13.05.2005

Von China nach Indien und zurück

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Von China nach Indien und zurück

Über einen uralten Austausch von Wissen und Glauben von Amartya Sen

Zwischen China und Indien hat es lange Zeit, über 2 000 Jahre hinweg, Beziehungen auf intellektueller Ebene gegeben. Obwohl diese Beziehungen in der Geschichte beider Länder tiefe Wirkungen hinterlassen haben, sind sie heute so gut wie vergessen. Wenn das Thema überhaupt noch Beachtung findet, so vor allem bei Autoren, die sich für Religionsgeschichte interessieren und hier insbesondere für die Geschichte des Buddhismus, der sich bereits im ersten Jahrhundert unserer, der christlichen, Zeitrechnung von Indien in Richtung China auszubreiten begann. Damals wurde der Buddhismus in China zu einer wirkungsmächtigen Kraft, bevor er etwa tausend Jahre später durch den Konfuzianismus und den Taoismus weitgehend verdrängt wurde.

Der Einfluss des Buddhismus war nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt, war nur eine Dimension der viel umfassenderen Geschichte von Verbindungen zwischen China und Indien während des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung. Der Buddhismus strahlte auch auf die Naturwissenschaften und die Mathematik, auf die Literatur und die Linguistik, auf die Architektur, die Medizin und die Musik aus. Die ausführlichen Berichte von Chinesen, die Indien besucht haben – etwa Faxian im 5. und Xuanzang und Yi Jing im 7. Jahrhundert – lassen erkennen, dass sich diese chinesischen Reisenden keineswegs nur für die religiösen Lehren und Praktiken interessierten. Und auch die indischen Gelehrten, die vor allem im 7. und 8. Jahrhundert China bereisten, waren nicht durchweg auf das Religionsstudium spezialisiert, vielmehr gab es unter ihnen auch Astronomen und Mathematiker. Und im 8. Jahrhundert wurde ein indischer Astronom namens Gautama Siddhartha in China zum Präsidenten des staatlichen Ausschusses für Astronomie berufen.

Der Reichtum und die Vielfalt dieser frühen intellektuellen Beziehungen zwischen China und Indien waren über lange Zeit vergessen. Diese Vernachlässigung hat in der Moderne eher noch zugenommen, insofern es üblich wurde, die Weltbevölkerung in scharf abgegrenzte „Kulturen“ aufzuteilen, die vorwiegend nach der dominanten Religion definiert werden. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Theorie Samuel Huntingtons, der die Welt nach strikten Kategorien wie „westliche Kultur“, „islamische Kultur“ und „Hindukultur“ aufteilt. Damit wird die Neigung gefördert, Menschen in erster Linie über ihre Religion zu begreifen, selbst wenn damit ein Großteil ihrer bestimmenden Eigenheiten und Attribute gar nicht erfasst ist.

Eine derart verengte Sicht der Dinge ist in vieler Hinsicht schädlich, auch für das Verständnis nichtreligiöser Aspekte der weltweiten Ideengeschichte. Zum Beispiel sind heutzutage viele Menschen von vornherein geneigt, die Geschichte der Muslime im Wesentlichen als Geschichte der islamischen Religion zu sehen. Diese Sicht übergeht das Aufblühen der Naturwissenschaften, der Mathematik und der Literatur, das durch die Leistungen muslimischer Intellektueller insbesondere im Zeitraum zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert möglich wurde. Aber auch in Indien versuchen radikale Hindus häufig, die ausgeprägte Vielfalt der Kultur Indiens auf eine „Hindukultur“ zu reduzieren – um die Terminologie zu benutzen, die Theoretiker wie Huntington und militante Hindupolitiker in Indien gemeinsam haben.

Ebenso auffällig ist heute eine zweite Tendenz: der merkwürdige und irritierender Unterschied, der bei der Wahrnehmung und Darstellung von westlichen und nichtwestlichen Ideen und wissenschaftlichen Ansätzen gemacht wird. Bei der Interpretation nichtwestlicher Ansätze sind viele Kommentatoren geneigt, der Religion eine viel größere Bedeutung beizumessen, als sie es verdient, und dabei zugleich die nichtreligiösen Interessen dieser Ansätze und ihrer Vertreter zu vernachlässigen. Zum Beispiel wird es nur selten vorkommen, dass jemand behauptet, das wissenschaftliche Werk von Isaac Newton sei vor allem als „christliches“ zu verstehen – obwohl Newton zweifellos dem christlichen Glauben anhing. Und kaum jemand würde wohl fordern, man müsse Newtons Beitrag zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen irgendwie im Lichte seines tiefen Interesses am Mystizismus interpretieren. Dabei hatten mystische Spekulationen für ihn eine große Bedeutung und haben vielleicht sogar einige seiner wissenschaftlichen Arbeiten angestoßen.

