Soll und Haben
Warum das deutsche Kaiserreich kein Nationalstaat war von Philipp Ther
Die Beziehungen zwischen den Partnern der erweiterten EU haben sich nicht so harmonisch entwickelt, wie man es erhofft hatte. Das gilt auch und speziell für die deutsch-polnischen Beziehungen, die ohnehin historisch vorbelastet sind. Dabei liegt die Ursache für die immer wiederkehrenden Konflikte paradoxerweise darin, dass Deutschland und Polen lange Zeit eine gemeinsame Geschichte hatten, die jedoch seit dem 18. Jahrhundert von wachsender Ungleichheit und konkurrierenden Nationalismen geprägt war – und natürlich durch den mörderischen Rassismus, der erst vor 60 Jahren besiegt wurde.
Erstaunlich ist dabei, dass die historische Verbundenheit mit Polen der deutschen Öffentlichkeit kaum bewusst ist. Und das, obwohl von 1772 bis 1918 Polen und Deutsche in einem Staat lebten, weil sich Preußen im Zuge der drei Teilungen Polens einen erheblichen Anteil des Nachbarstaates einverleibt hatte. Nur dadurch war Preußen zur europäischen Großmacht aufgestiegen. Und auch die Gründung des Deutschen Reiches von 1871 beruhte auf dem Fortbestand der Teilung Polens. Insofern kann man nur eingeschränkt von einem Nationalstaat sprechen. Dennoch haben fast alle prominenten deutschen Historiker der Nachkriegszeit, etwa Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler, das Kaiserreich als Nationalstaat dargestellt und Polen und andere Minderheiten nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt.
Die deutsche Geschichte bekommt jedoch eine andere Färbung, wenn man Preußen, das wilhelminische Deutschland und noch die Weimarer Republik aus einer polnischen oder einer zentraleuropäischen Perspektive betrachtet. Das Deutsche Reich erscheint dann – seinem Namen entsprechend – viel stärker als ein multinationales Imperium. Deutsch war dieses Reich in seinen östlichen Gebieten wie der Lausitz, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ostpreußen nur bedingt oder auf sehr spezifische Weise. Polnische Einflüsse und Einwanderer prägten aber nicht nur die östlichen Gebiete des Reiches, sondern auch das Ruhrgebiet.
Diese Geschichte wurde in der Nachkriegszeit viel zu wenig beachtet, ja weitgehend unterschlagen – eine indirekte Folge der NS-Zeit und der anschließenden Teilung Europas. Die Historiker, die nach 1945 und vor allem nach 1968 die großen Meistererzählungen schrieben, waren bereits von der ethnisch und kulturell homogenisierten Bundesrepublik geprägt. Sie schrieben die Geschichte Deutschlands als Geschichte der Deutschen, wie es Thomas Nipperdey ausgedrückt hat. Es gab nach 1945 kaum noch Juden, die innerhalb Deutschlands oder der deutschen Geschichte ihren Platz beansprucht hätten. Die Polen und Tschechen waren auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs gerückt; auch die historischen Verbindungen mit Österreich wurden aus Verlegenheit über den Anschluss von 1938 eher beschwiegen. Dieser historiografischen war allerdings eine faktische Exklusion von Minderheiten vorangegangen. Begonnen hatte sie bereits im Kaiserreich, das daher im Zentrum der folgenden Überlegungen steht.
