10.07.2025

Die alten Geister sind zurück

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Die alten Geister sind zurück

Der französische Justizminister will im Überseedépartement Guayana ein neues Gefängnis bauen

von Samuel Tracol

Denkmal für die Opfer der Strafkolonie MICHAEL ­RUNKEL/picture alliance/imagebroker
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Als am 18. Mai die neue Uferstraße in Saint-Laurent-du-Maroni, Französisch-Guayana, eingeweiht wurde, tanzten wie immer zahlreiche motorisierte Einbäume auf dem schlammigen Wasser des Maroniflusses.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand jedoch nicht die neue Uferstraße, sondern der anwesende Justizminister Frankreichs, Gérald Darmanin. Einen Tag zuvor hatte er im Journal du Di­manche den Bau einer neuen Haftanstalt mit 500 Plätzen angekündigt – inklusive Hochsicherheitstrakt für 60 „Nar­co­ban­di­ten“ und einem Seitenflügel für 15 „Radikalisierte“. Kostenpunkt: 400 Millionen Euro.

Der Plan, in Frankreich verurteilte Straftäter nach Südamerika zu verfrachten, kommt in Guayana gar nicht gut an. Das heutige Überseedépartement diente der ehemaligen Kolonialmacht rund 150 Jahre lang als Straflager für insgesamt 70 000 Häftlinge, die man in die Verbannung schickte.

Unter lautem Beifall der Umstehenden las Bürgermeisterin Sophie Charles dem Justizminister an diesem Tag deshalb die Leviten: „Dieses Kapitel der Geschichte ist vorbei, und ich hoffe, es wird nicht wiederkommen.“

Seit den islamistischen Anschlägen von 2015 fordern nicht mehr nur rechte Randgruppen in Frankreich, die Straflager in Übersee zu reaktivieren. Am 8. April 2025, im Wahlkampf um den Vorsitz bei den Républicains, schlug etwa der frühere Bildungsminister Laurent Wauquiez vor, man solle doch Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis nach Saint-Pierre und Miquelon abschieben – also möglichst weit weg (das französische Überseegebiet liegt vor der Küste Neufundlands).

Das brachte ihm zwar viel Kritik ein, war aber nicht der Grund, warum Innenminister Bruno Retailleau im Mai das Rennen um den Parteivorsitz gegen Wauquiez gewann. Denn Retailleau bedient sich rhetorisch bei den RN-Propagandisten und sein politisches Vorbild ist der Hardliner Nicholas Sarkozy, der einst die Banlieues „kärchern“ wollte.

Darmanin, der sich nicht gern mit Erklärungen aufhält, hat sein Gefängnisprojekt bereits budgetiert – ­ohne Rücksprache mit dem betroffenen Über­see­département, weswegen sich Guayanas politische Vertreter in Paris in seltener Einigkeit gegen ihn wenden.

So verfasste Jean-Victor Castor, Abgeordneter der Unabhängigkeitspartei Mouvement de décolonisation et d’émancipation sociale (MDES) in der französischen Nationalversammlung, prompt am 18. Mai einen offenen Brief an Regierungschef François Bayrou. Darin prangerte er die „verächtliche, koloniale und autoritäre Tradition“ an, Guayana wie eine „Gefängnisdeponie“ zu behandeln. Selbst Georges Patient, Vertreter Guayanas im französischen Senat und eigentlich ein Unterstützer der Pariser Regierung, zeigte sich befremdet darüber, wie das Justizministerium seinen Plan kommuniziert hat.1

In Guayana bestehe „die Welt aus drei Dingen: Himmel, Erde und Straflager“, zitierte 1923 der Journalist Albert Londres in seiner berühmten Reportage „Au bagne“ den Anarchisten Paul Roussenq. Der war 20 Jahre in Guayana inhaftiert, mehr als 10 Jahre davon in einem dunklen Verlies.

Die Geschichte der französischen Strafkolonie in Übersee begann jedoch schon 1792, als die Revolutionsregierung beschloss, politische Gefangene nach Guayana zu verbannen. Zwischen 1795 und 1798 ließ sie mehr als 300 Verurteilte in die Kolonie in Südamerika bringen; über die Hälfte starb innerhalb von nur wenigen Monaten in den sumpfigen Lagern.

Doch erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Übersee-Verbannung nach dem Vorbild der britischen Strafkolonie in Australien formalisiert und auf gewöhnliche Kriminelle, Männer wie Frauen, ausgeweitet, die in Frankreich zur Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Die Häftlinge hatten keine Aussicht auf Rückkehr in ihre alte Heimat und mussten sich nach Ablauf ihrer Strafe in der Kolonie niederlassen. Sie gründeten Familien und wurden Teil einer neuen Gesellschaft von Siedler-Eigentümern.

