07.08.2025

Lagerkämpfe in Moskau

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Lagerkämpfe in Moskau

Donald Trump hat die Geduld mit Wladimir Putin verloren. Doch der monatelange Flirt des US-Präsidenten mit dem Kremlchef hat die Konkurrenz zwischen zwei außenpolitischen Narrativen in Moskau sichtbar gemacht.

von Boris Kagarlitzki und Alexej Sachnin

Alexander Dugin und Konstantin Malofejew auf dem Multipolaritätsforum, Moskau, Februar 2024 Komsomolskaya Pravda/picture alliance/picvario
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Als sich US-Präsident Donald Trump gleich nach seiner Wahl dem Thema Ukraine zuwandte, signalisierte er Moskau weitgehende Zugeständnisse. Unter anderem erteilte er einem möglichen Nato-Beitritt der Ukraine eine Absage und stellte in Aussicht, die Krim-Halbinsel offiziell als russisches Territorium anzuerkennen. Sechs Monate später hält der Kreml weiter an seinem Anspruch auf fünf östliche Regionen der Ukraine fest und will dem Nachbarland nur beschränkte Sicherheitsgarantien zugestehen.

Trumps Ukraine-Initiative hat die Beweggründe und die Konturen der russischen Unnachgiebigkeit, die im Westen häufig auf den Machtwillen eines einzigen Mannes zurückgeführt wird, noch klarer und differenzierter hervortreten lassen. Interessanterweise waren in Moskau zwei unterschiedliche Reaktionen zu verzeichnen, die jedoch in einem Punkt übereinstimmen: keinerlei Nachgeben gegenüber der Ukraine.

Dass dem so ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Als die USA und die EU auf die russische Invasion vom Februar 2022 mit massiven Sanktionen reagierten, hoffte man in Brüssel, das Regierungslager in Moskau spalten zu können. Grund für diese Annahme war die enge wirtschaftliche und finanzielle Verflechtung Russlands mit dem ­Westen.

Zu dem Zeitpunkt entfielen 35 Prozent des russischen Außenhandels auf die Europäische Union, doppelt so viel wie auf den Handel zwischen Russland und China. Für die EU war Russland mit einem Volumen von 297 Milliarden Dollar der drittgrößte Handelspartner, hinter den Vereinigten Staaten (747 Milliarden) und China (466 Mil­liar­den Dollar).1

Was die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) Russlands betrifft, so flossen 2016 mehr als 70 Prozent der russischen Gelder in europäische Länder, vor allem in Offshore-Finanz­zentren wie Zypern, die Schweiz und Luxemburg, die wichtige, weil steuerlich begünstigte Umschlagplätze für russisches Kapital darstellten. Bei den FDI, die nach Russland flossen, lagen Großbritannien, Deutschland und Frankreich an der Spitze. Zusammen waren die Volkswirtschaften dieser drei Länder Ende 2017 mit über 50 Milliarden US-Dollar in Russland aktiv.2

In Folge dieser finanziellen Verflechtungen lebten viele russische Oligarchen und Funktionäre und ihre Familien in London, Paris oder Nizza und ließen ihre Kinder an europäischen Elite­unis studieren.

Auch die liberale Opposition in Moskau setzte auf eine Spaltung innerhalb der Führungsschicht. Im Jahr 2023 forderten Leonid Wolkow, der engste Mitarbeiter des im Februar 2024 in der Haft verstorbenen Alexei Nawalny, und andere Mitglieder kremlkritischer Organisationen gegenüber dem obersten EU-Diplomaten Josep Borrell die Aufhebung der Sanktionen gegen bestimmte Oligarchen, die die Invasion in der Ukraine nicht unterstützt hatten.

Wolkow begründete diese Forderung mit der Erwartung, „dass wir durch einen Präzedenzfall eine Kettenreaktion von öffentlichen Verurteilungen des Kriegs und von Spaltungen innerhalb der russischen Eliten auslösen könnten“.3 Doch die meisten russischen Milliardäre kehrten alsbald in ihr Heimatland zurück und versicherten dem Kreml ihre Loyalität.

Im russischen Regierungslager kursierten von Anfang an zwei Narrative zur Rechtfertigung der Ukraine-In­va­sion. Das erste entwirft eine existenzielle Bedrohung durch die hegemonialen Pläne des Westen, der die Ukraine dafür benutzt, Russland zu unterwerfen. In diesem Narrativ spielt der Begriff „Weltmehrheit“ eine zentrale Rolle. Gemeint ist damit der Globale Süden, den Moskau mit einer antiimperialistischen Rhetorik, die fast schon sowjetisch anmutet, für ein antiwestliches Lager gewinnen will.

Dieses Konzept stammt von kreml-treuen Intellektuellen und Politikwissenschaftlern wie Sergei Karaganow, dem Leiter des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik, und wurde von Putins Außenminister Sergei Lawrow weitgehend übernommen.