Will man die Geschichte Deutschlands als Geschichte eines Imperiums in den Blick bekommen, empfiehlt sich die Lektüre jüngerer englischsprachiger Studien über die europäischen Empire. Der englische Historiker Dominic Lieven versteht darunter staatliche Gebilde, die über große Gebiete und viele Völker regieren und durch die Anwendung von Macht und eine überwiegend dynastische Legitimation und Tradition zusammengehalten werden.1 Diese Definition trifft auch auf das Deutsche Reich von 1871 mit seinem größten Einzelstaat Preußen zu. Dieses Reich erstreckte sich über ein weites Gebiet, beherrschte eine große Anzahl von Polen, national noch nicht festgelegte slawofone Bevölkerungsgruppen und etliche weitere Minderheiten. Wenn man diese einbezieht, lag der Anteil der Menschen an der Bevölkerung Preußens, die man nicht ohne weiteres als deutsch betrachten kann, bei 20 Prozent und in einigen östlichen Gebieten noch weit höher. Es ist daher sinnvoll, von einem „preußisch-deutschen Imperium“ (oder Empire) zu sprechen
Neben den Empire studies, die überwiegend von politisch konservativen Historikern betrieben werden, bieten auch die postcolonial studies, die eher von „links“ inspiriert sind, interessante Anstöße. Sie betonen vor allem die kulturelle Prägung Deutschlands durch die ehemaligen Kolonien. Ihre Themen reichen vom Sarotti-Mohr bis zum Einfluss kolonialen Denkens auf den Rassismus in der deutschen Gesetzgebung. Das Problem dieser Forschungsrichtung ist jedoch, dass sie bislang nur die überseeischen Kolonien betrachtet. Diese Schwäche teilt sie allerdings mit der deutschen Literatur über den Imperialismus: Auch Hans-Ulrich Wehler und Wolfgang Mommsen konzentrierten sich in ihren großen Studien aus den 1970er-Jahren auf den Zeitraum 1884 bis 1914, als das Deutsche Reich Kolonien in Afrika und Asien besaß.2 Weit längeren Bestand – und nachhaltigere Folgen – hatte dagegen das kontinentale Imperium Preußens und Deutschlands, konkret die Herrschaft über Polen und andere östliche Gebiete.
1772 legitimierte der Preußenkönig Friedrich II. die präzedenzlose Teilung eines traditionsreichen Königreiches auch mit der Unfähigkeit der Polen, sich selbst zu regieren. Dieses Argument mangelnder Fähigkeit zur Staatsbildung wurde im 19. Jahrhundert mit einer angeblichen Mission der Deutschen als Kulturträger im Osten Europas gekoppelt. Polen wehrte sich gegen die Teilungen und die Fremdherrschaft auch dadurch, dass 1791 die erste Verfassung Europas beschlossen wurde, die das Land zusammenhalten und reformieren sollte. Im Gegensatz zum revolutionären Frankreich unterlag Polen jedoch seinen Anliegerstaaten, den konservativen Großmächten, die militärisch gegen die Freiheitsbewegung intervenierten und das Land 1795 endgültig unter sich aufteilten. Weitere Aufstände scheiterten 1830/31 und 1863. Erst 1918, nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches und der Niederlage des Deutschen Reiches, konnte sich Polen von der Fremdherrschaft befreien.
Deutsche Geschichte ist fast von Beginn an zugleich Kolonialgeschichte – wenn auch in einem Sinne, der sich an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Colon“ anlehnt. Seit dem Hochmittelalter ließen sich deutschsprachige Siedler östlich der Saale und der Elbe nieder und erweiterten ihren Einfluss rasch auf den Ostseeraum, die Randgebiete des Böhmischen Beckens und weiter nach Südosten. Diese Siedlungsbewegung ebbte im Spätmittelalter ab, setzte sich aber abgeschwächt in der Frühen Neuzeit fort und wurde in Preußen insbesondere unter Friedrich II. gefördert. Jede historische Sprachenkarte Europas macht die Tragweite dieser „Ostsiedlung“ sichtbar: Die gesamte östliche Hälfte des Kontinents war von deutschen Sprachinseln durchsetzt, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg untergingen.