Zu größeren politisch motivierten Deportationen kam es wieder nach dem blutigen Pariser Arbeiteraufstand vom Juni 1848. Die Justiz verhängte zahllose Todes- und Deportationsurteile; allein 15 000 Menschen wurden nach Algerien verbannt. Auch nach dem Staatsstreich von Präsident Louis-­Napoléon Bonaparte 1851 füllten sich die Gefängnisse mit politischen Gegnern, die nach Algerien und auf die Marquesas-Inseln (Französisch-Polynesien) deportiert wurden.

Bonaparte, der sich am 7. November 1852 zum Kaiser Napoleon III. krönen ließ, schloss außerdem die Hafenzuchthäuser von Brest, Rochefort und Toulon, da die Insassen „die Gesellschaft fortwährend verderben und bedrohen“ würden. Die Zwangsarbeit in Übersee sei hingegen „wirkungsvoller, lehrreicher, weniger teuer und humaner, weil man sie für die fortschreitende französische Kolonisierung nutzt“.2

Im Mai 1852 erreichte der erste Schiffskonvoi mit Gefangenen Guayana. Da die Plantagenwirtschaft zusammenzubrechen drohte, nachdem Frankreich 1848 formell die Sklaverei abgeschafft hatte, mussten die Sträflinge jetzt die Arbeit machen. 1858 erfolgte die Stadtgründung von Saint-Laurent-du-Maroni, die die französische Präsenz auf dem Territorium sichern sollte. 1880 wurde sie zur Strafvollzugsgemeinde (Commune péniten­tiaire speciale) erklärt. Bis 1949 gab es weder eine eigenständige Stadtverwaltung noch freie Wahlen.

Zwischen 1852 und 1867 wurden insgesamt 17 000 Menschen nach Gua­yana deportiert, von denen nur 7000 die Entbehrungen im Straflager überlebten. Das liege nur am Klima, hieß es damals im Kolonialministerium, das 1867 beschloss, vorübergehend nur noch Häftlinge aus den arabischen Kolonien nach Guyana zu deportieren, weil deren „körperliche Konstitution den Wetterverhältnissen in der Kolonie gewachsen“ sei.3

Strafgefangene aus Europa, darunter auch die Aufständischen der Pariser Kommune von 1871, wurden zwischen 1864 und 1887 ausschließlich nach Neukaledonien deportiert – neben über 2000 Sträflingen aus Algerien (siehe den Kasten von Ariane Bonzon auf Seite 16).

Schützenhilfe bekam die Justiz durch die neue Wissenschaft der Kriminologie, die ein vermeintlich „kriminelles Gen“ entdeckt hatte. 1883 reichte Innenminister Pierre Waldeck-Rousseau ein sogenanntes Verbannungsgesetz ein: Rückfällig gewordene Straftäter sollten – unabhängig von der Schwere ihres Vergehens – wegen „Unverbesserlichkeit“ unverzüglich nach Guayana und Neukaledonien deportiert werden.

In den 1890er Jahren erreichte die Strafkolonie von Guayana mit mehr als 7000 Häftlingen ihre maximale Größe; derweil wuchs auch aus dem bürgerlich-konservativen Lager die Kritik an dem Vorgehen der Regierung. So bezeichnete Georges Gayet, der Generalinspekteur der französischen Kolo­nien in Übersee, das Straflager Charvein – etwa 10 Kilometer von Darmanins geplantem Gefängnis entfernt – als „dreifache Hölle“.

Unter unwürdigsten Bedingungen mussten die Gefangenen Schwerstarbeit leisten und landeten bei dem geringsten Zeichen von Widerstand in einer Strafzelle. Der Kolonialbeamte Paul-Marie-Armand Beuverand de La Lo­yère beschrieb diese Zellen in einer Publikation unter Pseudonym als „sehr enge Bunker, wie Gräber, in die etwas Luft dringt“, ein „Vorgeschmack auf den Tod“.4

Zu den Straflagern gehörte auch die sogenannte Teufelsinsel, 13 Kilometer vor der Küste Guayanas gelegen. Einer ihrer berühmtesten Gefangenen war der jüdische Hauptmann und vermeintliche Staatsverräter Alfred Dreyfus, der 1895 in die Verbannung – heute würde man sagen Isolationshaft – geschickt wurde.

Damit er nicht „mit der Außenwelt korrespondieren, Geld erhalten oder Fluchtpläne aushecken“5 konnte, verbrachte er fast zwei Jahre lang eingesperrt in einer Hütte. Dicht um seine Behausung wurde ein zweieinhalb Meter hoher Palisadenzaun errichtet. Auf das Gerücht hin, die Deutschen wollten ihn befreien, wurde die Insel in eine regelrechte Festung verwandelt, mit dreizehn Bewachern, einem Kriegsschiff zur Nachrichtenübermittlung, das vor der Insel kreuzte, und einem eigens errichteten Wehrturm mit Hotchkiss-Kanone.