Ganz anders sieht es dagegen aus, wenn es um nichtwestliche Kulturen geht. Da schlägt dann plötzlich der religiöse Reduktionismus zu. Da gehen seriöse Wissenschaftler auf einmal wie selbstverständlich davon aus, dass selbst die breit angelegten intellektuellen Produkte buddhistischer Kollegen – oder die Arbeiten eines Anhängers der tantrischen Praktiken, die besonders im Lamaismus fortleben – nur dann „angemessen verstanden“ werden können, wenn man sie im besonderen Licht ihrer religiösen Glaubenssätze und Praktiken betrachtet.

Am Anfang der Beziehungen zwischen China und Indien stand allerdings, wie wir heute fast sicher wissen, nicht etwa der Buddhismus, sondern der Handel. Vor 2 000 Jahren waren die Konsumgewohnheiten der Inder – insbesondere der reichen – stark durch neue Produkte aus China geprägt. In einer Abhandlung über die ökonomischen und politischen Verhältnisse, die der große Sanskritgelehrte Kautilya im vierten vorchristlichen Jahrhundert verfasste und die einige Jahrhunderte später ergänzt wurde, ist von „Kostbarkeiten“ und „wertvollen Objekten“ die Rede, wozu auch „Seide und Seidenstoffe aus dem Land China“ zählen. Auch in dem alten Epos „Mahabharata“ und in den frühen „Gesetzen des Manu“ werden chinesische Stoffe oder Seide (cinamsuka) erwähnt, die als Geschenke überreicht werden.

In vielen Sanskritquellen von Anfang des ersten Jahrtausends wird die exotische Qualität chinesischer Produkte hervorgehoben. Das gilt zum Beispiel für das Theaterstück „Sakuntala“ aus dem 5. Jahrhundert, das Kalidasa verfasst hat, der vielleicht größte Dichter und Dramatiker der klassischen Sanskritliteratur. In diesem Stück begegnet König Dusyanta auf einem Jagdausflug der wunderschönen Einsiedlertochter Sakuntala und ist von ihrer Schönheit überwältigt. Er gesteht ihr seine leidenschaftliche Liebe, indem er sich mit einer flatternden Fahne aus chinesischer Seide vergleicht:  Mein Körper strebt voran  doch mein widerstrebender Geist flieht zurück  wie chinesische Seide einer Fahne  die im Gegenwind erzittert.

In dem Stück „Harsacarita“, im 7. Jahrhundert von Bana verfasst, trägt die schöne Rajyasri bei ihrer Hochzeit ein elegantes Gewand aus chinesischer Seide. Auch die Sanskritliteratur derselben Periode bietet eine Fülle von Hinweisen auf andere chinesische Produkte, die nach Indien gelangt sind, etwa Kampfer (cinaka) und Zinnober (cinapista), köstliche Birnen (cinarajaputra) und Pfirsiche (cinani).

Während China vor 2 000 Jahren materielle Güter nach Indien lieferte, exportierte Indien – zumindest seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert – den Buddhismus nach China. Damals kamen auf Einladung des Kaisers Mingdi von der Han-Dynastie zwei indische Mönche namens Dharmaraksa und Kasyapa Matanga nach China, auf deren Spuren bis zum 11. Jahrhundert immer weitere indische Gelehrte und Mönche folgten. Hunderte von Übersetzern und Wissenschaftlern übertrugen tausende von Sanskrittexten ins Chinesische. Diese Übersetzungen wurden in erstaunlichem Tempo angefertigt. Obwohl diese Übersetzungsflut bis Ende des 11. Jahrhunderts verebbte, wurden zwischen 982 und 1011 u. Z. noch mehr als 200 Sanskritbände übersetzt.

Der erste chinesische Gelehrte, der einen ausführlichen Bericht über seine Besuch in Indien verfasst hat, war ein Buddhist aus Westchina namens Faxian (Fa-Hsien, Fa-hien), der auf der Suche nach Sanskrittexten war, um sie auf Chinesisch zugänglich zu machen. Nach einer beschwerlichen Reise über Khotan, an der Seidenstraße gelegen, erreichte er im Jahre 401 Indien. Zehn Jahre später reiste Faxian auf dem Seeweg zurück. Nachdem er von der Gangesmündung unweit des heutigen Kalkutta losgesegelt war, besuchte er noch das buddhistische Sri Lanka und das hinduistisch geprägte Java. Seine zehn Jahre in Indien verbrachte Faxian mit ausgedehnten Reisen und dem Sammeln von Dokumenten, die er später ins Chinesische übersetzte. Sein „Bericht über buddhistische Königreiche“ ist eine höchst instruktive Darstellung der Verhältnisse in Indien und Sri Lanka. Faxian hielt sich auch mehrere Jahre im nordostindischen Pataliputra (Patna) auf, wo er außer religiösen Texten auch die Sprache und Literatur des Sanskrit studierte. Aber er entwickelte auch, wie wir noch sehen werden, großes Interesse am indischen Gesundheitswesen und seinen Institutionen und Methoden.