Es gibt allerdings gravierende Unterschiede zwischen der mittelalterlichen Kolonisation und dem modernen Kolonialismus. Die früheren Kolonisten hatten ein überwiegend friedliches Verhältnis zu den Ländern und ihren Bewohnern, in denen sie sich ansiedelten. Sie unterhielten keine engen Verbindungen zu einer fremden und zentral gesteuerten Staatsmacht, und sie kannten noch keinen ideologisch fundierten Rassismus. Auch assimilierten sich die Siedler sehr häufig an ihre Umgebung; von einer nationalen Konfrontation konnte damals also noch nicht die Rede sein. Generell ist festzuhalten, dass der vermeintlich „deutsche Osten“, der für deutsche Konservative bis heute ein Faszinosum darstellt, vor allem auf dem Lande und in katholischen Gegenden ein sprachlich und kulturell hybrides Gebilde war. Man kann daher genauso gut von einem slawischen oder polnischen Westen sprechen.
Obwohl die Unterschiede zwischen der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Kolonisierung und dem modernen Imperialismus und Kolonialismus unübersehbar sind, wurden diese seit der Mitte des 19. Jahrhunderts konsequent verwischt. In der Publizistik, in der Literatur, aber auch in der Geschichtswissenschaft warf man die mittelalterliche „Ostsiedlung“ und die preußische Herrschaft über das polnische Teilungsgebiet in einen Topf. Gustav Freytag, Heinrich von Treitschke, Max Weber und die Öffentlichkeit ganz allgemein sahen die Deutschen in der Rolle des „Kulturträgers“ gegenüber den Polen und den Slawen insgesamt. Diese historische Wahrnehmung verdichtete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Ideologie, die das Selbstverständnis der Deutschen entscheidend prägte. Man sah die „Ostsiedlung“ und die deutsche Herrschaft über Ostmitteleuropa als „kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes“ – so einer der vielen Buchtitel zum Thema, die in der Weimarer Republik erschienen.3 Das Autostereotyp, wonach erst die Deutschen dem Osten Europas die abendländische Kultur und das Christentum gebracht haben, blieb bis in die Nachkriegszeit wirksam. Im Kalten Krieg erhielt es durch die Gegenüberstellung eines christlich-demokratischen Westens mit dem kommunistischen Osten neue Nahrung. In der Bundesrepublik wurde es durch die „Ostforschung“ konserviert, die auch das Fundament für die Politik der Vertriebenenverbände lieferte.4 Erst nach der Wende von 1989 wurden diese Ideologien im Verhältnis zu den östlichen Nachbarn der Deutschen allmählich hinfällig. Man kann also erst seit kurzem von einem wirklich „postkolonialen Verhältnis“ der deutschen Eliten zu ihren östlichen Nachbarn sprechen.
Die These der Kontinuität zwischen der mittelalterlichen Kolonisation und der imperialen Herrschaft Preußen-Deutschlands in der Neuzeit erzeugte in Polen starke Gegenreaktionen. Die polnische Öffentlichkeit unterstellte den Deutschen einen kontinuierlichen „Drang nach Osten“ und nahm die eigene Geschichte als einen jahrhundertelangen Abwehrkampf wahr. Auch in Polen wurde also nicht zwischen der mittelalterlichen Siedlungsbewegung, der territorialen Expansionspolitik Friedrichs II. und dem modernen preußisch-deutschen Imperialismus unterschieden. Vor allem die Schlacht bei Grunwald bzw. Tannenberg 1410, also der Sieg der verbündeten Polen und Litauer über die Ordensritter, wurde zum nationalen Großereignis stilisiert und in unzähligen Büchern, Theaterstücken und Denkmälern gewürdigt. Friedrich II., der aus deutscher Sicht durch seine Rolle beim Aufstieg Preußens den Beinamen „der Große“ verdiente, war in Polen der Inbegriff eines rücksichtlosen Gewaltherrschers und Germanisierers. Die Kommunisten pflegten dieses Erbe in der Nachkriegszeit, um die Angst vor den Deutschen zu schüren und damit Polens Bindung an die Sowjetunion zu festigen.
