Manifest einer Revolte
von Alexander Cockburn
Vor fünfzig Jahren verfasste eine Gruppe von Studenten das Gründungsmanifest der Students for a Democratic Society, abgekürzt SDS. Die historischen Darstellungen, die in den letzten drei Jahrzehnten über die rebellischen 1960er Jahre erscheinen sind, würdigen ziemlich übereinstimmend die Rolle der SDS als die einer Speerspitze der radikalen Organisationen, die gegen die Rassendiskriminierung kämpften, gegen den Vietnamkrieg protestierten und ganz allgemein den Ausbruch aus der erstickenden Atmosphäre des Kalten Kriegs wagten. Diese Atmosphäre der Angst vor einer neuen antikommunistischen Hexenjagd (im Stile McCarthys) hatte bis dahin lähmend über den letzten Resten der organisierten Linken gelegen, die noch in Gewerkschaften, Kirchen und Universitäten überdauert hatten.
Die SDS waren 1960 gegründet worden. 1962 hielten sie ihren ersten Kongress bei Port Huron ab, das direkt an der Grenze zwischen dem US-Bundesstaat Michigan und Kanada liegt. Der Versammlung lag ein Manifest vor, das von einem Absolventen der University of Michigan, Tom Hayden, entworfen und von einer Arbeitsgruppe überarbeitet worden war. Als „Port Huron Statement“ wurde es verabschiedet.
Wer die apokalyptisch gestimmten Zeilen dieser Erklärung heute liest, kann sich des Gedankens kaum erwehren, dass die Verfasser 1962, nach mehreren Jahren des Kalten Kriegs, mit ihren Einsichten ein bisschen spät dran waren. Immerhin war es vierzehn Jahre her, dass Präsident Truman die Militarisierung der US-amerikanischen Nachkriegsökonomie eingeleitet hatte. 1950 gab es bereits US-Militärberater in Indochina, fünf Jahre später hatten die USA die politischen Reformen in Guatemala und im Iran in den Staub getreten.
Vor allem aber hatte Eisenhower am 17. Januar 1961 in seiner berühmten Abschiedsrede als US-Präsident gemahnt: „Wir müssen auf der Hut sein, damit der militärisch-industrielle Komplex – gewollt oder ungewollt – nicht unvertretbaren Einfluss gewinnt. Das Potenzial für eine verhängnisvolle Konzentration unangemessener Macht existiert und wird weiterhin existieren.“ Überdies warnte Eisenhower vor der Gefahr, „dass das Gemeinwesen als solches zum Gefangenen einer wissenschaftlich-technologischen Elite wird“.1
Ende der 1950er Jahre setzte im Kalten Krieg in der Tat ein erstes Tauwetter ein, jedenfalls an den Universitäten. An der University of California in Berkeley hatten Studenten 1956 erstmals einen Hungerstreik gegen die obligatorische militärische Ausbildung (Reserve Officers’ Training Corps, ROTC) auf dem Campus organisiert. 1962 stimmte das Kuratorium der Universität schließlich für die Abschaffung des ROTC.
Der ehemalige Aktivist Joe Paff2 erinnert sich noch gut an die uniformähnlichen Khakihosen und Button-Down-Hemden, in denen die Sprösslinge der wiederauferstanden Mittelklasse damals auf dem Campus herumliefen. „Für die obligatorische militärische Ausbildung mussten die männlichen Studierenden einmal die Woche in richtigen Uniformen zum Exerzieren antreten. Verbindungsstudenten kontrollierten an den Zugängen zum Campus, dass die Kleiderordnung eingehalten wurde. Die Wahlen zur Studentenvertretung galten als Jux. Eine Fakultät, die sich gegen den Fahneneid gewehrt hatte, wurde gesäubert.“
In diesem konformistischen, konservativen Geist hatte die Universitätsleitung angeordnet, dass die Studierenden nicht über „Themen jenseits des Campus“ reden sollten und vor „Agitatoren von außen“ zu schützen seien. Joe Paff lud im Mai 1961 Malcolm X ein, auf dem Campus von Berkeley zu sprechen. Doch die Obrigkeit verbot den Auftritt mit dem Argument, der Redner sei ein Prediger, der die Leute womöglich zum Islam bekehren würde.