Tantrische Mathematiker – mehr rechnen als meditieren

Der berühmteste Besucher aus China war jedoch Xuanzang (Hiuan-tsang, Yuang Chwang), der im 7. Jahrhundert nach Indien fuhr. Dieser große Gelehrte reiste 16 Jahre lang kreuz und quer durch Indien und sammelte Sanskrittexte, von denen er viele nach seiner Rückkehr nach China übersetzte. Einige Jahre verbrachte er auch in Nalanda, einer berühmten Bildungsstätte in der Nähe von Patna. Hier studierte Xuanzang nicht nur die buddhistischen Lehren, sondern auch Medizin, Philosophie, Logik, Mathematik, Astronomie und Grammatik. Nach seiner Rückkehr aus Indien wurde er vom chinesischen Kaiser mit großem Pomp empfangen.1

Auch Yi Jing, der kurz nach Xuanzang nach Indien kam, studierte in Nalanda, wo er nicht nur über den Buddhismus forschte, sondern sich auch mit der Medizin und der öffentlichen Krankenversorgung befasste. Zu den buddhistischen Werken, die er übersetzte, gehörten auch Texte von Lehrern der Tantra, die aus ihren esoterischen Traditionen heraus großen Wert auf Meditation legten.

Im 7. und 8. Jahrhundert wurde der Tantrismus in China zu einer einflussreichen Kraft. Und weil viele Tantragelehrte ein starkes Interesse an Mathematik hatten – vielleicht weil sie, jedenfalls ursprünglich, von Zahlen fasziniert waren –, beeinflussten tantrische Mathematiker auch die chinesische Mathematik. Nach Joseph Needham war „der bedeutendste Tantrist“, der von 672 bis 717 lebende Yi Xing, „der größte chinesische Astronom und Mathematiker seiner Zeit“2 . Yi Xing sprach fließend Sanskrit und war mit der indischen Literatur und Mathematik vertraut. Obwohl er buddhistischer Mönch war, ist die Annahme, seine mathematischen Arbeiten seien irgendwie religiös beeinflusst gewesen, falsch. Als Mathematiker, der zufällig auch ein Anhänger des Tantra war, befasste sich Yi Xing mit Problemen der Arithmetik und der analytischen Mathematik, von denen viele überhaupt nichts mit dem Tantrismus zu tun hatten – zum Beispiel mit klassischen Fragen wie der Berechnung der Gesamtzahl von möglichen Situationen im Schachspiel. Sein besonderes Interesse galt kalendarischen Berechnungen, wobei er sogar auf kaiserlichen Befehl einen neuen Kalender für China entwickelte.

Besonders intensive Kalenderstudien betrieben auch die indischen Astronomen, die im 8. Jahrhundert in China lebten. Dabei kamen ihnen die neuesten Fortschritte in der Trigonometrie zugute, die weit über die griechischen Ursprünge der konventionellen indischen Trigonometrie hinausführten. Zur gleichen Zeit beeinflussten indische Astronomen und Mathematiker auch die Naturwissenschaften in der arabischen Welt. Damals wurden zum Beispiel die Schriften von Aryabhata, Varahamihira und Brahmagupta ins Arabische übersetzt.3

Chinesische Dokumente zeigen auch, dass zu dieser Zeit mehrere indische Astronomen und Mathematiker hohe Positionen im Astronomischen Amt der chinesischen Hauptstadt bekleideten. So verfasste der Inder Gautama, zum Präsidenten des Rates für Astronomie ernannt, das „Kaiyvan Zhanjing“. Dieses große chinesische Kompendium der Astronomie gilt als ein naturwissenschaftliches Standardwerk des 8. Jahrhunderts. Gautama gab auch eine Reihe von indischen astronomischen Werken in bearbeiteter Form auf Chinesisch heraus.

Dazu gehörte das „Kiuzhi li“, das auf einen in Indien eingeführten planetarischen Kalender zurückgeht und offenbar auf einem klassischen Sanskrittext beruht, den der Mathematiker Varahamihira um das Jahr 550 u. Z. verfasst hatte. Dieses Werk ist vor allem eine algorithmische Rechenanleitung, mit der man etwa, ausgehend vom Monddurchmesser und anderen relevanten Parametern, die Dauer einer Mondfinsternis abzuschätzen vermag. Die entsprechenden Rechenoperationen beruhten auf Methoden, die zuerst von Aryabhata Ende des 5. Jahrhunderts eingeführt und später in Indien von dessen Nachfolgern wie Varahamihira und Brahmagupta weiterentwickelt worden waren.