Auch die Bundesrepublik wird subkutan von diesem imperialen Erbe geprägt. Die verbreiteten Vorurteile gegen Polen belegen, wie sehr die ideologischen Inhalte der Teilungspropaganda bis heute fortwirken. Sämtliche aktuellen Stereotype, von der polnischen Wirtschaft über die „Billigkonkurrenz“ bis zur drohenden Einwanderungsflut, haben ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert oder noch früher – in der Legitimation der preußischen Unterdrückungspolitik durch die angebliche Rückständigkeit und Kulturlosigkeit der Polen.
Unter dem Einfluss der hegelianischen Lehren sprach man den Polen die Fähigkeit nicht nur zu Staatsbildung, sondern generell zu einer historischen Existenz als Nation ab. Gerade wegen dieser Unterdrückung genossen die Polen im Vormärz innerhalb der aufkommenden deutschen Nationalbewegung große Sympathien. Das liberale Bürgertum beobachtete ihren Freiheitskampf mit ebenso großer Aufmerksamkeit wie den der Griechen und schickte Solidaritätsadressen. Nach dem Aufstand von 1831 wurden viele polnische Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen.
Doch mit der Revolution von 1848 wandelte sich das Bündnis der beiden Nationalbewegungen in ein Konkurrenzverhältnis. In der Paulskirche bestand die deutsche Nationalversammlung nach langer Debatte auf der Eingliederung der polnischen Gebiete in das künftige Deutschland.5 Sie begründete dies mit nationalen Machtinteressen und verstieß damit nicht nur gegen ihre demokratischen Prinzipien, sondern besiegelte damit auch ihre strukturelle Abhängigkeit von Preußen. Die imperiale Herrschaft über Posen war nur mit Hilfe der Staatsgewalt aufrechtzuerhalten. Damit war der Paradigmenwechsel der nationalen Bestrebungen eingeleitet. Aus einer demokratischen und subversiven wurde eine konservative und imperiale Bewegung.
1863 brach im russischen Teilungsgebiet ein neuer Aufstand aus. Daraufhin suchte Bismarck, inzwischen preußischer Ministerpräsident, den Schulterschluss mit dem Zarenreich. 1866 wurde Posen gegen den Willen der Polen in den Norddeutschen Bund eingegliedert, wurde also erstmals territorialer Bestandteil eines deutschen Bundesstaates. Nach der Reichsgründung von 1871 folgten alsbald massive Unterdrückungsmaßnahmen. Der Kulturkampf – formell ein Konflikt zwischen Staat und katholischer Kirche – hatte eine klar antipolnische Stoßrichtung. Die Regierung zog die Schulaufsicht an sich und verbot das Polnische als Unterrichtssprache. Bezeichnend ist, dass sämtliche gegen die polnische Kultur und Sprache gerichteten Maßnahmen bis 1918 in Kraft blieben, während viele andere seit Mitte der 1880er-Jahre zurückgenommen oder abgemildert wurden. Es folgten einschränkende Vorschriften zum Gebrauch des Polnischen als Geschäftssprache, gegen die Versammlungsfreiheit, das Assoziationsrecht und die Beschäftigung im Staatsdienst. Die Polen wurden damit zu Bürgern zweiter Klasse.
1886 wurde das „Reichansiedlungsgesetz“ beschlossen, das die Ansiedlung ethnisch deutscher Bevölkerung im polnischen Teilungsgebiet förderte, um die Polen selbst dort in den Status einer Minderheit zu drücken. 1908 erließ die Regierung ein Gesetz zur Enteignung polnischer Landbesitzer, was einen klaren Verstoß gegen die Reichsverfassung darstellte. Mit dieser Ansiedlungspolitik begann eine rücksichtslose Bevölkerungspolitik, die ihren traurigen Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg erreichte.
