedrigen Herstellungskosten konzentriere, also den berühmten „komparativen Kostenvorteil“ nutzen würde, der eine wahre „Sogwirkung“ entfalten werde. In den 22 Jahren, die seitdem verstrichen sind, bewahrheitete sich allerdings nur der erste Teil dieser Versprechen: Die Löhne wurden trotz der hohen Qualifikationen der Arbeitnehmer künstlich niedrig gehalten und die Steuern und Zölle gesenkt, um ausländische Investoren anzulocken. Aber der versprochene Wachstumssegen wollte sich nicht einstellen. Immerhin hatten selbst die Anhänger dieses Entwicklungsmodells davor gewarnt, dass es nur Früchte tragen werde, „wenn ein günstiges und sicheres Klima für Investitionen“ herrsche.1

Allerdings war der zweitgrößte Inselstaat der Welt bekanntermaßen noch nie ein Hort politischer Stabilität. Nach der ersten Revolution von 1972 kam Madagaskar nicht mehr zur Ruhe. 1991 ging das Volk auf die Straße, um den seit 16 Jahren regierenden Diktator Didier Ratsiraka zu vertreiben. 1996 wurde dieser erneut zum Präsidenten gewählt, jedoch sechs Jahre später von den Anhängern des Großunternehmers Ravalomanana ins Exil verbannt. Der „Joghurtkönig“, wie der Chef des Lebensmittelkonzerns Tiko auch genannt wird, setzte sich schließlich nach bürgerkriegsähnlichen Unruhen durch. 2006 trat er seine zweite Amtszeit an, musste aber 2009 seinerseits ins Exil gehen – auf Betreiben des jungen Rajoelina, dessen politische und unternehmerische Karriere in vielem Ravalomananas Werdegang gleicht.2

Von einer politischen Krise zur nächsten wurde das Leben für die Madagassen immer beschwerlicher. Zwischen 1975 und heute ist die Einwohnerzahl des Inselstaats von 7,6 Millionen auf über 20 Millionen gestiegen. Gleichzeitig sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1975 und 2003 durchschnittlich um 1,6 Prozent pro Jahr. Auch als die Wirtschaft zwischen 2003 und 2008 florierte, profitierten davon nur die wenigsten. Über drei Viertel der Madagassen leben immer noch unterhalb der Armutsgrenze von umgerechnet 160 Euro Jahreseinkommen. Madagaskar ist „ein Land der zwei Geschwindigkeiten“, heißt es in einem Bericht der Weltbank vom Juni 2010: „Eine Minderheit ist an den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, während das Gros der Bevölkerung ausgeschlossen ist.“3

Während sich eine Handvoll Vermögender in den Gated Communities der Hauptstadt hinter Mauern mit Stacheldraht verschanzt und von Sicherheitsdiensten beschützen lässt, muss der Rest der Bevölkerung den Gürtel immer noch enger schnallen. Seit 2009 sind die Preise für Grundnahrungsmittel ständig gestiegen und 200 000 Arbeitsplätze wurden vernichtet.4 Die wenigen Arbeitnehmer, die noch ein reguläres Gehalt beziehen – und sei es auch noch so bescheiden –, gelten schon als privilegiert.

„Wir gehen unter“, meint José am Steuer seines klapprigen R4, mit dem er durch die Straßen von Antananarivo rumpelt. Kurz nach Rajoelinas Machtübernahme wurde er als Bauleiter von seiner Firma auf die Straße gesetzt – die Bauwirtschaft ist neben der Textilindustrie und der Tourismusbranche am stärksten von der Krise betroffen. Seitdem fährt er Taxi. „Damals habe ich monatlich 1,5 Millionen Franc Malagasy verdient.5 Jetzt bringt meine Frau das Geld nach Hause.“

Die 30-jährige Ginah hat einen noch dramatischeren Absturz hinter sich. Die ledige, kinderlose Wäscherin muss sich um ihre vier Nichten und Neffen kümmern. Ihre beiden Schwestern, die in der Sonderwirtschaftszone von Antananarivo gearbeitet hatten, seien nach ihrer Kündigung einfach verduftet – genau wie die Arbeiter der Mklen-Fabrik in Antsirabe. Ihr Bruder, der die Jobsuche satthatte, ging lieber zur Armee – zwar ohne Lohn, aber mit Kost und Logis –, anstatt im berüchtigten informellen Sektor unterzugehen. Um die vier Kinder überhaupt ernähren zu können, macht Ginah Schulden bei ihrer Vermieterin.