In mehreren programmatischen Texten, die 2023 veröffentlicht wurden, beruft sich Lawrow auf die Interessen der „Weltmehrheit, die 85 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht“. Diese seien durch eine „neokoloniale Politik“ einer „kleinen Gruppe von westlichen Staaten“ bedroht, „die von den USA angeführt werden“.4 Dasselbe Thema wurde mehrfach auf Konferenzen des Waldai-Klubs (des russischen Pendants zu Davos) erörtert, zu denen auch Staats- und Regierungschefs asia­tischer und afrikanischer Staaten eingeladen waren.

Nach dem zweiten Narrativ ist Russland eine Art Arche Noah für die traditionellen und christlichen Werte der europäischen Zivilisation, die von den Regierungen Europas und Nordamerikas verraten wurden.

Diese Rettungsdoktrin wurde von rechtsextremen Intellektuellen wie Alexander Dugin entwickelt, der im Februar 2024 auf einem „Multipolaritäts­forum“ in Moskau über die „zwei Gesichter“ des Westens dozierte. Dugin sieht eine Konfrontation zwischen dem „globalistischen Westen der liberalen Eliten“ und dem „traditionellen Westen“, der gegen die „Tyrannei der Eliten“ aufbegehre. Der Sieg der Traditionalisten bedeute nicht etwa eine Niederlage des Westens, sondern dessen Rückkehr „zu seinen klassischen griechisch-römischen und christlichen Wurzeln“.5 Ganz in diesem Sinne hat der heutige Verteidigungsminister Andrei Beloussow im Juni 2023 (damals noch Vizeministerpräsident) erklärt, Russland könne noch zum „Rettungsring“ für die konservativen Eliten Europas und Amerikas werden.6

Diese messianische Weltsicht wird auch von rechtsextremen Intellektuellen und Journalisten um den Oligarchen Konstantin Malofejew verbreitet, der den Fernsehsender Zargrad betreibt und ein Netzwerk ultrakonservativer Thinktanks finanziert. Wie eng die Beziehungen Malofejews zu Regierungskreisen sind, zeigt die Teilnahme von Außenminister Lawrow an seinem „Forum der Zukunft – 2050“ im vergangenen Juni.

Bis vor Kurzem bestand zwischen beiden Narrativen eine Art friedlicher Koexistenz. Kremltreuen Politikern oder Intellektuellen stand es frei, sich der antiimperialistischen oder der messianisch-konservativen Argumentation zu bedienen. Aber zuletzt hat die Aussicht auf einen Deal zwischen Putin und Trump die nuancierten Differenzen zu einer harten Demarkationslinie verfestigt.

Als Sprecher der messianischen Fraktion betont Alexander Dugin die Gemeinsamkeiten zwischen dem russischen Präsidenten und einem Teil der Trump-Anhänger und verkauft zugleich die Verständigung mit Washington als geopolitischen Pragmatismus. Gegenüber China formuliert Dugin dagegen eine deutliche Kritik: Im Projekt der neuen Seidenstraße und Xi Jinpings Konzept einer „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ vermutet er „eine andere Version der Globalisierung, die nicht mehr amerika-, sondern chinazentriert“ sei.7

Laut Dugin würde eine Übereinkunft mit den USA für Russland eine größere Unabhängigkeit im Rahmen einer „Weltordnung der Großmächte“ gewährleisten. Allerdings hat der Deal mit den USA, von dem Dugin und Ma­lo­fe­jew träumen, eine unabdingbare Voraussetzung: Er darf keine Konzessionen in Sachen Ukraine beinhalten: „Trump muss verstehen, dass die Ukrai­ne entweder uns gehören oder nicht mehr existieren wird“, hält Dugin fest. „Wenn uns Trump die Ukraine überlässt (wozu braucht er sie?), könnte er Kanada und Grönland annektieren. Und wir würden ihm sogar seltene Erden liefern …“8

Die Perspektive einer Annäherung Russlands an die USA – ob mit oder ohne Ukraine-Kompromiss – macht allerdings einige Geschäftsleute und Funktionäre nervös, die in die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Peking und den anderen Brics-Staaten involviert sind. Diese Fraktion hat einiges zu verlieren: Heute entfällt die Hälfte des russischen Außenhandels auf die Brics-Länder, während das Handelsvolumen mit der EU nur noch etwa ein Viertel des Vorkriegsniveaus beträgt (67,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024).

Vor 2022 machte das China-Geschäft nur 15 bis 20 Prozent des russischen Außenhandels aus. 2024 war dieser Anteil auf 34 Prozent gestiegen (auf insgesamt 236,3 Milliarden US-Dollar).9 Zu den wichtigsten Säulen des China-Geschäfts zählen der militärisch-industrielle Komplex, die Automobil- und die Logistikbranche sowie die Telekommunikation.

Die neue Ostorientierung hat auch größere Investitionsprojekte in der Nahrungsmittelindustrie und im Energiesektor angestoßen. Die größten China-Exporteure sind dabei die russischen Energie-Oligopole: Rosneft (Erdöl), Gazprom und Rosatom (Atomenergie).