Das 1918/19 in Versailles wiederbegründete Polen hatte sich bemüht, die Ansiedler aus der Zeit des Kaiserreichs wieder loszuwerden. Damals mussten mehrere hunderttausend Kolonisten und preußische Beamte das Land mehr oder weniger freiwillig verlassen. Die Nationalsozialisten drehten 1939 den Spieß wieder um und vertrieben gewaltsam eine Million polnischer Staatsbürger aus dem „Warthegau“, ehe nach 1945 die meisten Deutschen endgültig aus dem Westen Polens vertrieben wurden. Auch dieses düstere Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte reicht noch in die Gegenwart hinein, weil die Vertriebenenverbände heute von Polen eine Entschädigung für das im Osten verlorene Eigentum fordern.
In der Bismarck-Ära nahm die imperiale Herrschaft zunehmend koloniale Züge an. Polen wurden Schritt um Schritt von der Mitwirkung an Staat und Gesellschaft ausgeschlossen – unabhängig davon, ob sie sich zu ihrer Nationalität bekannten oder nicht. Noch wichtiger für die Kennzeichnung der preußisch-deutschen Herrschaft als Kolonialismus ist die mentale Ebene6 und hier vor allem die Konstruktion kultureller Fremdheit: Die Polen wurden als ein primitives Volk hingestellt, dem eigentlich nichts Besseres widerfahren konnte als die preußisch-deutsche Herrschaft. Wie schon die damaligen Sozialdemokraten erkannten, litten die Deutschen jedoch kaum weniger unter diesem Imperium als die Polen: Zahlreiche Reformen im Kaiserreich wurden mit Blick auf die aufsässigen Polen blockiert.
Ein Schlüsseldokument für den Übergang von einem traditionell imperialen zu einem kolonialen Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist der 1855 erschienene Roman „Soll und Haben“ von Gustav Freytag.7 Er schildert die Lebensgeschichte des Anton Wohlfahrt, der sich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zum Teilhaber einer großen Handelsfirma emporarbeitet. Der Roman beginnt in Schlesien, doch bald schickt Freytag den Leser mit seinem deutschen Helden auf eine abenteuerliche Reise nach Galizien, wo Polen als ein in Anarchie, Schmutz und Armut versunkenes Land vorgeführt wird.
Danach verlagert sich die Handlung ins preußische Teilungsgebiet von Polen. Hier verteidigt Freytags Held eine deutsche „Kolonie“ mit militärischen Aktionen, die ihn zum vollen Charakter reifen lassen: „Welches Geschäft auch mich, den Einzelnen, hierher geführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächeren Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben.“8
Diese rassistische Unterscheidung war gegenüber der Teilungspropaganda im Vormärz neu und zeigt, dass die Polen nun mit allen Mitteln zu Fremden heruntergestuft wurden. Weil sie in den Augen Freytags nicht nur fremd, sondern auch minderwertig waren, sah er die Deutschen im Recht und in der Pflicht, über Polen zu herrschen. Neben polnischen Adligen fungieren in dem Roman vor allem betrügerische Juden als Gegenspieler der ehrlichen, protestantischen und bürgerlichen Deutschen. Dabei setzt Freytag ein infames Mittel ein. Er lässt die Juden Deutsch sprechen, konstruiert ihre Sätze aber auf der Basis einer polnischen Syntax, die ihm aufgrund seiner Herkunft aus dem oberschlesischen Kreuzburg vertraut war. Die deutschen Juden, die in Breslau, einem wichtigen Handlungsort des Romans, stark assimiliert waren, wurden auf diese Weise „verostet“.
