10.07.2025

Zustimmung und Wut

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Zustimmung und Wut

Unter Präsident Javier Milei sinkt in Argentinien die Inflationsrate – aber den Armen geht es nicht besser

von Eva Tapiero

Mittwochs protestieren die Rentner, Buenos Aires im Mai 2025 PAULA ACUNZO/picture alliance/zumapress
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In Buenos Aires bricht die Nacht herein, als sich im Stadtzentrum an der Ecke der Avenidas Corrientes/Medrano lautstark Stimmen erheben. „Nachbar, Nachbarin, bleib nicht gleichgültig!“ Eine Handvoll Leute aus dem Viertel trifft sich hier an diesem südlichen Herbstabend zu einem cacerolazo gegen die Regierung, bei dem die Protestierenden auf Töpfe, Pfannen und andere Küchenutensilien trommeln.

Taxis und Privatautos hupen zur Unterstützung mit, ein paar Fußgänger bleiben stehen und rufen den historischen Slogan der Massenproteste vom Dezember 2001: „Que se vayan todos!“ (Sie sollen alle weg). Damals hatte die Wut über die Wirtschaftskrise und die politische Führung solche Ausmaße erreicht, dass die Regierung zurücktreten musste und Präsident Fernando de la Rúa (aus der Mitte-Partei Radikale Bürgerunion, UCR) im Hubschrauber flüchtete. Die Versammlungen in den Stadtvierteln, die asambleas barriales, waren damals wichtige Vernetzungspunkte für die Proteste.

Seit dem Amtsantritt von Präsident Javier Milei im Dezember 2023 werden wieder jede Woche solche Versammlungen abgehalten. Doch eine aufrührerische Stimmung ist in der argentinischen Hauptstadt nicht zu spüren. Den heutigen Protest hat die Asam­blea von Almagro, einem ruhigen Mittelschichtsviertel, organisiert. Nur rund 20 Menschen nehmen teil. Aufgeben wollen sie dennoch nicht.

Su Clarasó ist Industriezeichnerin. Sie wartet nicht auf die Revolution, sondern möchte vor allem „Gegenmacht organisieren, über Politik sprechen“. Die 40-Jährige ist seit der ersten Versammlung Ende 2023 dabei und hofft, dass es „weitergeht, auch wenn die Linke an die Regierung kommt“. Ihrer Meinung nach hat die „fehlende Politisierung der Bevölkerung“ den Aufstieg der Rechtsextremen in den letzten Jahren befördert und „eine angemessene Antwort verhindert“.

Der Soziologe Emilio Cafassi hat die Nachbarschaftsversammlungen der 2000er Jahre untersucht.1 Solche Orte des Protests seien heute „marginal“, erklärt er im Gespräch. Trotzdem sei „die Existenz solcher bereits bestehender, organisierter Räume grundlegend“, sollten die Massenproteste wieder aufflammen. Doch dafür müsste der Unmut größer sein.

Derzeit genießt Milei noch die aktive oder abwartende Unterstützung großer Teile der Bevölkerung. Umfragen zufolge sind 40 bis 50 Prozent der Ar­gen­ti­nie­r:in­nen mit seinem Vorgehen einverstanden.

Das Bündnis von Unter- und Mittelschichten gegen die katastrophale neoliberale Wirtschaftspolitik und gegen die Oligarchie, das Herz der Bewegung von 2001, hat nicht lange gehalten. Wenn es noch eine Gemeinsamkeit gibt, dann liegt sie in der Zustimmung für einen libertären Präsidenten, der rebellischen Schwung verkörpert – und zwar von rechts. Für den Soziologen Gabriel Vommaro von der Universität San Martín war Mileis Sieg der „2001-Moment der radikalen Rechten, der über institutionelle Kanäle verbreitete wurde“.

Argentinien wurde lange Zeit von Linksperonisten regiert: Von 2003 bis 2007 war Nestor Kirchner Präsident, ihm folgte bis 2015 seine Frau Cristina, danach von 2019 bis 2023 Alberto Fernández. Es gelang ihnen nicht, nachhaltige Antworten auf die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise zu geben. Das und ihr selbstherrlicher Umgang mit der Macht waren die Hauptgründe für ihre Wahlniederlage 2023. Dazu kam Kritik an ihrem Krisenmanagement in der Coronapandemie: Der Skandal um vorgezogene „Impfungen für Privilegierte“, die das Gesundheitsministerium 2021 jenseits des gewöhnlichen Impfschemas Politikern, Gewerkschafterinnen, Ministern, Unternehmerinnen und Prominenten ermöglichte, diskreditierte Fernández zusätzlich.