Laut einem Bericht des UN-Kinderhilfswerks Unicef vom Oktober 2011 haben Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in der Landeshauptstadt deutlich zugenommen. Der informelle Sektor weitete sich enorm aus, die Kaufkraft der Arbeitnehmerschaft sank dramatisch, und es gibt mehr Ungleichheit. Die bereits erreichten Fortschritte in der Armutsbekämpfung wurden wieder zunichtegemacht oder gar in ihr Gegenteil verkehrt, so das Fazit der Autoren.6

Auf dem Land, berichtet Olivier De Schutter, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, sei die Lage genauso verheerend: „35 Prozent der Landbevölkerung hungern“, schreibt er in einem alarmierenden Bericht vom Sommer letzten Jahres, und für die Hälfte sei die Versorgung unsicher.7 Die Sanktionen seien einfach absurd, sagen viele Beobachter, weil sie nicht die Regierung Madagaskars treffen würden, sondern nur die Bevölkerung, die dann auf die humanitäre Hilfe ausländischer Organisationen angewiesen sei.

Und wer ist für diese Situation verantwortlich? Der frühere Bauleiter José gibt den „Unruhestiftern“ die Schuld, die Ravalomanana 2009 gestürzt haben. „Es war nicht das Volk, das diesen Aufstand angezettelt hat, es waren die Unternehmer, die der damalige Präsident ins Abseits gedrängt hatte“, erklärt er. Er behauptet, dass die Randalierer extra dafür bezahlt worden seien, Ravalomananas Tiko-Läden anzuzünden. „Meine Frau und die Kinder haben Andry [Rajoelina] damals unterstützt. Heute machen sie sich keine Illusionen mehr.“

Viele unserer Gesprächspartner bestätigen Josés Aussagen. Ein Journalist, der wie die Arbeiterinnen von Antsirabe anonym bleiben möchte, erzählt in allen Einzelheiten, was er damals erlebt hat. Sein Chef, ein Gegner Ravalomananas, habe ihn losgeschickt, um von der „Revolution“ zu berichten. „Rajoelinas Leute gaben einem fokontany (Bezirksvorsteher) Geld, womit er junge Leute dazu anstiftete, in der Innenstadt zu demonstrieren. Der Fokontany hat mir selbst erzählt, er habe täglich für jeden Demonstranten 75 000 Ariary bekommen. Mir war sofort klar, dass er nicht alles weitergegeben hat – auch für ihn war das ein gutes Geschäft.“

Der Journalist gesteht, dass er ebenfalls bestochen worden sei: Für seine Berichterstattung bekam er 20 000 Ariary pro Tag. Rajoelinas Anhänger zucken nur mit den Achseln, wenn man sie mit solchen Aussagen konfrontiert: „Glauben Sie etwa, Ravalomanana hätte seine Unterstützer nicht bezahlt?“

Auch wenn die Bestechungsgelder bei den Unruhen von 2009 eine wesentliche Rolle gespielt haben – der Unmut machte sich schon in den Monaten vor Ravalomananas Sturz überall bemerkbar. Mit seinem neoliberalen Wirtschaftskurs, von dem vor allem einige wenige Getreue profitierten, und der Vermischung von staatlichen Interessen mit denen seines Großkonzerns hatte sich der damalige Präsident bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung unbeliebt gemacht.8

Seinen ersten Denkzettel bekam Marc Ravalomanana, als Andry Rajoelina, damals Besitzer eines Nachtklubs, im Dezember 2007 bei der Bürgermeisterwahl von Antananarivo den Wunschkandidaten des Präsidenten besiegte. Aber der Tiko-Chef machte keinerlei Zugeständnisse und traf weitere politische Fehlentscheidungen, so dass Rajoelina am Ende als glaubwürdiger Herausforderer dastand. „Ravalomanana hat auf niemanden gehört“, meint Jean-Eric Rakotoarisoa, Professor für Verfassungsrecht und Vizepräsident der Universität Antananarivo. „Deshalb haben ihn die Leute aufgegeben und Rajoelina gewähren lassen.“

Rajoelina wusste zwar, wie er sich die Fehler seines Gegenspielers zunutze machen konnte – viel Aufsehen erregte etwa Ravalomananas Deal mit dem koreanischen Konzern Daewoo Logistics, an den er 1,3 Millionen Hektar Land verkaufte –, doch mittlerweile scheint Rajoelina ebenso unbeliebt zu sein wie sein Vorgänger vor dessen Sturz. Selbst seine Anhänger sehen oft seinen einzigen wirklichen Verdienst in der Vertreibung Ravalomananas.

