Atombewaffnet
Die Wiederkehr der nuklearen Abschreckung
von Jean-Marie Collin

Der Abwurf US-amerikanischer Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ist nun 80 Jahre her – und atomare Abschreckung als Grundlage von Verteidigungspolitik wird wieder beliebter. Gründe dafür sind vor allem der Krieg in der Ukraine und die Konflikte im Nahen Osten. Zugleich aber lehnen mehr UN-Mitgliedstaaten denn je das Konzept der nuklearen Abschreckung ab.
Mit der Zerstörung Hiroshimas durch eine Atombombe am 6. August 1945 trat die Menschheit in „ein neues Zeitalter der Weltgeschichte“ ein, wie der österreichische Philosoph Günther Anders im Jahr 1982 schrieb.1 Was ihn beunruhigte, war weniger das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion, sondern ein radikaler Kipppunkt der Weltgeschichte: Erstmals verfügte die Menschheit über die technische Möglichkeit, sich selbst auszulöschen.
80 Jahre später ist die Gefahr einer Apokalypse nicht gebannt, denn ein kleiner Kreis von neun Staaten – die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel (das seine nukleare Bewaffnung nie offiziell zugegeben hat) – verfügt zusammen über mehr als 12 000 Atomsprengköpfe.2 Dazu kommen weitere rund 40 Länder, die an dieser Verteidigungsoption teilhaben, weil sie Nato-Mitglied sind oder sich durch Abkommen mit einem Kernwaffenstaat verbündet haben (wie zum Beispiel Belarus mit Russland).
Mit dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV, auch Atomwaffensperrvertrag) haben sich die Atommächte 1968 zwar verpflichtet, „die Einstellung der Produktion von Kernwaffen, die Auflösung aller vorhandenen Vorräte an solchen Waffen und die Entfernung der Kernwaffen und ihrer Einsatzmittel aus den nationalen Waffenbeständen“ zu erleichtern. Aber eine reelle Chance haben sie der vollständigen Abschaffung von Kernwaffen nie gegeben.3
Die aktuellen Arsenale sind nicht zuletzt das Produkt von Modernisierungsprogrammen, die noch in den 2000er Jahren aufgelegt wurden, obwohl das Verhältnis zwischen den Großmächten damals relativ stabil war. Der Krieg in der Ukraine und die nuklearen Drohungen Russlands lagen damals noch in weiter Ferne.
In Frankreich etwa zeigt sich der fehlende Abrüstungswille daran, dass das Land die luftgestützte Komponente seiner nuklearen Abschreckung kontinuierlich beibehält. Nach einem Zeitplan aus den 1990er Jahren wurden die ASMP-Luft-Boden-Mittelstreckenraketen (ASMP steht für „Air-Sol Moyenne Portée“) Ende der 2000er Jahre durch die „verbesserte“ ASMP-A ersetzt. Im Rahmen eines 2016 begonnenen Modernisierungsprogramms werden die
beiden vorhandenen strategischen Bomberstaffeln von 2024 bis 2035 mit der erneut überarbeiteten Version ASMPA-R (R steht für „rénové“) ausgestattet. Um 2035 soll eine vierte Generation – die Hyperschallrakete ASN4G, deren Entwicklung seit 2014 bekannt ist und die schätzungsweise bis in die 2050er zum Arsenal gehören soll – die ASMP-R ablösen.
Auch China arbeitet seit den 2010er Jahren intensiv an der strategischen Entwicklung seines Nuklearpotenzials. Hinter den Bemühungen Pekings steht vor allem die auch von Washington und Moskau geteilte (allerdings nicht bewiesene) Überzeugung, ein großes Atomwaffenarsenal stärke den geopolitischen Einfluss. Mit dieser Strategie des „Friedens durch Stärke“ avancierte Peking laut dem „Bulletin of the Atomic Scientists“ mit 600 Sprengköpfen inzwischen zur drittgrößten Atommacht; zu Beginn des Jahrhunderts verfügte China über etwa 200 Sprengköpfe.
Die jüngsten Entwicklungen in den internationalen Beziehungen liefern einen fruchtbaren Boden für das Comeback des atomaren Abschreckungsgedankens. Immer hemmungsloser wird von diesem Element der Verteidigungspolitik Gebrauch gemacht. Eine Vorreiterrolle spielt dabei Russland mit seiner Strategie der „offensiven Abschreckung“. Moskau drohte nach dem Einmarsch in die Ukraine so häufig mit dem Einsatz von Atomwaffen, dass Frankreich 2022 drei seiner vier atomwaffenbestückten U-Boote auslaufen ließ.4
US-Präsident Donald Trump hatte noch 2018 Nordkoreas Kim Jong Un angesichts dessen demonstrativer Atomtests und Drohungen in Richtung Südkorea mit seinem „größeren Atomknopf“ gedroht. Doch seit Beginn seiner zweiten Amtszeit sind an der US-Solidarität mit den Nato-Verbündeten und der Stabilität des amerikanischen Schutzschirms Zweifel aufgekommen.