Fortan galten die „Kirchneristas“ als Teil der etablierten „Kaste“, die Milei seit seinem Eintritt in die Politik im selben Jahr mit Schmähungen überzog; dazu zählte er neben Gewerkschaften und Presse auch Beamte, die er wegen Günstlingswirtschaft und politischer Parteinahme ins Visier nahm. Als Libertärer hält er darüber hinaus den gesamten Staat für ineffizient, unnütz und korrupt.

Nach Ansicht des Publizisten Pablo Stefanoni2 verdankt Milei seinen Wahlerfolg dem alten Motto „Sie sollen alle weg“, nur eben auf reaktionär. Mileis neue Partei konnte „mit einem rechten Anti-Establishment-Diskurs enttäuschte junge Erwachsene auch in den städtischen Unterschichten“ mobilisieren.

Bei seinem Amtsantritt stellte Milei den Kampf gegen die Inflation ins Zentrum seiner Politik, denn unter der letzten peronistischen Regierung war sie ins Unermessliche gestiegen: von 54 Prozent 2019 auf 211 Prozent 2023, bevor sie 2024 auf 118 Prozent zurückging.3

„Die Inflation in Argentinien ist systemisch, aber die aktuelle Spirale begann 2014/15“, erklärt Juliette Dumont vom französisch-argentinischen Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Buenos Aires. Die anhaltende Instabilität habe vor allem die Ärmsten stark getroffen, die ihren Alltag bei steigenden Preisen ständig neu ausrichten mussten. „Es schafft eine Menge Unsicherheit, wenn man nie weiß, was die Dinge kosten, die man unbedingt braucht. Wenn man wenig verdient, ist das sehr anstrengend, körperlich wie mental“, sagt Dumont.

Im Mai 2025 stiegen die Preise dann nur noch um 1,5 Prozent im Vorjahresvergleich – die niedrigste Rate seit fünf Jahren. Die Zentralbank schätzt, dass sie über das gesamte Jahr 28,6 Prozent betragen wird. Dass er den Inflationsdruck bremsen konnte, ist ein großer politischer Sieg für Milei. Auf der anderen Seite stehen seine drastischen Kürzungen des Staatshaushalts,4 die 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 2024 ausmachen und zahlreiche Bereiche der Daseinsvorsorge betreffen: öffentlicher Nahverkehr, Strom, Gas, Wasser, Zugang zu bestimmten Medikamenten.

An den Universitäten gab es einen Ausgabenstopp, Programme zur Verhütung ungewollter Schwangerschaften und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen wurden gestrichen. Dazu kamen Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, etwa in den Bereichen Gesundheit und Justiz; insgesamt wurden 44 000 Stellen abgebaut und die Hälfte der Ministerien ganz abgeschafft.5

Diese Einschnitte schaden der Beliebtheit des Präsidenten kaum, da die Ärmsten bereits sehr stark gelitten haben. „Den Leuten geht es heute nicht besser“, sagt der Soziologe Denis ­Merklen vom Institut für Lateinamerikastudien der Sorbonne Nouvelle. „Aber sie haben für einen Machtwechsel gestimmt und sagen sich jetzt: Wir haben ihm eine Chance gegeben, diesen Preis müssen wir zahlen, warten wir ab, was dabei herauskommt.“

Die Regierung rühmt sich noch eines weiteren Erfolgs: Die Armut ist zurückgegangen, von 53 Prozent im ersten auf 38 Prozent im zweiten Halbjahr 2024.6 Doch diese Zahlen der offiziellen Statistik sind unvollständig. Die Wirtschaftssoziologin Luci Cavallero kritisiert die Methode der Erhebung. „Diese Zahlen sind rein nach Einkommenshöhe berechnet und berücksichtigen die Steigerungen bei Miet- und Energiepreisen nicht“, sagt sie. „Durch Mileis Maßnahmen ist die Armut im ersten Halbjahr 2024 eigentlich um 15 Prozentpunkte gestiegen. Die Zahlen, die im Dezember 2024 veröffentlicht wurden, zeigen dann nur eine – teilweise – Rückkehr zur vorherigen Situation, doch in der Zwischenzeit wurden schwerwiegende soziale Einschnitte vorgenommen.“

Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef Argentinien essen „fast 10 Millionen Kinder in Argentinien aus Geldmangel weniger Fleisch und Milchprodukte als im Vorjahr“; generell können „nahezu die Hälfte aller Haushalte mit Kindern die Grundbedürfnisse an Nahrung, Gesundheit und Bildung nicht mit ihrem Einkommen decken“.7

Die Cacerolazos sind zurück

In dieser Situation ist die allwöchentliche Demonstration für die Sicherstellung der Renten ein weiterer Ort für regelmäßige, organisierte Proteste in der Hauptstadt. Die 65-jährige Carmen, ehemalige Englischlehrerin und Mitglied der Versammlung des Viertels um die Plaza Almagro, ist jeden Mittwoch dabei. „Es berührt mich sehr, zu sehen, dass wir am Anfang nur eine Handvoll Leute waren und die Bewegung jetzt wächst“, sagt sie. Im Lauf der letzten Wochen sind Menschen aus den Nachbarschaftsversammlungen und Gewerkschaften zu den Rentnerdemos gestoßen.