„Wir fanden dann in letzter Minute noch einen Saal für ihn, in den allerdings nur 160 Leute reingingen“, erinnert sich Paff. „Er war der unglaublichste Redner, den ich je gehört habe, einfach elektrisierend. Er hat das Leben jedes Zuhörers verändert, für immer. Wenn du ihm eine Frage gestellt hast, blickte er dir in die Augen und wiederholte deine Frage, und dann ging er auf sie ein. Bald traute sich niemand mehr, dumme Fragen zu stellen.“ Besonders fasziniert waren die schwarzen Studenten: „Nach kurzer Zeit redete jeder zweite Schwarze wie Malcolm X.“
All das brachte die Ereignisse der 1960er Jahre ins Rollen. Bald zog es viele Studenten in die Südstaaten, wo sie sich in den gewaltfreien Kampagnen des 1960 gegründeten Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) engagierten. Die Port-Huron-Erklärung entstand also nicht im luftleeren Raum, und entsprechend waren die darin formulierten Ideen auch nicht unbedingt neu. Aber kein anderer linker Text dieser Zeit brachte derart klar und lebendig die Stimmung einer jungen Generation zum Ausdruck, die sich vom öden Konformismus der 1950er Jahre befreien wollte. In diesem Klima hatten selbst Professoren befürchteten müssen, als „Rote“ denunziert zu werden, und ganze sozialwissenschaftliche Fakultäten bemühten sich, die Originaltexte unorthodoxen Denkens in sterilen Anthologien zu verstecken.
In der Port-Huron-Erklärung äußerte sich eine tief sitzende Angst vor Vereinsamung und Entfremdung. Jenseits der Fragen nach dem Gegensatz von Marktwirtschaft und Sozialismus ging es vor allem um ein fundamentales Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, nach Ausschöpfung der eigenen Möglichkeiten – ein Motiv, das offenbar von Paul Goodman, einem der Begründer der Gestalttherapie, inspiriert war. (Der anarchistische Autor hatte mit „Growing Up Absurd“ ein Buch3 geschrieben, das bei den jungen Linken beiderseits des Atlantiks sehr gut ankam.)
Der Abschnitt „The Society Beyond“ beschreibt die Gesellschaft als „entfremdet“, beherrscht von einem falschen Bewusstsein. Die kulturelle Aufgabe der Studenten, die das verstanden hätten,bestehe darin, die reale Verzweiflung hinter den gut bezahlten industriellen Arbeitsplätzen aufzudecken und den Konsumismus als hohl und substanzlos zu entlarven.
Über die Gewerkschaftsbewegung heißt es, sie sei von der allgemeinen gesellschaftlichen Apathie erfasst. Ihren Anführern wird vorgehalten, dass sie die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von Marx nicht gelesen hätten, in denen die verschiedenen Formen der Entfremdung dargestellt werden. Zudem gibt es in der Erklärung auch einige Absätze zum Thema Ökonomie: „Der amerikanische Kapitalismus betrachtet sich heute als ‚Wohlfahrtsstaat‘. Viele von uns gehen wie selbstverständlich davon aus, dass wir in den Genuss von Pensionen, Gesundheitsversorgung, Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen kommen werden.“
Die Erklärung zeichnet das Bild einer Gesellschaft wohlhabender Bürger, denen die Existenz von armen Menschen großes Unbehagen bereitet. Das alles klingt heute fast utopisch. Doch der Optimismus dieser Sätze verweist auf einen wichtigen Punkt: Die Verfasser hatten – trotz ihrer einleitenden pessimistischen Bemerkungen – in Wahrheit wenig Gespür für die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Ein Mangel an Voraussicht, der auf fast alle wichtigen Ökonomen jener Zeit zutraf.
Rufer in der Wüste der Gleichgültigkeit
Erst sieben Jahre später (1969) erreichten die Gratifikationen, die der Kapitalismus der US-amerikanischen Arbeiterklasse (genauer gesagt, deren oberem, meist weißem Drittel) gewährte, ihr höchstes Niveau, sowohl bei den Löhnen als auch bei den Wohlstandsattributen: große, schmucke Autos, Zweitwagen für die Ehefrau, die damals noch nicht arbeiten gehen musste, sowie arbeitssparende Haushaltsgeräte, Pensionen, Gesundheitsleistungen und (ab 1965) eine allgemeine Krankenversicherung für Rentner (Medicare). Doch mit Beginn der 1970er Jahre ging es mit alledem bergab.
Das stärkste Kapitel in der Erklärung ist dasjenige über den „militärisch-industriellen Komplex“, das sich mehr an Eisenhower orientiert denn an Goodman. Unter dem Titel „Alternativen zur Hilflosigkeit“ wird die Strategie entwickelt, wie engagierte Studenten überall im Lande, in dieser gigantischen Wüste der Apathie und des selbstzufriedenen Materialismus, für einen politischen Wandel kämpfen können: „Ausgehend von Schulen und Universitäten […] könnte eine militante Linke ihre Verbündeten aktivieren“ (wobei unklar blieb, wer genau diese Verbündeten sein sollten).