Die Wirkung des Romans war so durchschlagend wie anhaltend: „Soll und Haben“ war im Kaiserreich der absolute Bestseller, wurde bis in die Weimarer Zeit hinein in neuen Auflagen gedruckt und gehörte noch in der frühen Bundesrepublik zum Inventar bürgerlicher Haushalte. Zudem wurde das Buch zum Prototyp für das Genre der „Ostmarkenliteratur“, die in vielen Romanen die Kultur stiftende Rolle der Deutschen glorifizierte. Die rassistische Abgrenzung von den Polen prägte auch Max Weber. Der Soziologe erklärte in seiner Freiburger Antrittsvorlesung, dass „die Polen die Deutschen im Osten des Reiches deshalb verdrängten, weil sie als Rasse mit schlechteren Bedingungen leben könnten und zur Not das Gras vom Boden essen“.9
In der Konstruktion von Fremdheit liegt eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen dem kontinentalen und dem maritimen Kolonialismus des Kaiserreichs. Der Roman „Soll und Haben“ zeigt, dass koloniale Attitüden bereits voll entwickelt waren, ehe das Deutsche Reich seine ersten Territorien in Übersee erwarb. Im Falle Freytag gibt es sogar einen biografischen Zusammenhang. Nachdem sich der Schriftsteller in jungen Jahren stark mit Polen befasst hatte, wurde er später zu einem Vorkämpfer des deutschen Kolonialvereins, der ideologisch und personell eng mit dem Alldeutschen Verband und dem Deutschen Ostmarkenverein verbunden war.
Allerdings gab es zwischen dem kontinentalen und dem maritimen Kolonialismus einen entscheidenden Unterschied. Die Trägerschichten des deutschen Staates hielten – wenn auch mit schwindender Hoffnung – an der Idee fest, dass sich ein Teil der Polen, vor allem die Mischbevölkerung, integrieren und assimilieren lasse. Im Gegensatz dazu galt in den deutschen Kolonien in Afrika ein striktes Verbot von Mischehen. Zudem wurden die Polen gerade wegen des Scheiterns der Germanisierung als Gegner ernst genommen. Entgegen ihrer Ideologie von der Rückständigkeit der Polen fürchtete die Regierung einen weiteren Aufstand.
Trotz der ideologischen Offensive der Alldeutschen kam die Germanisierung des „deutschen Ostens“ jedoch ins Stocken. Die Polen reagierten auf ihre Diskriminierung, indem sie eine gegen den preußisch-deutschen Staat gerichtete Gesellschaft aufbauten. Nach den gescheiterten Aufständen setzten sie auf das Konzept der „organischen Arbeit“ (praca organiczna), das die Schaffung einer modernen Nation durch Arbeit, Bildung und die Mobilisierung der Unterschichten anstrebte. Sie übernahmen also Werte, die gerade die Deutschen für sich reklamierten, und stellten damit deren Anspruch auf kulturelle Höherwertigkeit in Frage.
Preußische Polen und polnische Preußen
Damit gelang es diesen preußischen Polen, sich gegenüber einem übermächtigen Staat zu behaupten, auch wenn ihnen dies in Polen bis heute einen zweifelhaften Ruf als „polnische Preußen“ verschafft. Auf dem Feld der Literatur erwiesen sie sich den vermeintlichen Kulturträger häufig überlegen. Das gilt etwa für Henryk Sienkiewicz, der in seinem Roman „Die Kreuzritter“ („Krzyzacy“) den militaristischen Deutschen zivile Polen gegenüberstellte. Für sein Werk – literarisch weit bedeutsamer als das von Freytag – erhielt Sienkiewicz 1905 den Literaturnobelpreis.
In Oberschlesien und Masuren gelang der polnischen Nationalbewegung im Kaiserreich allerdings sogar eine gewisse Expansion. In diesen und anderen gemischt besiedelten Gebieten, die bereits lange vor der Teilung nicht mehr zu Polen gehört hatten, mobilisierte sie einen Teil der slawofonen Bevölkerung. Dagegen blieb die deutsche Nationalbewegung im Osten Preußens erstaunlich schwach, vor allem dort, wo die Katholiken in der Mehrheit waren. Dies lag an der zunehmend imperialen Ausprägung der deutschen Nationalbewegung. Für das „Deutschtum“ setzten sich vorwiegend Angehörige des protestantischen Klerus und des Staatsapparats sowie ein Teil des städtischen Bürgertums ein. Dagegen blieb die Landbevölkerung, die sich häufig in Mischdialekten verständigte und nur über sozialen Aufstieg Zugang zum Bürgertum fand, auf Distanz zu „den Deutschen“.