Yang Jingfeng, ein chinesischer Astronom des 8. Jahrhunderts, hat die indischen Wurzeln der offiziellen chinesischen Astronomie so beschrieben: „Wer die Positionen der fünf Planeten wissen will, wendet die indischen Methoden der Kalenderbestimmung an. […] Wir haben also drei Gruppen von indischen Kalenderexperten, nämlich um Chiayeh [Kasyapa], Chhüthan [Gautama] und Chümolo [Kumara], die alle drei im Astronomischen Amt beschäftigt sind. Aber bei den Aufgaben, die für die Regierung ausgeübt werden, greift man heute meist auf die Kalendermethoden des Meisters Chhüthan zurück, im Verein mit seinem Werk ‚Große Kunst‘.“4

Die indischen Astronomen, auch die drei vorgenannten, wären nicht nach China gegangen, hätten nicht zuvor schon Verbindungen dorthin existiert, die der Buddhismus zustande gebracht hatte. Und dennoch lässt sich kaum behaupten, dass man die Werke dieser indischen Astronomen in erster Linie als Beitrag zur Buddhismusrezeption zu sehen habe.

In der Literatur über die Geschichte der Kulturen ist viel über die angebliche Isolation der chinesischen Zivilisation und über das „typisch“ chinesische Misstrauen gegenüber Ideen „von außerhalb“ zu lesen. Diese These wurde auch in jüngster Zeit wieder strapaziert, um den Widerstand Chinas gegen eine politische Demokratisierung zu erklären. Derart simple Interpretationen können jedoch nicht plausibel machen, warum sich China seit den ökonomischen Reformen von 1979 im Innern wie nach außen so bereitwillig auf die Marktwirtschaft eingelassen hat, während es in der gleichen Zeit eine politische Demokratisierung beharrlich verweigert hat. Und diese Theorie übersieht auch eine andere Wahrheit: Was den intellektuellen Austausch betrifft, war China in Wirklichkeit nie so insular, wie häufig angenommen wird.

Zur Klärung solcher Fragen sind die historischen Beziehungen Chinas zu Indien von besonderer Bedeutung. Indien war nun einmal das einzige Land, das Gelehrte aus dem alten China zu Studien- und Ausbildungszwecken aufsuchten. Für die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends gibt es dokumentarische Belege dafür, dass sich mehr als zweihundert chinesische Gelehrte über längere Zeit in Indien aufgehalten haben. Dabei wollten sie nicht nur ihr Wissen über das Sanskrit und buddhistische Schriften erweitern, ihr Interesse galt auch vielen anderen Dingen. Die entsprechenden indischen Einflüsse sind denn auch nicht zu übersehen. Das gilt etwa für den Gebrauch von zentralen Begriffen und Konzeptionen aus dem Sanskrit, wie etwa das Wort ch’an oder zen, das aus dhyana – für Meditation – abgeleitet ist. Oder für die Motive der chinesischen Oper, die auf Geschichten aus dem Sanskrit beruhen, zum Beispiel „Das Himmlische Mädchen, das Blumen streut“.5 Wie der in Taiwan lehrende US-Sinologe John Kieschnick aufgezeigt hat, war die Bauweise der chinesischen Tempel und Brücken stark von Vorstellungen beeinflusst, die über buddhistische Einflüsse aus Indien stammten.6

Genaue Regeln für eine gute Diskussion

Der Austausch von Wissen und Kenntnissen ging in beide Richtungen. Joseph Needham hat eine Liste von mathematischen Ideen erstellt, die von China und vor allem in Richtung Indien „ausstrahlten“. Er behauptet sogar, dass viel mehr Ideen von China nach Indien gelangt seien als in umgekehrter Richtung: „Von den beiden Kulturen war Indien diejenige, die Ideen von außen bereitwilliger aufnahm.“7 Da es keine direkten Belege dafür gibt, in welcher Richtung eine bestimmte Idee ursprünglich zwischen Indien und China gewandert ist, nimmt Needham an, dass eine Idee von dem Land ausgegangen ist, in dem es für ihre Existenz die frühesten Belege gibt. Doch diese Methode erfuhr erhebliche Kritik von anderen Historikern der Naturwissenschaften und der Mathematik wie Jean-Claude Martzloff.8 Ganz offensichtlich ist die Wahrscheinlichkeit weit größer, dass ein früherer Existenzbeweis in Indien verloren gegangen ist und nicht in China. Zum Beispiel verweist Kieschnick, neben anderen Gründen, auf die begrenzte Haltbarkeit von Palmblättern und Birkenrinde, auf denen die meisten Texte im alten Indien aufgezeichnet waren.9 Entscheidend ist jedoch, dass die Ideen auf dem Gebiet der Mathematik und der Naturwissenschaften, wie in anderen, nichtreligiösen Disziplinen auch, in beide Richtungen gewandert sind.

Allgemein ist bekannt, dass der Transfer von Ideen und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Mathematik und der Naturwissenschaften für die heutige Wirtschaft von zentraler Bedeutung ist. Dasselbe gilt für die Entwicklung der Informationstechnologie und für industrielle Fertigungsmethoden. Weniger eindeutig dürfte die Antwort auf die Frage sein, wie die einzelnen Länder auf anderen Gebieten voneinander lernen können, sagen wir bei der Ausweitung der öffentlichen Kommunikationssysteme und bei der Verbesserung des Gesundheitswesens. Der Zufall will es, dass gerade auf diesen beiden nach wie vor bedeutsamen Gebieten die intellektuellen Beziehungen zwischen China und Indien im ersten Jahrtausend u. Z. von großer Bedeutung sind.

