Der irakische Untergrund – aktiv und blind
von David Baran und Mathieu Guidère
Die Gruppen des bewaffneten Widerstands im Irak haben ihre Politik des Terrors seit langem durch eine Propagandastrategie ergänzt. „Medienkommunikation“ ist das Schlüsselwort – es wäre ein Fehler, nur auf die besonders brutalen und drastischen Bilder und Texte zu schauen. Denn unter den unzähligen Äußerungen dieser Gruppen finden sich nicht nur einschüchternde Deklarationen, sondern auch erstaunlich viele intelligente und nüchterne Analysen, die detailliert darlegen, wie man den Gegner besiegen könnte.1
Die abscheulichen Videoclips sollten also nicht den Blick auf die zahlreichen Beiträge verstellen, die – oft in Spielfilmqualität – anschaulich machen, was den Gruppen wichtig ist. Da gibt es „Konferenzen“ in Koran-Arabisch über die Herstellung von Sprengkörpern, aber ebenso professionelle Werbespots von neuen Gruppierungen, die sich der Öffentlichkeit präsentieren wollen.2 Manche Gruppen setzen stark auf Öffentlichkeit; sie unterhalten „Informationsabteilungen“, deren Verlautbarungen auf zahlreichen Internetseiten erscheinen. Einige Homepages fungieren wie Online-Presseagenturen und werden mehrmals täglich aktualisiert.3 Auf einer Website rief kürzlich ein Aktivist dazu auf, „mit allen Mitteln gegen die Missachtung des Widerstands in den Medien vorzugehen“4 .
Warum unternimmt der bewaffnete Widerstand so große publizistische Anstrengungen? Stellt diese Form der Propaganda tatsächlich eine wirksame Waffe dar? Nur weil sie im Westen nicht gut ankommt oder gar kontraproduktiv wirkt, muss diese Propaganda nicht ungeschickt oder schlecht gemacht sein.
In den Debatten über den Irakkonflikt dominieren heute die Wortmeldungen der Regierungen in Washington und in Bagdad. Ihre Gegner werden zunehmend unhörbar und machen fast nur noch durch die Detonation ihrer Sprengsätze und die Aufregung um Entführungen auf sich aufmerksam. Was sie verbal mitteilen, erscheint uns eher nebelhaft.
Vieles davon ist Flüsterpropaganda, oder es wird nur in Form von Flugblättern, Videos oder Verlautbarungen unter häufig wechselnden Internetadressen verbreitet, und zwar fast ausschließlich auf Arabisch, bleibt also für ein anderssprachiges Publikum so gut wie unzugänglich. Die Rezeption dieser Äußerungen ist deswegen stark eingeschränkt. So sind die Videos meist bar aller Argumente. Sie enthalten nur bestimmte Schlüsselbilder, denen eine dauerhafte Wirkung zugeschrieben wird. Die Auswahl, die im Ausland getroffen wird, entwertet die Beiträge: Man nimmt sie nur als Äußerungen eines „fanatischen“ und „blutrünstigen“ Feindes wahr, der keine Interessen vertritt oder Einschätzungen verbreitet, sondern nur bestrebt ist, seine blinde Gewalt zu rechtfertigen. Wenn, so die Folgerung, der Gegner nur die Sprache des Terrors spricht, darf man ihm gar nicht erst zuhören – denn sonst hätte er schon gewonnen.
Irhab, der Terror, gehört unbestreitbar zu den Instrumenten des politischen Widerstands im Irak. Einige Gruppen distanzieren sich von diesen Methoden, andere halten ihn für religiös legitimiert und politisch angemessen. So hat ein anerkannter sunnitischer Korangelehrter zwar deutlich zwischen „erlaubtem“ und „nicht erlaubtem“ Terror unterschieden – aber zugleich befunden, dass die Aktionen im Irak unter die erste Kategorie fallen.5 Und der angesehene irakische Scheich Muhammad al-Alusi hat 2003 in einer Fatwa, einem Richtspruch, sogar geäußert, dass der dschihad, der heilige Krieg, ohne irhab nicht zu denken sei.6
Militärisch gesehen erscheint der Terror als Teil einer psychologischen Kriegführung. Im Internet werden mittlerweile ausgesprochen differenzierte Analysen verbreitet. Hier legen offensichtlich erfahrene Kämpfer dar, wie Terrorakte gegen „Kollaborateure“ einen Keil zwischen die irakische Regierung und die Bevölkerung treiben können oder wie man mittels Entführung von Ausländern auch entfernte Länder unter Druck setzen kann.
