07.08.2025

Ein Gespenst geht um in Japan

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Ein Gespenst geht um in Japan

Eine kleine Geschichte der KPJ

von Renaud Lambert

Der KPJ-Vorsitzende Tokuda auf dem Balkon des Asahi-Pressehauses in Tokio, 24. Januar 1949 CHARLES P. GORRY/picture alliance/ap
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Die weltweit erste Ausgabe der gesammelten Werke von Karl Marx und Friedrich Engels erschien erstaunlicherweise nicht auf Deutsch, Russisch, Französisch oder Englisch, sondern wurde 1932 von dem japanischen Verlag Kai­zō­sha herausgegeben.1 Bei näherer Betrachtung ist das jedoch gar nicht so verwunderlich: Die 1922 gegründete KPJ ist bis heute mit 250 000 Mitgliedern nach den in China, Vietnam oder Kuba regierenden KPs eine der größten kommunistischen Parteien weltweit.

In Japan haben manche Leute geradezu Angst vor „den Roten“. Was für die Haustürwahlkämpfer der KPJ eine gewisse Herausforderung darstellt. Einer von ihnen ist der 76-jährige Yoshimitsu Kuronuma. Er ist heute mit zwei älteren Genossinnen zum Wahlkampf verabredet, um in Ota, einer eher armen Kommune südlich von Tokio, Flugblätter zu verteilen. Mit einem Dreirad, auf das ein Lautsprecher montiert ist, zieht die kleine Truppe durch die Straßen. „Was haben Sie heute in Ihrem Kühlschrank?“, fragt etwa Kuronuma vor einem Haus stehend ins Blaue hinein und verbeugt sich höflich vor den zugezogenen Vorhängen: „Wir werden dafür sorgen, dass er immer voll ist und Sie drei Mahlzeiten am Tag haben.“

In ihren etwas zu großen Anoraks sehen die drei ein bisschen aus wie Comicfiguren wie aus dem Trickfilmstudio Ghibli entsprungen. „Vielleicht wird Ihre Hand zittern, wenn Sie den Wahlzettel für die Kommunisten in die Urne legen, aber bitte wagen Sie den großen Sprung!“, wirbt Kuronuma mit einer erneuten Verbeugung.

Alle KP-Mitglieder, denen wir begegnet sind, haben uns bestätigt, dass es ratsam ist, die Parteizugehörigkeit zu verschweigen. Im Berufsleben kann es einen den Job kosten, oder man wird kaltgestellt. Im Alltag muss man damit rechnen, dass die Leute einem aus dem Weg gehen. Bis heute schwebt ein Anti­sub­ver­sions­ge­setz von 1952 wie ein Damoklesschwert über der Partei, die seit Langem polizeilich beobachtet wird – insbesondere seit der Nationalist Shinzō Abe (1954–2022), der langjährige rechtskonservative Ministerpräsident Japans, im März 2016 erklärte, die KPJ strebe eine „gewaltsame Revolution“ an.2

Die Aufregung der Machthabenden will allerdings nicht so recht zu den Äußerungen unserer Gesprächspartner passen. „Bezeichnen Sie sich als antikapitalistisch?“, fragen wir Kuronuma. „Nicht direkt“, antwortet dieser. „Ich denke, man sollte bewahren, was gut funktioniert, und das Schlechte beseitigen, wie zum Beispiel die Umweltverschmutzung.“

2024 wurde Tomoko Tamura als erste Frau zur Parteivorsitzenden gewählt. Wir treffen sie in der Parteizentrale im Tokioter Stadtviertel Yoyogi. „Leider sind wir Opfer eines großen Missverständnisses“, erklärt sie mit zarter, bedächtiger Stimme. „Es heißt, wir wollten eine Einparteiendiktatur errichten, dabei wollen wir das Land gerade von einem solchen Regime befreien.“ Damit meint sie die Liberaldemokratische Partei (LDP), die bis auf zwei Phasen seit ihrer Gründung vor 70 Jahren fast ununterbrochen Japan regiert.3 Ihre Gründung wurde 1955 von der CIA mit großzügigen Mitteln unterstützt4, um dem kommunistischen Einfluss aus anderen asiatischen Staaten entgegenzuwirken.

Dabei hatte es mit Washington und der KPJ ganz gut angefangen. Nach der japanischen Kapitulation im August 1945 besetzten die USA das Land, und manche ihrer Reformen – wie die Zerschlagung der Industriemonopole, die Unterstützung der Gewerkschaften und die Einführung von Tarifverhandlungen und Streikrecht – waren für US-Verhältnisse geradezu bolschewistisch. Die seit 1935 verbotene KPJ wurde von der Besatzungsmacht wieder zugelassen und politische Gefangene wurden freigelassen, darunter Kyuichi Tokuda (1894–1953), einer der Gründer der KPJ, der seit 1928 ununterbrochen im Gefängnis gesessen hatte.