Der Buddhismus als Religion zeichnet sich bereits bei seinen Anfängen durch mindestens zwei spezifische Merkmale aus, die für ihre Zeit relativ ungewöhnlich waren: durch einen ausgeprägten Agnostizismus und durch regelmäßige ausführliche Dispute über öffentliche Angelegenheiten. Einige der frühesten Versammlungen, bei denen es insbesondere um die Beilegung von Streitigkeiten über religiöse Glaubensfragen, aber auch um andere Themen ging, sind durch Dokumente in Indien belegt. In solchen buddhistischen „Ratsversammlungen“, die sorgfältig vorbereitet waren, konnten die Vertreter unterschiedlicher Anschauungen ihre Differenzen austragen. Die erste dieser Versammlungen fand vor 2 500 Jahren kurz nach dem Tod von Gautama Buddha statt. Die größte – dritte – Ratsversammlung wurde im 3. Jahrhundert u. Z. unter dem Patronat des Kaisers Ashoka in der Hauptstadt Patna abgehalten. Ashoka versuchte wohl auch als Erster, einen Kodex von Regeln für öffentliche Diskussionen zu formalisieren und zu verbreiten – eine Art altindische Version von Henry Martyn Roberts Geschäftsordnung „Rules of Order“.10 Darin forderte Ashoka „Zurückhaltung bei der Rede, damit es nicht aus unangemessenem Anlass zur Lobpreisung der eigenen Sekte oder zur Herabsetzung der anderen Sekten komme, und selbst bei angemessenen Anlässen sollte die Rede moderat sein.“

Ein öffentlicher Diskurs mit vernünftigen Argumenten ist, wie unter anderem John Stuart Mill, John Rawls und Jürgen Habermas geltend gemacht haben, ein zentraler Bestandteil der Demokratie. Insofern reichen die Wurzeln der Demokratie tatsächlich in die Tradition des öffentlichen Diskutierens zurück, die in Indien wie in China – aber auch in Japan, Korea und anderen Gesellschaften Asiens – einen kräftigen Anstoß vom Buddhismus und dessen Betonung des Dialogs erfahren hat. Bezeichnend ist dabei auch, dass fast alle frühen Druckexperimente in China, Korea und Japan auf Buddhisten zurückgehen.11 Das weltweit erste gedruckte Buch – genauer: das erste gedruckte Buch, das mit einem Datum versehen ist – war die chinesische Übersetzung einer indischen Sanskritabhandlung, der so genannten Diamantensutra, die 868 n. Chr. in China gedruckt wurde. Dieses Werk aus dem 9. Jahrhundert ist zwar ein überwiegend religiöser Text, doch die kühn vorangestellte Widmung „zu universeller freier Verteilung bestimmt“ lässt erkennen, das es der allgemeinen Erziehung dienen sollte.

Nach John Kieschnick ist „einer der Gründe für die wichtige Rolle von Büchern innerhalb der chinesischen buddhistischen Tradition […] der Glaube, dass man sich mit dem Kopieren oder Drucken buddhistischer Schriften Verdienste erwerben könne“. Der Ursprung dieses Glaubens lässt sich, so Kieschnick, „nach Indien zurückverfolgen“.12 Dafür spricht einiges. Ganz sicher besteht auch ein Zusammenhang mit der Tatsache, dass buddhistische Führer wie Ashoka der Kommunikation mit einem breiten Publikum große Bedeutung beimaßen. So ließ Ashoka überall in Indien große Schrifttafeln errichten, auf denen die Kriterien eines guten „öffentlichen Benehmens“ festgehalten sind – auch die Regeln für eine gute Diskussion. Und Theodore de Bary schreibt über das Bildungssystem: „Ganz neue Bedeutung erreichte die Bildung für Frauen mit dem Aufstieg des Erziehungswesens und dessen neokonfuzianischer Fortsetzung, die durch die gewaltige Ausbreitung der Druckkunst, der Alphabetisierung und des Schulwesens gekennzeichnet war.“13

Die Verbindungen zwischen Indien und China auf dem Gebiet der öffentlichen Krankenpflege sind so bedeutsam wie unbekannt. Nach seiner Ankunft in Indien im Jahre 401 entwickelte Faxian ein großes Interesse an der Gesundheitsversorgung. Besonders beeindruckt war er offensichtlich von den kommunalen Krankenanstalten, wie sie im 5. Jahrhundert in Patna organisiert waren: „Alle Armen und Bedürftigen des Landes […] und alle Menschen, die krank sind, gehen zu diesen Häusern, wo ihnen jede erdenkliche Hilfe zuteil wird und Ärzte ihren Krankheitszustand untersuchen. Sie bekommen Nahrung und Arzneimittel, die für ihren Zustand angezeigt sind, und man tut alles, damit sie sich wohl fühlen; und wenn es ihnen besser geht, gehen sie von selbst.“14