Der Kulturkampf kreierte hier eine neue Frontstellung, nicht nur zwischen oben und unten, sondern auch zwischen Katholiken und Protestanten. Insofern rächte sich, dass sich der nationale Code der Deutschen in Preußen auf eine bürgerliche und protestantische Prägung verengt hatte, der Freytag in seinem Roman Ausdruck gab. Wie wenig sich ein deutsches Nationalbewusstsein in einigen Regionen des Kaiserreiches verankert hatte, zeigte sich nach dem Ersten Weltkrieg in Oberschlesien. Dort bildete sich eine mächtige Autonomiebewegung, die zeitweilig die Selbstständigkeit dieses katholisch geprägten Gebiets verlangte. Diese Forderungen scheiterten erst aufgrund der Aufteilung Oberschlesiens in einen polnischen und einen deutschen Teil im Jahr 1921/22. Die Autonomiebewegung wurde vorwiegend vom katholischen Klerus und einfachen Leuten getragen, die man im Kaiserreich wegen ihres harten Akzents und ihrer bäuerlichen Herkunft als „Schlonsaken“ verspottete. Genau diese Menschen konnte die polnische Nationalbewegung ansprechen, weil sie auch soziale Anliegen vertrat.
Im Kaiserreich beflügelten der Zusammenbruch des Zarenreiches und die militärischen Erfolge im Osten im Jahr 1917 noch einmal die kolonialen Fantasien. Der Frieden von Brest, den das revolutionäre Russland mit Deutschland schloss, ermöglichte eine kräftige Expansion auf dem Kontinent. Das deutsch beherrschte „Mitteleuropa“, von dem der liberale Politiker und Publizist Friedrich Naumann geträumt hatte, war für kurze Zeit zur Realität geworden. Allerdings ging der Zugewinn im Osten schon ein Jahr später wieder verloren, weil die eigene Bevölkerung die Kriegslasten nicht mehr tragen konnte und die Westfront zusammenbrach.
In Versailles sprachen die Alliierten Deutschland nicht nur das moralische Recht auf den weiteren Besitz von Kolonien ab, sondern bestätigten auch die Abtretung des preußischen Teilungsgebiets an das wiederbegründete Polen. Im Grunde wurde das Deutsche Reich erst durch diese Schrumpfung zu einem homogenen Nationalstaat. Doch ein Großteil der deutschen Eliten empfand diese „ethnische Konsolidierung“ nicht als Gründung eines republikanischen Nationalstaates, sondern als schmähliche Niederlage des alten Reiches. Auch deshalb gelang es der Weimarer Republik nie, sich einen demokratischen Gründungsmythos zu verschaffen.
Nach 1918 waren Phantomschmerzen über die verlorenen überseeischen Kolonien weit verbreitet. Deren Verlust wog zwar wirtschaftlich nicht schwer, aber viele Menschen empfanden die Begründung, dass Deutschland aufgrund der Kriegsschuld sein Recht auf den Besitz von Kolonien verwirkt habe, als einen demütigenden Ausschluss aus dem Kreis der zivilisierten Nationen Europas. Jahrelang erhielt man Verwaltungsstrukturen aufrecht, die im Falle einer Rückgabe eine sofortige Übernahme der Kolonien ermöglicht hätten. Unter Stresemann verlor die Nostalgie bezüglich der überseeischen Kolonien aber gegenüber dem antipolnischen Revisionismus an Bedeutung. Fortan rückte die Wiedergewinnung des kontinentalen Imperiums in den Mittelpunkt. Diese Ambition des deutschen Nationalismus war am Ende einer der tieferen Gründe für den Erfolg von Adolf Hitler.