Der junge Präsident (er ist erst 37) macht nicht den Eindruck, als wolle er ganz neue Seiten aufziehen. Tatsächlich profitieren Rajoelina und seine Mannschaft von den Initiativen der Vorgängerregierung, die zum Beispiel ein Geschäft mit dem chinesischen Stahlproduzenten Wisco über die Erkundung von Erzvorkommen in Soalala an der Westküste eingefädelt hatte. Der 100-Millionen-Dollar-Deal wurde Ende 2009 abgeschlossen. Beobachter der International Crisis Group (ICG) bezeichnen die ganze Sache als höchst undurchsichtig. So kritisieren sie, dass einer Übergangsregierung ein derartiger Geldsegen zugutekommt: „Von solchen Einnahmen, die stets als Glücksfall für das Land dargestellt werden, profitieren immer auch die amtierenden Politiker.“9

Die ICG spricht sogar von „inzestuösen Verflechtungen“ zwischen öffentlichen und privaten Interessen, was auf die Errichtung einer „Schattenregierung“ schließen lasse, ein „System, das manche als mafiös bezeichnen würden“. In diesem Zusammenhang erregte die Edelholzaffäre am meisten Aufsehen. In den Monaten nach der Machtübernahme Rajoelinas stieg der Schmuggel mit Rosenholz – das fast ausschließlich nach China geht – sprunghaft an. Allein 2009 wurden etwa hunderttausend Bäume gefällt, von denen über die Hälfte in Naturschutzgebieten standen. „Das Geld aus dem Rosenholzhandel könnte fehlende Staatseinnahmen ausgleichen“, berichtet die ICG. „Tatsächlich kommt es aber vor allem einigen Mitgliedern des aktuellen Regimes und deren Unterstützern zugute.“

Die international nicht anerkannte Übergangsregierung versucht zwar den Anschein zu erwecken, sie gehe besonders hart gegen Schmuggler vor. Doch sie vermag die Beobachter nicht zu überzeugen, die wissen, dass hier nur die kleinen Fische ins Netz gehen, während die großen entwischen. Es handelt sich ganz offensichtlich um einen Fall von Staatskriminalität: „Es vergeht keine Woche, ohne dass Gold, Edelsteine oder Haifischflossen geschmuggelt werden“, sagt der französische Wissenschaftler Mathieu Pellerin. „Die Einsparungen bei den Zollbehörden und -kontrollen öffnet immer mehr Schmugglern Tür und Tor. Ein paar enge Vertraute des Präsidenten profitieren direkt davon.“

Wenn sich die zwielichtigen Machenschaften bei jedem Präsidenten wiederholen, gerät mit der Zeit die gesamte politische Klasse in Verruf. Dieser Trend hat sich noch verstärkt, seit sämtliche Expräsidenten auf die politische Bühne zurückgekehrt sind: Didier Ratsiraka (1975–1993 und 1996–2001), Albert Zafy (1993–1996), Marc Ravalomanana (2002–2009) und Andry Rajoelina (seit 2009) waren gleich nach Ravalomananas Sturz von der internationalen Gemeinschaft aufgefordert worden, sich auf einen „Rettungsplan“ zu verständigen. Während also diejenigen, die für die ganze Misere verantwortlich sind, seitdem „verhandeln“ (und die gut dotierten Posten schon untereinander aufteilen), begreift das madagassische Volk, dem seit 2009 Wahlen versprochen werden, dass es keine Stimme hat.

Die Einwohner von Antananarivo schauen nach wie vor jeden Morgen auf die Titelblätter der Zeitungen und versuchen die Verhandlungen zu verfolgen, die sich unter dem Vorsitz der Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft (SADC) endlos in die Länge ziehen. Immer wieder gibt es neue „Roadmaps“, geplante, aber niemals verwirklichte „Konsensregierungen“, gebrochene Versprechen und Unterschriften, die das Papier nicht wert sind – vielen kommt das politische Geschehen inzwischen genauso leer und lächerlich vor wie die täglichen Seifenopern im Fernsehen. Zwar interessieren sich die Madagassen noch sehr für Politik. Doch ihr politisches Bewusstsein wird immer stärker von der Abneigung gegen die herrschenden Schichten dominiert, seien es die großen Adelsfamilien, die seit der 1960 erlangten Unabhängigkeit die Geschicke des Landes lenken, oder die Unternehmer, die aus Eigennutz in die Politik gingen, wie Ravalomanana und Rajoelina.