Als er freikam, verlas er einen „Appell an das Volk“, der mit folgenden Worten begann: „Wir bekunden unsere tiefe Dankbarkeit gegenüber den alliierten Kräften, die Japan besetzt haben, um die Welt von Faschismus und Militarismus zu befreien, und die dem Land damit den Weg zur demokratischen Revolution eröffnet haben.“5 Damals bezeichnete die KPJ die US-Truppen sogar als „Befreiungsarmee“.

Parteizeitung mit Millionenauflage

Die von der Besatzungsmacht ini­tiier­te neue Verfassung, die 1947 in Kraft trat, bestätigt, welcher Elan damals herrschte. So sieht Artikel 9 vor, dass Japan „für immer auf Krieg verzichtet“. Doch schon bald sah sich Washington auch in Japan zu einem Kurswechsel genötigt. In China regierten nach dem Sieg Mao Tse-tungs über Tschiang Kai-schek, der von den USA unterstützt worden war, seit 1949 die Kommunisten. Ein Jahr später versuchten die USA die stalinistische Regierung in Nordkorea zu stürzen und überzogen das Land mit einem verheerenden Krieg (1950–1953).6

Die Amerikaner fürchteten, dass die junge japanische Demokratie in die Fänge der KPJ geraten könnte. Auf der Suche nach einem Verbündeten, der ihre Truppen auf der koreanischen Halbinsel mitversorgen sollte, gaben die USA in Japan ihre Kampagne gegen den Faschismus auf und rehabilitierten die wegen Kriegsverbrechen angeklagten Führer des alten Regimes. Die großen Industriemonopole wurden wiederhergestellt. Fortan richteten sich die politischen Säuberungen gegen soziale Bewegungen im Allgemeinen und die KPJ im Speziellen. Die „Befreiungsarmee“ entwickelte sich immer mehr zu einer „neokolonialen Militärdiktatur“, wie der US-Historiker John Dower schreibt.

Unter dem Druck von KPdSU und ­KPCh entschied sich die KPJ 1950 dann tatsächlich für den bewaffneten Kampf. Der Beschluss führte indes zu zahlreichen Abspaltungen. Moskau und Peking waren aber überzeugt, dass die japanische Landbevölkerung wie die chinesische nur darauf warte in den Kampf zu ziehen. In der Hoffnung, einen Aufstand anzuzetteln, schickte die KPJ Mobilisierungseinheiten aus den Bergdörfern durch das Land. Die Ak­tion endete jedoch in einem Fiasko, unter anderem weil die KPJ keinerlei Erfahrung im bewaffneten Kampf hatte. Zudem zeigten sich die Bauern nicht an einer Rebellion interessiert: General Mac­Arthur, Washingtons Statthalter in Tokio, hatte nämlich gerade mit einer Agrarreform dafür gesorgt, dass sich deren Lebensbedingungen verbesserten.

1955 legte die KPJ die Waffen nieder und machte sich an die Wiedervereinigung ihrer verschiedenen Fraktionen. Diese Aussicht fand man bei der CIA wiederum auch bedrohlich. Denn die KPJ sollte sich auf gar keinen Fall wählbar machen. Also sorgten die US-Amerikaner dafür, dass die Liberale und die Demokratische Partei zur LDP fu­sio­nier­ten7 , die bald von einem Vertreter des früheren Militärregimes angeführt wurde, der zuvor wegen Kriegsverbrechen angeklagt gewesen war: Nobusuke Kishi (1957–1960), der Großvater von Shinzō Abe.

In den folgenden Jahren erarbeiteten die Kommunisten ein Grundsatzprogramm, das 1961 auf ihrem 8. Parteitag abgesegnet wurde. Es gilt bis heute ohne größere Änderungen. An erster Stelle steht die nationale Befreiung, wie auch im aktuellen Parteiprogramm, in dem es heißt: „Die japanische Gesellschaft braucht eine demokratische und keine sozialistische Revolution. Eine Revolution, die der drastischen Unterwerfung des Landes unter die USA ein Ende bereitet.“ Den Wahlen nach dem Umsturz werde man sich mit einer „Einheitsfront“ stellen und theoretische Meinungsverschiedenheiten überwinden. Und in der Außen­wirkung setze man nach wie vor auf Normalisierung.

Schon in den 1960er Jahren stellte sich die Partei nicht hinter die neuen sozialen Bewegungen, sondern verteidigte Recht und Ordnung. In den 1970ern ersetzte sie ihre Arbeiterfunktionäre durch Anwälte, Ärzte oder Führungskräfte aus Unternehmen. In den 2000er Jahren schließlich verzichtete sie auf Schlagworte wie „Avantgarde-Partei“, „Zelle“ oder „Diktatur des Proletariats“, weil sie „der Gesellschaft Angst machten“. Seit 2000 definiert sie sich als „wirtschaftsreformistisch“.

2020 verkündete die KPJ dann, dass die KPCh das Prädikat „sozialistisch“ inzwischen nicht mehr verdiene – unter anderem wegen der brutalen Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang8 und des Säbelrasselns im Südchinesischen Meer. Noch kritischer äußerte sich die KPJ gegenüber Chinas russischem Verbündeten nach dessen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022.