Auch andere mobilisieren sich, wie etwa das Verwaltungs- und Ge­sund­heits­per­so­nal des Garrahan-Hospitals, dem größten Kinderkrankenhaus in Südamerika, das besonders von den Sparmaßnahmen betroffen ist. Die Gewerkschaft CGT hat schon dreimal den Generalstreik ausgerufen und das Land damit teilweise lahmgelegt, zuletzt am 10. April 2025.

Und es wird für die Rechte von Frauen und LGBTIQ demonstriert; auf diesem Feld galt Argentinien lange Zeit als vorbildlich. Als Javier Milei auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar Homosexualität mit Pädokriminalität gleichsetzte, brachte er zusätzlich Menschen gegen sich auf.

Diese Themen würden jedoch von Gewerkschaften und Parteien zu wenig berücksichtigt, beklagt Clarisa Spataro. Sie ist zuständig für Frauen- und Minderheitenrechte bei der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (ATE). „Man sagt immer, Hunger ist das Wichtigste. Aber Feminismus und Umweltschutz haben unmittelbar damit zu tun. Extraktivismus und Herrschaft über Frauen sind fester Bestandteil des hiesigen wirtschaftlichen Ultraliberalismus“, kritisiert Spataro.

Und die Soziologin Luci Cavallero, die bei der feministischen Bewegung „Ni una menos“ (Nicht eine weniger) aktiv ist, kommt zum selben Schluss. „Gewerkschaften und Parteien, die bei der Koordination der Proteste das Sagen haben, kümmern sich kaum um feministische oder LGBTIQ-Gruppen“ – mal abgesehen von der Demonstra­tion zum Internationalen Frauentag am 8. März. „Es gibt einen Widerwillen, unsere Organisationen als politische Akteure zu betrachten.“

Doch es bräuchte das Zusammenwirken aller Protestbewegungen, um der Regierung Angst einzujagen. Die verschärft unter der Ministerin für Na­tio­nale Sicherheit, Patricia Bullrich, ihre repressive Politik. Bei der Demonstration vom 12. März 2025, zu der mehrere Gewerkschaften und Fußball-Fanklubs vor allem aus der Hauptstadt aufgerufen hatten, kam es zu massiver Gewalt durch die Ordnungskräfte. Es gab dutzende Verletzte und über einhundert Verhaftungen.

Seit der Oberste Gerichtshof am 10. Juni das Urteil gegen Cristina Kirchner wegen Korruption im Amt bestätigte – sie steht unter Hausarrest und darf nie wieder für ein politisches Amt kandidieren –, stellen sich für die Ak­ti­vis­t:in­nen neue Fragen. Manche glauben, das geschwächte und zerstrittene peronistische Lager könnte sich um die ehemalige Präsidentin scharen, die sich als Opfer politischer Verfolgung sieht. Die Frage ist, ob die Linksperonisten wieder politischen Einfluss gewinnen können und ob vor den Zwischenwahlen im Herbst eine neue Oppositionsbewegung im Land entstehen kann.

¹ Emilio Cafassi, „Olla a presión: cacerolazos, piquetes y asambleas sobre fuego argentino“, Universidad de Buenos Aires, 2002.

2 Pablo Stefanoni, „Peinar el 2001 a contrapelo: del ‚Argentinazo‘ a la nueva derecha“, in: Nueva Sociedad, Nr. 308, Buenos Aires, November/Dezember 2023.

3 Zahlen laut nationalem Statistikamt (Indec), Mai 2025.

4 Siehe Anne-Dominique Correa, „Präsident Milei und seine tausend Gesetze“, LMd, Februar 2024.

5 „La dotación de personal del sector público nacional: datos a enero 2025“, Centro de economía política argentina (Cepa), 1. März 2025.

6 „Incidencia de la pobreza y la indigencia en 31 aglo­merados urbanos. Segundo semestre de 2024“, Indec, März 2025.

7 „Situación de la niñez y adolescencia. Actualización análisis presupuestario 2024“, Unicef Argentina, Juni 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Eva Tapiero ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 10.07.2025, von Eva Tapiero