Mit dem Feind und seinen potenziellen Bündnispartner kommunizieren die bewaffneten Gruppen also – mit ganz wenigen Ausnahmen7 – in der Sprache des Terrors. Doch mit der Verbreitung ihrer Bilder und Texte verfolgen sie auch noch andere Ziele, weil sie diese offenbar eher an die eigenen Kämpfer und das Lager der Sympathisanten richten. Ihre Inhalte sollen demnach der Verständigung innerhalb eines dynamischen Netzwerks von Gruppen dienen, die immer wieder neue Bündnisse schließen oder sich voneinander abgrenzen – ohne die Wirksamkeit des Terrors aus dem Blick zu verlieren. Jede Gruppierung braucht ein eigenes Image und muss sich mit allen anderen auseinander setzen.
Die Propaganda der Terroristen verfolgt also großenteils die Absicht, ihre Aktionen bekannt zu machen und um Anerkennung zu werben – bei Verbündeten, Konkurrenten oder potenziellen Unterstützern. In vielen Verlautbarungen geht es nur darum, sich in den Strömungen der bewaffneten Opposition zu positionieren – etwa indem man sich zum jordanischen Al-Qaida-Gewährsmann Abu Mussab al-Sarkawi bekennt oder die Angriffe auf die Zivilbevölkerung kritisiert. Dabei beziehen sich die Botschaften innerhalb dieses flüchtigen Milieus auf die aktuellen Positionen wichtiger Meinungsführer, also von Korangelehrten, einflussreichen Intellektuellen und anderen Persönlichkeiten.
Selbst die brutalsten Medienauftritte wie die Videos von der Hinrichtung ausländischer Geiseln dienen in erster Linie der Rechtfertigung innerhalb des eigenen Lagers. Man erläutert die Kriterien zur Auswahl der Opfer, berichtet von ihren „Verbrechen“ und dem „Gerichtsverfahren“, das mit der Vollstreckung des „Urteils“ endet. Im Internet wird ausführlich diskutiert, welche Regeln im Umgang mit Gefangenen zu gelten haben. Man zeigt also nicht nur in allen Einzelheiten die Vollstreckung eines „Gottesurteils“, genauso ausführlich wird auch die Frage erörtert, wann die „Grundsätze der arabischen Gastfreundschaft“ beachtet werden müssen.
Wer das Denken des Gegners ernst nehmen will, muss ihm letztlich genau jene Komplexität zugestehen, die man ihm spontan absprechen möchte. Das gilt besonders für diejenigen Medienbeiträge der bewaffneten Opposition, die das Bemühen erkennen lassen, nicht grob propagandistisch zu wirken, sondern glaubwürdig zu argumentieren. Dazu gehören die Versuche, jeden Anschlag so genau wie möglich zu dokumentieren und dem Gegner, der die Rolle der Untergrundkämpfer herunterspielen möchte, die „tatsächlichen Verluste“ nachzuweisen. Unzählige Anschläge werden im Internet durch kleine Videofilme dokumentiert, in der Regel mit Datum und dem Logo einer Organisation – manchmal sogar mit einer digitalen „Signatur“. In einem Diskussionsforum kommentierte ein Untergrundkämpfer begeistert diese Form des „Widerstands im Internet“ und empfahl allen Mitstreitern, ihre Aktionen von ausgebildeten „Journalisten, Fotografen und Kameraleuten“ begleiten zu lassen.8
Anspielungen genügen, um die alte Zeit zu beschwören
Die öffentlichen Verlautbarungen der bewaffneten Gruppen sind mit der Zeit also immer „subtiler“ geworden, was sich auch daraus erklärt, dass der Widerstand aus vielen Quellen schöpft und auf viele Unterstützer rechnen kann. Schon der Verweis auf bestimmte Stellen im Koran genügt, um die große Tradition der islamischen Reiche und der arabischen Nationalstaaten zu beschwören, wie auch die literarische Tradition und die mündliche Überlieferung einzelner Stämme. Da wird zum Beispiel der gegenwärtige Kampf im Irak mit der in der 3. Koransure erwähnten Schlacht von Badr gleichgesetzt, also mit dem Sieg des Propheten Mohammed und seiner Kämpfer gegen