In einer Studie der Weltbank über die Forstwirtschaft und den Bergbau werden der madagassischen Führungsschicht die Leviten gelesen: „In Madagaskar ist es sehr viel einfacher, über persönliche Beziehungen an Ressourcen zu kommen oder Verträge über schnelle Profite auszuhandeln als ein ‚unpersönliches‘ öffentliches System zu etablieren, das auch die wechselnden Regierungen überdauert.“10

Dieser sicherlich heilsame Ordnungsruf lässt jedoch einen wesentlichen Aspekt unter den Tisch fallen: die ständigen Einmischungen ausländischer „Partner“ (und damit sind nicht nur die Chinesen gemeint) in die Regierungsführung. Man kann die Ausschweifungen der madagassischen Oberschicht nicht verstehen, ohne zu berücksichtigen, dass der heutige Staat von der bis 1960 herrschenden Kolonialmacht Frankreich etabliert wurde, die im Übrigen bis heute unter dem Verdacht steht, sich allzu sehr in die inneren Angelegenheiten Madagaskars einzumischen.

Was nützt es schon, fragt man sich, wenn die Finanz- und Wirtschaftsexperten von IWF, Weltbank und Co das Lob „guter Regierungsführung“ im Munde führen und gleichzeitig dem Staat die Handhabe gegen Privatfirmen entziehen. Denn genau das geschah auf ihre Empfehlung hin in Madagaskar, als Ende der 1980er Jahre die Sonderwirtschaftszonen eingerichtet wurden.

Professor Rakotoarisoa sagt zwar, dass die Verantwortung für den politischen Stillstand zuallererst die madagassische Führungsschicht trage, doch gebe es auch eine internationale Verantwortung: „Franzosen, Amerikaner und Südafrikaner kämpfen um Einfluss in Madagaskar, just in dem Moment, in dem mehrere große Zechen die Arbeit aufgenommen haben und Erdölvorkommen vermutet werden.“ In Madagaskar weiß man genau, dass Frankreich fest an Rajoelinas Seite steht – gleich nach dessen Machtübernahme stattete damals der französische Botschafter dem politischen Newcomer einen „Höflichkeitsbesuch“ ab –, während die englischsprachige Welt immer Ravalomanana unterstützt hat. Angesichts des offensiven Gegenspielers aus China wird beiden Seiten vielleicht schon bald nichts anderes übrig bleiben, als aufeinander zuzugehen.

Fußnoten: 1 Mireille Razafindrakoto und François Roubaud, „Les entreprises franches à Madagascar: atouts et contraintes d’une insertion mondiale réussie“, Afrique contemporaine, Nr. 202/203, Paris, April–September 2002. 2 Siehe Rémi Carayol, „Krösus gegen Krösus. In Madagaskar kämpfen zwei Unternehmer um das höchste Amt im Staat“, in: Le Monde diplomatique, März 2009. 3 Adolfo Brizzi, „Organisation sociale: une vue du bas … pour aider le haut“, in: „Madagascar: vers un agenda de relance économique“, Weltbank, Washington, Juni 2010. 4 Grégoire Pourtier, „Madagascar: les PME en souffrance à cause de la crise politique“, AFP, 23. November 2011. 5 2003 wurde der Franc Malagasy (MGF) durch die neue Währung Ariary (MGA) ersetzt (5 Francs = 1 Ariary), doch viele Madagassen rechnen nach wie vor in Francs. 6 „Analyse de la pauvreté des enfants à Madagascar“, Unicef, New York, Oktober 2011, www.unicef.org/madagascar/mg_media_pubs_etude_pauvrete.pdf. 7 Vorläufiger Abschlussbericht der Mission des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung in Madagaskar, Rom, 25. Juli 2011. 8 Siehe Fanny Pigeaud, „Der Joghurtkönig“, Le Monde diplomatique, März 2006. 9 „Madagascar, la crise à un tournant critique?“, International Crisis Group, Bericht Nr. 166, Brüssel, 18. November 2010. 10 „Madagascar: Revue de la gouvernance et de l’efficacité du développement“, Weltbank, Washington, Dezember 2010.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Thomas Deltombe ist Journalist und Autor von (zusammen mit Manuel Domergue und Jacob Tatsitsa) „Kamerun! Une guerre cachée aux origines de la Françafrique, 1948–1971“, Paris (La Découverte) 2010.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2012, von Thomas Deltombe