Demokratie und Lebenserwartung

Auch wenn die Beschreibung der Krankenanstalten von Patna im 5. Jahrhundert etwas schmeichelhaft ausgefallen sein dürfte, fasziniert uns daran der offenbare Wunsch des chinesischen Besuchers, von der öffentlichen Krankenversorgung des Landes, das er zehn Jahre lang bereist hat, zu lernen. 250 Jahre nach Faxian entwickelt Yi Jing ebenfalls ein Interesse für die Krankenversorgung, der er drei Kapitel seines Buches über Indien widmete. Dabei machte die indische Heilbehandlung auf ihn einen größeren Eindruck als das medizinische Wissen.

Zwar schätzte er einige der Behandlungsmethoden, die vor allem Schmerzen und körperlichen Beschwerden lindern sollten – zum Beispiel „flüssige Butter, Öl, Honig oder Zuckersirup, die Erleichterung bei Erkältungen verschaffen“. Doch insgesamt kam er zu dem Schluss: „In Heilkünsten wie der Akupunktur und Kauterisation15 und in der Fertigkeit des Pulsfühlens wurde China niemals übertroffen; die Medizin für die Verlängerung des Lebens ist nur in China anzutreffen.“ Auf der anderen Seite könne man von Indien jedoch viel lernen: „Zum Filtern des Wassers benutzen die Inder feinen, weißen Stoff, in China sollte man dafür feine Seide nehmen.“ Auch würden „die Menschen im heutigen China Fisch und Gemüse meistens ungekocht verzehren, was in Indien niemand tut“. Obwohl Yi Jing bei seiner Rückkehr nach China von seinem Heimatland sehr angetan war – und sogar die rhetorische Frage stellte, ob es in einem der fünf Teile Indiens jemanden gebe, der China nicht bewundere –, wollte er dennoch ausdrücklich herausfinden, was China von Indien lernen könnte.

Noch interessanter wird das Bild, wenn wir uns die Fortschritte ansehen, die heute in beiden Ländern hinsichtlich einer längeren Lebenserwartung gemacht werden. Das maoistische China begann kurz nach der Revolution mit dem Aufbau eines umfassenden Gesundheitssystems. Indien dagegen hatte zur selben Zeit nichts Vergleichbares aufzuweisen. Als Deng Xiaoping 1979 die ersten Wirtschaftsreformen einführte, lebten die Chinesen im Durchschnitt 14 Jahre länger als die Inder.

Mit Dengs Reformpolitik nahm China einen gewaltigen Aufschwung, und seine Volkswirtschaft wuchs weit schneller als die Indiens. Dennoch hat die durchschnittliche Lebenserwartung in Indien seit 1979 dreimal so schnell zugenommen wie in China. Dort liegt sie heute bei 71 Jahren, in Indien bei 64 Jahren; der Abstand hat sich also halbiert. Der chinesische Durchschnitt liegt heute sogar unter dem Wert, der in einigen Teilen Indiens erreicht wird. Das gilt vor allem für den Bundesstaat Kerala, der mit 30 Millionen mehr Ein-wohner hat als viele Länder der Erde. In Kerala beruht der Erfolg auf der Kombination von zwei Entwicklungen: einer Mehrparteiendemokratie indischen Typs, die öffentliche Debatten und eine breite Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben einschließt. Hinzu kommen Verbesserungen im Gesundheitswesen, die auf staatliche Initiativen zurückgehen, die den in China nach der Revolution entwickelten Konzepten ähneln.16

Die Vorzüge dieser Kombination zeigen sich nicht nur in der erhöhten Lebenserwartung, sondern auch anderswo. So liegt zum Beispiel die Relation der weiblichen zur männlichen Bevölkerung in Kerala bei 1,06, das also exakt denselben Frauenüberschuss auf wie in Nordamerika und Westeuropa aufweist. Das entsprechende Verhältnis in China beträgt nur 0,94 und im indischen Durchschnitt sogar nur 0,93, was einen deutlichen Männerüberschuss anzeigt. Der Frauenüberschuss in Kerala spiegelt also die größeren Überlebenschancen von Frauen einschließlich weiblicher Föten, die keiner Diskiminierung unterworfen sind, wider.17

Kritik hält gesund

Auch das Sinken der Geburtenrate verlief in Kerala deutlich schneller als in China, und dies trotz der chinesischen Politik einer staatlichen Geburtenkontrolle.18 So lag etwa die Lebenserwartung in Kerala 1979, als in China die Wirtschaftsreformen eingeführt wurden, etwas unter dem chinesischen Durchschnittswert. Doch in Kerala war bereits im Jahr 2000 mit 74 Jahren der chinesischen Wert von 71 Jahren beträchtlich überstiegen.19