eine Übermacht von Feinden im Jahre 624. Und die „Kollaborateure“ erscheinen als die Nachfahren von Ibn al-Alkami, jenem Kanzler, der im 13. Jahrhundert Bagdad den mongolischen Belagerern übergab. Man beruft sich auf legendäre Helden des islamischen Widerstands wie Hamsa Ibn Abd al-Muttalib und Omar al-Mukhtar.9 Auch werden neue patriotische Lieder komponiert. Aus allen diesen Elementen entsteht eine sehr gewählte und wirksame politische Sprache, die der Beschwörung von „Freiheit und Fortschritt“ durch die USA dadurch entgegentritt, dass sie den aktuellen Widerstand in eine lange und große Tradition von Kämpfen und Opfern einbettet.10
Inzwischen kann der bewaffnete Widerstand auch schon aus seiner eigenen jungen Geschichte schöpfen und sich auf symbolische, vor allem heldenhafte Ereignisse beziehen, die sein Selbstbewusstsein stärken. Dabei greifen die Autoren auf eine Bildsprache zurück, die in Konflikten wie etwa in Palästina oder Afghanistan entstanden ist. So sind einige Bildsequenzen eindeutig von der Hamas entliehen.
Zugleich kann man mit Vorstellungen spielen, die in der irakischen Bevölkerung verbreitet sind. So gibt es etwa ausführliche „Dokumentationen“ über Massengräber für US-Soldaten, weil ständig Gerüchte im Umlauf sind, dass die USA ihre Verluste zu kaschieren versuchten.11 Und nicht zuletzt benutzen die Propagandisten des irakischen Widerstands Material der internationalen Medien und der Verlautbarungen der Golf-Allianz. Sie drehen deren Bilder und Slogans so hin, dass sie die Widersprüchlichkeit und Heuchelei des Westens demonstrieren und verdammen können.12
Obwohl die bewaffneten Gruppen im Irak zerstritten sind und kaum gemeinsame Wurzeln haben, bieten sie in ihren öffentlichen Auftritten ein erstaunlich kohärentes Bild. Nach den Begriffen und Bezügen, die sie dabei in Anspruch nehmen, ist die Welt in zwei Lager geteilt. Die Mudschaheddin, die Glaubenskrieger, stehen einer Besatzungsmacht der Ungläubigen gegenüber, die als Kreuzritter und Barbaren gelten. Denen, heißt es, geht es nur um eines: mit Hilfe einer von den USA gekauften Marionettenregierung von Exilirakern, proiranischen Schiiten und sezessionistischen Kurden die „amerikanisch-zionistische“ Vormachtstellung in der Region zu festigen. Dabei wird die gewaltige Übermacht des Gegners nicht nur zugegeben, sondern übertrieben dargestellt, damit die Tugenden des eigenen Lagers in umso hellerem Licht erstrahlen. Gerne erinnern sie an den Mut, die Fantasie, die Demut, die Frömmigkeit und die Opferbereitschaft, die den frühen Kämpfern für den Islam zu Eigen waren. Die Botschaft lautet: Wer sich in einen solchen Kampf einreiht und durchhält, kann des Sieges gewiss sein.
Politische Alternativen sind nicht in Sicht
Aus dieser überzeitlichen Vorstellungswelt dürfte sich zum Teil auch erklären, dass die Gruppen der bewaffneten Opposition – bis auf wenige Ausnahmen13 – keine Alternativen zu dem von den USA bestimmten sozialen Wandel anbieten können. Entsprechend ihrer militärischen Strategie, die einzig darauf aus ist, keinerlei Normalisierung des öffentlichen Lebens im Irak zuzulassen, beschränken sich auch ihre politischen Programme darauf, die traditionelle Rolle der Einzelnen als Mitglieder in der Gemeinschaft der Gläubigen zu betonen. Als die militanten Kräfte im Herbst 2004 einige der heiligen Stätten des schiitischen Islam in ihre Gewalt gebracht hatten, konnten sie sich denn auch auf keine gemeinsame Verwaltung einigen. Ihre Diskussionen in den Internetforen zeigen, dass ihr Interesse an organisatorischen Fragen sich im Grunde darauf beschränkt, ihre militärischen Aktivitäten besser zu koordinieren.