Kein Wunder also, dass die Aussicht auf ein Ende der Sanktionen und die mögliche Rückkehr westlicher Unternehmen auf den russischen Markt gewisse Kreise der russischen Wirtschaftselite in Unruhe versetzt. Das gilt insbesondere für die besonders Putin-loyalen „Biznessmen“, denen westliche Aktiva in Höhe von mehreren Milliarden US-Dollar überlassen wurden.10

Diese Leute befürchten, dass sie bei einem anhaltenden Tauwetter in den Beziehungen zu den USA einen Teil dieser Vermögenswerte an die früheren Eigentümern zurückgeben müssen. Um sie zu beruhigen, hat Putin Ende Mai öffentlich versichert, der Staat werde „nicht hinnehmen, dass jemand Druck auf die nationalen Unternehmen ausübt“.

In derselben Rede rief der russische Präsident dazu auf, IT-Dienstleister wie Microsoft oder Zoom zu „ersticken“, da sie gegen Russland agieren würden. Solch antiimperialistische Narrative, die tief in der russischen Kultur verwurzelt sind, eignen sich ideal zur Artikulation von Bedenken, die in Wahrheit wirtschaftlichen Interessen entspringen.

Der Meinungsstreit zwischen den beiden ideologischen Lagern hat sich in letzter Zeit, zumindest auf rhetorischer Ebene, deutlich zugespitzt. Ein Beispiel: Dem Schriftsteller Sachar Prile­pin, einem Duma-Abgeordneten der kremlnahen Partei Gerechtes Russland, platzte ob der Lobeshymnen auf Trump der Kragen: „Ihr könnt diesen Planeten nicht zu zweit lenken. Ihr Verräter und Gangster, ihr lasst den Globalen Süden binnen Sekunden fallen, sobald euch Trump die Wangen tätschelt – verdammte Stiefellecker!“

Ganz ähnlich empfinden es einflussreiche sogenannte Militärblogger, von denen viele in einer Annäherung zwischen Moskau und Washington nicht nur eine Gefahr für die Souveränität des Landes sehen. Einige vermuten dahinter überdies die Absicht, Russland wieder zu einem vom Westen abhängigen Rohstofflieferanten zu degradieren.

Im selben Geist, wenn auch in kühlerem Ton, bezeichnet Fedor Lukjanow, Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, eine Zusammenarbeit mit dem Weißen Haus zulasten der Beziehungen zum Globalen Süden als „strategischen Fehler“. Sollte Russland auf die Avancen Trumps eingehen und sich gleichzeitig von seinen nichtwestlichen Partnern abwenden, würde sich die Wahrnehmung verfestigen, dass man die Anerkennung vonseiten des Westens über alles stelle.

Mit einem klaren Sieg über die Ukrai­ne würde Russland dagegen seinen „Rang als Großmacht in einer multipolaren Welt“ untermauern. Und dann warnt Lukjanow: „Falls Russland den historischen Moment nicht nutzen kann, weil es in die Falle neuer Vereinbarungen mit dem Westen tappt, könnte es seine strategischen Eroberungen wieder einbüßen.“

Seit Beginn des Kriegs ist die Moskauer Regierung bemüht, jedes Anzeichen von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gesellschaft und besonders innerhalb der herrschenden Klasse zu vertuschen. Doch die Avancen aus Washington haben die Illusion der Einigkeit schlagartig zerstört. Eine Konfrontation zwischen dem proamerikanischen und dem prochinesischen Lager scheint durchaus möglich, wenngleich sie bisher nur verbal stattfindet.

1 „Trade in Goods (by partner country)“ 2011–2025, Datenbank des Internationalen Währungsfonds.

2 „Les investissements directs étrangers vers et depuis la Russie“, französisches Finanzministerium, Januar 2019.

3 Meduza, 9. März 2023 (auf Russisch).

4 „Der Respekt der Prinzipien der UN-Charta in ihrer Gesamtheit und in ihrer Wechselbeziehung garantiert weltweit den Frieden und die Stabilität“ (auf Russisch), russisches Außenministerium, 10. Oktober 2023.

5 Die Rede ist auf Dugins Telegram-Kanal „AGDchan“ verfügbar (auf Russisch).

6 „Beloussow erklärt, er sehe für Russland die Rolle des Bewahrers der Werte des Westens“ (auf Russisch), rbc.ru, 13. Juni 2023.

7 „Trump entwickelt eine Weltordnung der Großmächte“ (auf Russisch), zavtra.ru, 18. März 2025.

8 „AGDchan“ Telegram-Kanal, 12. Mai 2025.

9 Siehe Anmerkung 1.

10 Diese Vermögenswerte waren zunächst der Agentur zur Verwaltung von Staatseigentum (Rosimuschtschestwo) überschrieben worden. Siehe dazu: „Renationaliser les élites russes. Poutine, la guerre et la nouvelle allégeance des oligarques“, Le Grand Continent, 10. April 2025.

Aus dem Französischen von Heike Maillard

Boris Kagarlitzki ist Soziologe und Autor des Buchs „The Long Retreat: Stragegies to Reverse the Decline of the Left“, London (Pluto Press) 2024.

Alexej Sachnin ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2025, von Boris Kagarlitzki und Alexej Sachnin