Auch wenn sich die Polen letztlich erfolgreich wehrten, blieb unter ihnen das Gefühl der Minderwertigkeit weit verbreitet. Selbst nach der Wiederbegründung Polens 1918 gehörte das Bild des „deutschen Kolonisten“ zu den geläufigsten negativen Stereotypen über Deutsche. Dieses Bild wurde im Zweiten Weltkrieg durch die unvorstellbaren Grausamkeiten der Besatzer auf das schlimmste bestätigt. Die Furcht vor einem neuerlichen deutschen „Drang nach Osten“ wurde von den Kommunisten bewusst gefördert und ist bis heute präsent. Vor allem in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg als Kompensation für seine an die Sowjetunion verlorenen Ostgebiete erhielt, grassierte in der Nachkriegszeit die Angst, dass die Deutschen eines Tages zurückkommen würden. Wie zur Bestätigung stimmten die deutschen Vertriebenenverbände und ihre Vertreter im Bundestag gegen die deutsch-polnischen Verträge von 1990/91. Und in der Diskussion um die EU-Erweiterung wollten sie die Aufnahme Polens und auch Tschechiens davon abhängig machen, dass beide Länder die Vertreibung als Unrecht anerkennen – mit unabsehbaren rechtlichen und finanziellen Folgen. Entsprechend defensiv agierte die polnische Regierung in den Erweiterungsverhandlungen. Auf ihren Wunsch wurde 2003 in die Beschlüsse des EU-Gipfels von Kopenhagen ein Passus aufgenommen, der Ausländern – gemeint waren primär Deutsche – den Erwerb von Land in Polen auf zwölf Jahre hinaus verbietet.
Doch die Hoffnung, die EU-Erweiterung werde Ruhe einkehren lassen, war leider trügerisch. Die Preußische Treuhand, eine mit den Vertriebenenverbänden verbandelte Organisation, betrieb auf verschiedenen Ebenen Entschädigungsklagen gegen Polen, was in Warschau großen Aufruhr auslöste. Die Folge war eine einstimmige Resolution des Parlaments, das Reparationsforderungen an Deutschland ankündigte, falls die Bundesregierung diese Klagen unterstützen sollte. Das wiederum empfand die Bundesregierung als Affront, und viele deutsche Zeitungen stellten sich ratlos die Frage, warum die polnische Seite so übertrieben reagierte.
Das Misstrauen in Polen ist historisch bedingt, und damit ist nicht nur der Besatzungsterror zwischen 1939 und 1945 gemeint, sondern dessen ganze Vorgeschichte im 19. Jahrhundert. Deshalb wird auch hier der Umgang mit der Nazizeit in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Dabei registriert die polnische Öffentlichkeit genau, dass in den deutschen Medien und in der Literatur der Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg seit einigen Jahren immer stärker von Opfernarrativen geprägt ist.
Auch beim Rückblick aus das Ende des Zweiten Weltkrieges anlässlich des 60. Jahrestags ging es in den deutschen Zeitungen und Fernsehsendern vorwiegend um den Untergang, den Bombenkrieg, die Zerstörung der deutschen Städte und die Not nach der Kapitulation. Wer schreibt oder spricht noch von der Taktik der verbrannten Erde beim Rückzug aus der Sowjetunion, den Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Nazis mutwillig verhungern ließen, der sinnlosen Zerstörung Warschaus?
Aber das Problem sitzt tiefer. Nur wenige Deutsche kennen die Grundzüge der polnischen oder der deutsch-polnischen Geschichte. Selbst in grenznahen Gebieten Sachsens und Brandenburgs ist Polnisch an den Schulen ein exotisches Wahlfach. Solche Defizite haben ihre Wurzeln in der langen imperialen Geschichte der Deutschen. Man hatte es eben nie nötig, die Sprache der östlichen Nachbarn zu lernen oder sich gar mit deren Geschichte zu befassen. Dies ist nach wie vor – neben den alten Ängsten auf polnischer Seite – der schwerste Ballast für eine gemeinsame Zukunft im vereinigten Europa.