Ein weiterer Vergleich fällt ebenfalls zugunsten von Kerala aus: In China ist seit 1979 die Säuglingssterblichkeit nur extrem langsam, in Kerala dagegen kontinuierlich und sehr schnell zurückgegangen. 1979 lag diese Rate in Kerala mit 37 pro 1 000 Geburten etwa auf demselben Niveau wie in China. Heute ist sie auf 10 pro 1 000 Geburten gesunken; in China ist sie hingegen in den letzten Jahren kaum zurückgegangen und liegt immer noch bei 30 pro 1 000.20

Zwei Faktoren können erklären helfen, warum sich der Trend zu einer höheren Lebenserwartung in China trotz der positiven Wirkungen des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs insgesamt verlangsamt hat. Beide Faktoren haben etwas mit Demokratie zu tun. Erstens wurde mit den Reformen von 1979 in China die kostenlose Krankenversicherung weitgehend abgeschafft. Die meisten Bürger müssen seitdem also eine private Krankenversicherung finanzieren. Dieser Vorgang löste in China nur wenig politischen Widerstand aus – der in jeder Mehrparteiendemokratie zweifellos fällig gewesen wäre.

Zweitens sind Demokratie und politische Freiheit nicht nur ein wertvolles Gut an sich, sie haben auch unmittelbaren Einfluss auf die Politik der öffentlichen Hand. Das schließt die Gesundheitspolitik ein, insofern sozialpolitische Mängel und Versäumnisse über eine kritische Öffentlichkeit zur Sprache kommen.21 In Indien stehen qualitativ hochwertige medizinische Einrichtungen nur den wohlhabenden Bürgern zur Verfügung. Die staatlich organisierte medizinische Grundversorgung ist dagegen ziemlich dürftig, was auch immer wieder in den sehr kritischen Berichten der indischen Presse vermerkt wird. Doch ständige Kritik schafft auch immer wieder die Möglichkeit, die Verhältnisse zu verbessern.

Eine Stärke der indischen Demokratie ist gerade auch die ständige Berichterstattung über die Mängel des indischen Gesundheitswesens und über die Bemühungen zur Verbesserung der Lage, die diese Kritik zur Folge haben – und die sich in der Lebenserwartung niederschlägt. Die Fortschritte waren in Kerala dank der Kombination von demokratischer Beteiligung und radikalem sozialem Engagement möglich. Dass eine funktionierende Öffentlichkeit für das öffentliche Gesundheitswesen wichtig ist, zeigen auch die schrecklichen Folgen der offiziellen Geheimnistuerei um die Sars-Epidemie in China. Die Lungenseuche war im November 2002 ausgebrochen, von den Behörden jedoch bis zum Frühjahr 2003 geheim gehalten worden.

Respektlosigkeit als buddhistische Tradition

Indien kann auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik – und auch in der Gesundheitsversorgung – noch einiges von China lernen. Umgekehrt können aber auch die indischen Erfahrungen mit Demokratie und einer funktionierenden Öffentlichkeit instruktive Lehren bieten. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, daran zu erinnern, dass die Tradition der Respektlosigkeit und Widerborstigkeit gegenüber jeder Autorität, die mit dem Buddhismus nach China gelangte, in frühen chinesischen Schriften gegen den Einfluss des Buddhismus besonders scharf kritisiert wurde. So hat sich etwa Fu-yi, eine mächtiger konfuzianischer Führer, im siebten Jahrhundert bei Kaiser Tang über die Buddhisten beschwert: „Der Buddhismus ist von Zentralasien aus nach China eingesickert, und zwar (in) einer fremden und barbarischen Form, weshalb er damals weniger gefährlich war. Doch in der Han-Periode wurden die indischen Texte erstmals ins Chinesische übersetzt. Ihre Verbreitung begann den Glauben an die Fürsten negativ zu beeinflussen, und die Verehrung des Herrschergeschlechts wurde immer schwächer. Die Menschen begannen ihre Schädel zu rasieren und weigerten sich, ihre Köpfe vor den Fürsten und deren Vorfahren zu neigen.“22

Fu-yi schlug damals nicht nur ein Verbot buddhistischer Predigten vor, sondern auch eine spezielle Behandlung der „zehntausenden“ von aktiven Buddhisten, die zu der Zeit in China herumzogen. Er forderte den Kaiser auf, diese Leute zu verheiraten und ihre Kinder in die Armee zu zwingen. Doch diesen Ratschlag, die Unbotmäßigkeit der Buddhisten zu brechen, wies der damalige Kaiser zurück.