In Neukaledonien entwickelten sich indes die Dinge anders: 1897 erwirkten die Siedler von Gouverneur Paul Feillet das Ende der Strafkolonie, dessen Stigma von nun an allein auf Guayana lastete. Im Sommer 1923 erschien in mehreren Folgen Albert Londres Reportage „Au bagne“ im Petit Parisien, um die Öffentlichkeit auf die Zustände in Gua­ya­nas Straflagern aufmerksam zu machen.6 Dank der Initiative von Gaston Mon­ner­ville, einem Abgeordneten aus Guayana und Unterstaatssekretär für die Kolonien, wurden die Deportationen dann von der Volksfrontregierung (1936/37) unter Léon Blum eingestellt. Doch die Strafkolonien selbst wurden nicht geschlossen.

Das Vichy-Regime verschärfte sogar noch die sadistische Lagerordnung; die Arbeitszeiten wurden verlängert und die Lebensmittelrationen reduziert. Unter diesen Umständen starb 1942 die Hälfte der Verbannten. Als sich nach der Befreiung die Gefängnisse in Frankreich mit Nazikollaborateuren füllten, erwog das Justizministerium kurz deren Deportation nach Guayana. Nachdem eine Pressekampagne in den USA die Strafkolonien mit den KZs von Buchenwald und Dachau verglichen hatte, verwarf man diese Pläne jedoch.

Die Auflösung der Straflager war un­auf­halt­bar: Am 1. August 1953 verließ der letzte Transport von Sträflingen, die nach Frankreich zurückkehren wollten, Guayana. Aber nun sind die alten Geister wieder erwacht.

Schon seit Mitte der 2000er Jahre ist in Frankreich eine Verdrängung des Sozialstaats zu beobachten, die mit einer Brutalisierung der Ordnungswahrung einhergeht.7 Zwischen 2005 und 2011 wurden unter Nicolas Sarkozy als Innenminister und Staatspräsident allein sechs Gesetze erlassen, die Strafen für Wiederholungstäter verschärften. Seit 2018 hat die Nationalversammlung 18 Antiterrorgesetze verabschiedet.

Für den Zusammenhang zwischen wachsender Armut und Strafverschärfungen sind die Zustände im Überseedépartement Guayana geradezu beispielhaft: Laut dem Nationalen Statistikamt (Insee) leben 53 Prozent der Bevölkerung Guayanas unter der Armutsgrenze; die Inhaftierungsquote ist dreimal so hoch wie in Kontinentalfrankreich. Erst kürzlich hat das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) die Überbelegung und Gewalt in Guayanas einzigem Gefängnis Remire-Montjoly angeprangert.8

Eine neue Haftanstalt sei jedoch keine Lösung, sagte am 28. Mai Davy Ri­mane, der seit 2024 Guayana in der Pariser Nationalversammlung vertritt: „Wir wollen die Gefängnisse nicht füllen, sondern leeren.“

1 Siehe Marius Texier, „Prison de haute sécurité en Guyane: ‚Il ne peut être question de rouvrir Cayenne ou un quelconque bagne‘, alerte le sénateur Georges Patient“, in: Public Sénat, 19. Mai 2025.

2 Zitiert von Louis-José Barbançon in: „L’Archipel des forçats. Histoire du bagne de Nouvelle-Calédonie (1863–1931)“, Villeneuve d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2020.

3 Zitiert von Linda Amiri in „Exil pénal et circulations forcées dans l’Empire colonial français. Le cas particulier du convoi de ‚forçats arabes‘ du 27 juillet 1868 vers la Guyane française“, L’ Année du Maghreb, Nr. 20, Aix-en-Provence 2019.

4 Siehe Paul Mimande (Pseudonym), „Faut-il supprimer la transportation?“, Revue bleue, Paris, 19. Juni 1909.

5 Aus einem Brief des Gefängnisdirektors an den Gouverneur von Guayana, 8. Februar 1895.

6 Albert Londres berühmte Reportage erschien alsbald in Buchform und auch gleich in einer deutschen Übersetzung: „Bagno. Die Hölle der Sträflinge“, aus dem Französischen von Karl Otten, Berlin (E. Laub’sche Verlagsbuchhandlung) 1924.

7 Siehe Loïc Wacquant, „Punir les pauvres. Le nouveau gouvernement de l’insécurité sociale“, Marseille (Agone) 2004.

8 Siehe Le Comité anti-torture du Conseil de l’Europe (CPT) déplore la surpopulation et la violence dans les prisons en Guadeloupe et en Guyane (France), Europarat, 12. März 2025.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Samuel Tracol ist Historiker.

Le Monde diplomatique vom 10.07.2025, von Samuel Tracol