Diese neue Linke, heißt es weiter, müsse das Gefühl der Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit aufgreifen und so umwandeln, dass die Leute „die politischen, sozialen und ökonomischen Ursachen ihrer privaten Probleme erkennen können“. Der Weg zur politischen Macht führe auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene über die Kooperation zwischen der „neuen Linken der jungen Generation und einer erwachenden Gemeinschaft von Verbündeten“. Die Antwort auf alle offenen Fragen bestehe demnach in einer „partizipatorischen Demokratie“, wie sie der Soziologe C. Wright Mills vorgeschlagen hatte.4
Der Optimismus, mit dem die Port-Huron-Erklärung beispielsweise mithilfe von tausenden Atomkraftwerken nicht nur billige Energie erzeugen, sondern auch den Militarismus besiegen wollte, bringt uns fünfzig Jahre später eher zum Schmunzeln. Verblüffend ist auch die Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland, die mit dem Glauben an die Dauerhaftigkeit der Berliner Mauer und des Kalten Kriegs einhergeht.5 Dasselbe gilt für die naive Vorstellung, die USA sollten so großzügig sein, ihre technologischen Errungenschaften mit allen zu teilen, und damit die „Industrialisierung der Welt“ ermöglichen.
Das weitere Schicksal der Students for a Democratic Society, die sich 1969 in mehrere Splittergruppen auflösten, soll hier nicht erörtert werden. In den einschlägigen historischen Darstellungen wird die Bedeutung der SDS oft überschätzt, vor allem wenn man sie mit den schwarzen Bürgerrechtsorganisationen wie dem SNCC (Student Nonviolent Coordination Committee) oder auch den Black Panthers vergleicht, deren Anführer nicht die Möglichkeit hatten, als wohlbestallte akademische Historiker die Geschichte ihrer Kämpfe zu verfassen – zumal viele von ihnen von Polizisten umgebracht wurden.
Und was wurde aus dem Mann, der den ersten Entwurf der Erklärung verfasst hat? Tom Hayden begann 1964 in New Jersey mit Jugendlichen und armen Familien im Rahmen des Newark Community Union Project zu arbeiten. 1972 machte er mit Jane Fonda, die er ein Jahr später heiratete, einen aufsehenerregenden Besuch in Hanoi. Ende der 1970er Jahre ging er in die Politik und wurde zunächst ins Parlament und dann in den Senat von Kalifornien gewählt, wo er verschiedene soziale und ökologische Projekte durchbrachte.
Im letzten Jahr haben wir die Entstehung einer neuen Protestbewegung in den USA erlebt: In New York, Oakland und vielen anderen Städten wurde demonstriert und in Zelten genächtigt, Banken werden belagert. Doch Occupy (Wall Street) knüpft weder intellektuell noch organisatorisch tatsächlich an Bestehendes an. Die SDS bezogen sich auf die Ideenwelt des jungen Marx, Ende der 1960er Jahre entdeckte man außerdem noch Frantz Fanon als Theoretiker des antikolonialen Kampfes, den Pädagogen Paolo Freire und den Ökonomen Gunnar Myrdal.
Heute lässt sich kaum eine Kontinuität zwischen SDS und Occupy erkennen, was natürlich auch damit zu tun hat, dass sich der US-amerikanische Kapitalismus weiterentwickelt hat und dass eine organisierte Linke fast nicht mehr existiert. Ein wichtiger Unterschied kommt noch hinzu: Die Verfasser der Port-Huron-Erklärung sahen sich als kleine Fackel einsamen Widerstands in der stockdunklen Nacht amerikanischer Selbstgefälligkeit. Die Occupy-Bewegung begreift sich als Vertreter von 99 Prozent der Bevölkerung, die sich gegen das eine Prozent zur Wehr setzt.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Alexander Cockburn ist Mitherausgeber der politischen Website CounterPunch.
Aus der Erklärung von Port Huron
„Wir gehören zu einer Generation, die in mehr oder weniger bescheidenem Wohlstand aufgewachsen und mittlerweile an den Universitäten angekommen ist, und wir empfinden ein tiefes Unbehagen angesichts der Welt, die man uns hinterlässt. Als wir Kinder waren, waren die USA das reichste und stärkste Land der Welt. Sie verfügten als einziges Land über die Atombombe, hatten vergleichsweise wenig unter den Kriegsfolgen zu leiden und waren Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, die – wie wir damals meinten – den Einfluss des Westens in die Welt tragen würden. […]
Doch mit der Zeit haben verstörende Ereignisse unser Wohlbefinden erschüttert und uns in unserer Gleichgültigkeit aufgerüttelt. Zunächst brachte die allgegenwärtige und quälende Erniedrigung von Menschen – im Zeichen der in den Südstaaten herrschenden rassistischen Bigotterie – die meisten von uns dazu, nicht länger zu schweigen und aktiv zu werden.
Unsere Arbeit ist von dem Gefühl geprägt, dass wir womöglich die letzte Generation in dem großen Experiment mit lebenden Wesen sein könnten. Aber wir sind eine Minderheit – die große Mehrheit unseres Volkes betrachtet das vorübergehende Gleichgewicht unserer Gesellschaft und der Welt als dauerhaft und funktional.“