Fußnoten: 1 Richard Bernstein, „Ultimate Journey: Retracing the Path of an Ancient Buddhist Monk Who Crossed Asia in Search of Enlightenment“, New York (Knopf) 2001; Sun Shuyun, „Ten Thousand Miles Without a Cloud“, New York (Harper Collins) 2003. 2 Joseph Needham, „Science and Civilization in China“, Cambridge University Press, 1956, Bd. 2, S. 427. 3 So wanderte der trigonometrische Begriff „Sinus“ nach Europa: Das Sanskrit-Wort „ jya“ wurde von arabischen Mathematikern des 8. Jahrhhunderts als „ jiba“ adaptiert. Dieses Wort verwandelte sich später in „jaib“, was „Bucht“ bedeutet. Diesen Begriff übersetzte im 12. Jahrhundert Gherardo von Cremona als „sinus“ ins Lateinische. Dazu: Howard Eves, „An Introduction to the History of Mathematics“, Philadelphia (Saunders) 6. Aufl. 1990. 4 Needham (Anm. 2), Bd. 3, S. 202, 12, 37. Siehe auch meine Abhandlung „India Through Its Calendars“, in: „The Little Magazine“, Delhi (1) 2000. 5 Der Ausdruck „Mandarin“, der von dem Sanskrit-Wort mantri („Sonderberater“) abstammt, kam viel später nach China, und zwar über Malaya. 6 John Kieschnick, „The Impact of Buddhism on Chinese Material Culture“, Princeton University Press, 2003. 7 Needham (Anm. 2), Bd. 3, S. 146 ff. 8 Jean-Claude Martzloff, „A History of Chinese Mathematics“, New York (Springer) 1997, S. 90. 9 Kieschnick (Anm. 6), S. 166. 10 Die erstmals 1876 formulierten „Rules of Order“ gelten als Kodex parlamentarischer Verfahrensregeln in Großbritannien. Die neueste Fassung stammt aus dem Jahr 2000. 11 Auch indische Buddhisten druckten. Der chinesische Gelehrte Yi Sing, der Indien im 7. Jahrhundert bereiste, berichtet von buddhistischen Bildern, die auf Seide und Papier gedruckt waren. Doch dabei handelte es sich wohl um primitive Bildstempel. Needham (Anm. 2), Bd. 5, Teil 1, S. 148 f. 12 Kieschnick (Anm. 6), S. 164. 13 Theodore de Bary, „Neo-Confucian Education“, in: „Sources of Chinese Tradition, compiled by Theodore de Bary and Irene Bloom“, New York (Columbia University Press), 2. Aufl. 1999, S. 820. Der Neokonfuzianismus revidierte den orthodoxen Konfuzianismus und belebte seine mystischen Traditionen. 14 „The Travels of Fa-Hien or Record of Buddhist Kingdoms“, Patna (Eastern Book House), 1993, S. 79. 15 Gewebeverödung durch Hitze oder Ätzung. 16 Weniger erfolgreich war Kerala dagegen beim Wirtschaftswachstum. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt nicht über dem indischen Durchschnitt und niedriger als in mehreren anderen indischen Staaten. Jean Dreze und Amartya Sen, „India: Development and Participation“, Oxford (Oxford University Press) 2003, S. 97–101. 17 Siehe dazu meine Aufsätze: „Missing Women“, in: „British Medical Journal“, Bd. 304 (7. 3. 1992), und „Missing Women Revisited“, in: „British Medical Journal“, Bd. 327 (6. 12. 2003). 18 Siehe dazu meine Aufsätze: „Population: Delusion and Reality“, in: „The New York Review of Books“, 22. 9. 1994, und: „Fertility and Coercion“, University of Chicago Law Review, Bd. 63 (1996). 19 „China Statistical Yearbook“ 2003, S. 118, Tabellen 4 bis 17. In Großstädten wie Schanghai und Peking liegt die Lebenswartung zwar höher als in Kerala, doch in den meisten chinesischen Provinzen weit darunter. 20 Der langsame Anstieg der Lebenserwartung in China könnte mit der drastischen Verschärfung der Einkommensunterschiede in den letzten Jahren zusammenhängen, die in Indien geringer war. 21 Ähnliches gilt für die Beobachtung, dass Hungersnöte in demokratischen Staaten kaum vorkommen, selbst wenn sie sehr arm sind. In Indien sind seit der Gründung einer Mehrparteiendemokratie die Hungerepidemien abrupt verschwunden. Dagegen erlebte China noch 1958–1961 die größte bekannte Hungersnot der Geschichte mit etwa 30 Millionen Opfern. Siehe Jean Drèze und Amartya Sen, „Hunger and Public Action“, Oxford (Clarendon Press) 1989. 22 Prabodh C. Bagchi, „India and China: A Thousand Years of Cultural Relations“, Calcutta (Saraswat Library), überarbeitete Auflage 1981, S. 134. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Amartya Sen erhielt 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Derzeit ist er Professor an der Harvard-Universität. Als letztes Buch erschien „Rationality and Freedom“ (Belknap Press, 2004), letzter deutscher Titel war „Ökonomie für den Menschen“ (dtv, 2002). Sein nächstes Buch erscheint im Juni: „The Argumentative Indian. Writings on Indian Culture, History and Identity“ (Penguin/Allan Lane).

Le Monde diplomatique vom 13.05.2005, von von Amartya Sen