Währenddessen hält die KPJ an der Verfassung von 1947 fest, die demokratische und pazifistische Ideale vertritt, von denen die meisten Japaner zuvor nie zu träumen gewagt hatten. Sie versuchen also eine ausgerechnet von den USA installierte Ordnung zu bewahren, die diese hatten loswerden wollen und deshalb den Ultranationalisten an die Macht verhalfen. Die sich wiederum nicht um die Verfassung scheren und auf Remilitarisierung setzen – in der Gewissheit, dass ein wichtiger Verbündeter hinter ihnen steht.

Ab 1955 wandte sich eine Neue Linke, die sich auf Trotzki berief, gegen die KPJ. Sie war maßgeblich an den Unruhen im Mai 68 beteiligt und einige ihrer Anhänger gingen zum bewaffneten Kampf über. Doch anders als zur gleichen Zeit in Deutschland oder in Italien, wo ebenfalls bewaffnete linksextreme Gruppen entstanden, nahmen sich in Japan Linksextremisten bald gegenseitig ins Visier und richteten ihre Gewalt sogar gegen eigene Mitglieder. Solche Auswüchse waren Wasser auf die Mühlen der herrschenden LPD, die seither keine Gelegenheit ausließ, vor der Gewalttätigkeit des Kommunismus zu warnen, der das liberale Modell infrage stelle.

Dabei hat sich die japanische KP in Wahrheit immer mehr in Richtung Mitte bewegt. Doch die Antikommunisten ficht das nicht an. Unverdrossen und ungeachtet der Realität beschwören sie die angebliche rote Gefahr. Auch wenn diese Warnungen unbegründet sind: Es lässt sich nicht leugnen, dass die KPJ stets ein gewisses politisches Gewicht hatte. In den 1970er und 1980er Jahren bekam sie bei den Parlamentswahlen fast 10 Prozent der Stimmen und war damit die drittstärkste Oppositionskraft. Seither bekommt sie zwar weniger Wählerstimmern, aber sie stellt weiterhin 11 Räte (von 248) im Oberhaus des Parlaments und immerhin 8 Abgeordnete (von 465) im Unterhaus. Vor allem verfügt die Partei dank der Hingabe ihrer Mitglieder über eine bedeutende lokale Basis: „In der Metropole Tokio ist die KPJ die größte Opposi­tions­kraft“, sagt die Parteivorsitzende Tamura.

Nicht zu vergessen: Das Parteiorgan der KPJ, Akahata (Die rote Fahne), erreicht eine Auflage von sage und schreibe einer Million Exemplaren. Die Tageszeitung wird schon lange weit über kommunistische Kreise hinaus gelesen. Sie verzichtet auf langatmige theoretische Ausführungen und nimmt ihre Rolle als vierte Gewalt in einer Demokratie sehr ernst. So deckt sie regelmäßig politische Skandale auf, die von allgemeinem Interesse sind.

Bei aller politischen Geschmeidigkeit ist die KPJ jedoch einer ihrer Überzeugungen treu geblieben: Japan sei ein Land, dem die Vereinigten Staaten seine Souveränität genommen haben. Eine demütigende Tatsache für die japanische Elite, die Erben der ehemaligen Kriegsverbrecher, die von Washington rehabilitiert wurden und ein starkes Nationalgefühl pflegen, ganz zu schweigen von einer gewissen impe­ria­len Nostalgie. Schließlich, so meinen sie, ist Japan doch eine außergewöhnliche Nation, die es weniger als 30 Jahre nach ihrer Kapitulation geschafft hat, zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufzusteigen. Für eine Elite, die solche Überzeugungen hegt und von der Bevölkerung erwartet, sie zu teilen, ist die Stimme der KPJ in der Tat besorgniserregend.

Unter bestimmten Umständen kann die Wahrheit in der Tat angsteinflößend sein.

1 Siehe Gavin Walker, „Marxist theory in japan: a critical overview“, globeistan.com, 8. April 2024.

2 „JCP gives answer to anti-JCP questions“, Pressekommuniqué der Kommunistischen Partei Japans (KPJ), Tokio, 11. Juni 2016.

3 Bis auf August 1993 bis Juni 1994 und September 2009 bis Dezember 2012.

4 Siehe „CIA reportedly paid millions to Japan’s LDP“, Los Angeles Times, 9. Oktober 1994.

5 Zitiert von John Dower in: „Embracing Defeat. Japan in the Aftermath of World War II“, New York (W. W. Norton & Company) 1999.

6 Siehe Bruce Cumming, „Napalm über Nordkorea“, LMd, Dezember 2004.

7 Siehe Kenji Hasegawa, „The Japanese Communist Party has been a vital presence in Japan’s politics“, jacobin.com, 15. Juli 2022.

8 Siehe Rémi Castets, „Bleierne Zeit in Xinjiang“, LMd, März 2019.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Renaud Lambert ist Redakteur bei LMd, Paris. Mitarbeit: Emil Pacha Valencia, Chefredakteur des Magazins Tempura. Un magazine sur le Japon.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2025, von Renaud Lambert