Dass es der Opposition so schwer fällt, eigene Perspektiven zu entwerfen, rührt von zwei weiteren Faktoren her. Auf ideologischer wie auf praktischer Ebene hält sie den Abzug der USA ohnehin für undenkbar. Im Übrigen würde sich in einem solchen Fall die unangenehme Frage stellen, ob dann nicht innerhalb der bewaffneten Opposition die bereits vorhandenen Spannungen weiter zunehmen und zum Zerfall der Waffenbrüderschaft führen könnten. Aber wenn die Stärke der Opposition ihre gemeinsame imaginäre Vorstellungswelt ist, so enthüllt sich ihre Schwäche in dem, worüber sie schweigt: Über das lukrative und einflussreiche Geschäft mit Geiselnahmen oder über die Beziehungen zwischen Dschihadisten und organisiertem Verbrechen verliert man kein Wort.
Noch stärker fällt ins Gewicht, dass die eigenen Fehler und die Möglichkeit einer Niederlage überhaupt nicht diskutiert werden. Selbstkritik ist in diesem Diskurs nicht vorgesehen, weil man Angst hat, unglaubwürdig zu werden. Ein ganz wichtiger Faktor fällt also aus der Analyse dieser Gruppen völlig heraus: dass nämlich die Mehrheit der Iraker die endlose Spirale der Gewalt inzwischen satt hat. Damit ignoriert die bewaffnete Opposition offensichtlich die entscheidende Größe eines bewaffneten Aufstands gegen die Fremdherrschaft, nämlich das Volk.
Das Internet formt eine Glaubensgemeinschaft
Die bewaffneten Gruppen scheinen nicht zu begreifen, dass sich viel verändert hat, seit sie im Frühjahr 2004 in Falludscha und im Süden einen erfolgreichen Zweifrontenangriff führten. Damals durften sie auf breite Unterstützung der Bevölkerung rechnen. Heute gilt das nur noch für wenige Gebiete, in denen die Menschen aber auch nicht mehr offene Solidarität zeigen, sondern sich zwiespältig und ängstlich verhalten. Diese Entwicklung wird – jedenfalls auf den Websites dieser Gruppen – in keiner Weise zur Kenntnis genommen.
Auch gegen die Ansicht eines durchaus nennenswerten Teils der Bevölkerung selbst in den sunnitischen Vierteln der Hauptstadt meinen die Oppositionsgruppen, die Wahlen am 30. Januar 2005 seien eine Abstimmung ohne politische Parteien und unter der Aufsicht von Besatzern gewesen, die keine Debatte über ihre Präsenz zugelassen hätten. Ebenso umstandslos hat die Opposition die Geständnisse von „Terroristen“ im irakischen Fernsehen, die einen ziemlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatten, als „gefälscht“ oder „erzwungen“ abgetan.
Manche Gruppierungen diskutieren inzwischen offen über das mangelnde Verständnis der Bevölkerung für bestimmte Aktionsformen. Zudem bemüht sich die Regierung, die Menschen für sich einzunehmen. So unterstützt sie die Familien, deren Ernährer von den US-Truppen zu Unrecht verhaftet wurden; dasselbe gilt für die Zivilisten, die bei Großoffensiven vertrieben wurden und um die sich anfangs niemand gekümmert hatte.
Die Bemühungen der bewaffneten Kämpfer um die Mobilisierung von Anhängern haben keineswegs zu einem internen Klärungsprozess oder zu neuen gemeinsamen Strategien geführt. Nach wie vor scheinen sich alle Debatten nur an der Frage zu entzünden, wo die Grenze zwischen Gegnern und Befürwortern der Besatzung verläuft. Auf diese Frage hat jede Gruppe ihre eigene Antwort. An der Legitimität des Kampfes zweifelt niemand, die Opposition sieht sich als die Avantgarde des Widerstands und hält es offenbar nicht für nötig, die Mehrheit der irakischen Bevölkerung hinter sich zu bringen. Ob nicht die virtuelle Realität des Internets der irakischen Opposition ein illusionäres Bild vorgaukelt? Die imaginäre Umma des Internets mag einen Sieg für möglich halten, die Iraker freilich kann sie nicht überzeugen.