Vor diesem Hintergrund stößt der von Präsident Macron seit 2017 propagierte Plan, die französische atomare Abschreckung zu europäisieren, auf stärkeres Interesse denn je – insbesondere beim deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz. Bereits 1995 hatten Premierminister Alain Juppé und 2008 Präsident Nicolas Sarkozy für einen solchen Schritt geworben.
Die Kernwaffenstaaten tun oft so, als sei der Bestand ihrer Nuklearwaffenarsenale selbstverständlich und weitgehend folgenlos. Dabei birgt allein schon die fortlaufende Existenz dieser Arsenale die Gefahr, die Glaubwürdigkeit der durch den NVV geschaffenen Ordnung zu untergraben.
Denn dieser Vertrag hat nicht nur zum Ziel, die Weiterverbreitung von Kernwaffen mit Hilfe der 1957 gegründeten Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zu verhindern, sondern auch, die Arsenale zu reduzieren. Dank des NVV, dessen nächste „Überprüfungskonferenz“ im April und Mai 2026 stattfinden soll, konnte die unkontrollierte Weiterverbreitung in der Tat begrenzt werden. Und auch die Säule „Nukleare Abrüstung“ wurde seit den 1990er Jahren teilweise umgesetzt. Heute aber wird dieser Aspekt von den Kernwaffenstaaten weitgehend ignoriert.
Wie sollen die Ziele dieses Vertrags erreicht werden, wenn die Regierungen der Kernwaffenstaaten weiterhin betonen, wie wichtig die Atomwaffen für ihre eigene Sicherheit seien? Mit einer solchen Einstellung können diese Staaten nicht glaubwürdig für die Nichtverbreitung eintreten.
Auf diesen Widerspruch hat etwa Südafrika am 1. Mai 2025 bei der dritten Tagung des Vorbereitungskomitees für die NVV-Überprüfungskonferenz hingewiesen. Denn wenn man sich diese Haltung zu eigen macht, kann es auch keine glaubwürdige Kritik an Russland geben, das 2024 Atomwaffen in Belarus stationiert hat.
Ebenso heuchlerisch ist es, wenn die USA und Israel (das dem NVV nicht beigetreten ist) Iran widerrechtlich angreifen mit Verweis auf die unbewiesene Behauptung, Teheran wolle sich Atomwaffen verschaffen, und zugleich (im Falle der USA) ihren Pflichten bei der nuklearen Abrüstung nicht nachkommen.
Wir laufen Gefahr, in „ein Zeitalter der strategischen Piraterie“ abzudriften, schrieb die neokonservative Politikwissenschaftlerin Thérèse Delpech bereits im Jahr 2005.5 Allerdings hatte sie damals ein „klassisches“ Proliferationsszenario vor Augen, mit den üblichen Verdächtigen Nordkorea, Iran und China. Deren Verhalten könne, so Depech, zu einer Verbreitung von Kernwaffen im Nahen Osten und in Asien führen. Diese Analyse erwies sich zwar als teilweise zutreffend, blendete aber vollständig aus, welche Rolle die westlichen Staaten (Frankreich, Großbritannien und die USA) und ihre Verbündeten bei einer solchen Entwicklung spielen könnten.
Denn auch die großen westlichen Länder gründen ihre Sicherheitspolitik nach wie vor auf nukleare Abschreckung. Im November 2024 entwarf Präsident Macron das Bild einer Welt, die in „Pflanzenfresser und Fleischfresser“ aufzuteilen sei. Damit erweckte er den Eindruck, dass es zwischen „verantwortungsvollen“ und „verantwortungslosen“ Staaten einen klaren Unterschied gäbe.6 Für die derzeitige Sackgasse kann jedoch nicht nur eine bestimmte Art von Regime verantwortlich gemacht werden.
Ob liberal oder autoritär – die Kernwaffenstaaten hängen alle der Abschreckungstheorie und somit einem System an, das permanent damit droht, Massenvernichtungswaffen gegen Städte einzusetzen, in denen das politische und wirtschaftliche Machtzentrum des Gegners verortet wird. Damit akzeptieren sie alle die theoretische Möglichkeit, dass die Zivilbevölkerung vernichtet wird. Eine Grenze zwischen „verantwortungsvollen“ und „verantwortungslosen“ Staaten ist mithin kaum zu ziehen.

Wir müssen Sicherheit anders denken
Zugleich versuchen die Kernwaffenstaaten eine alternative Vision für Sicherheit an den Rand zu drängen, die jedoch von einer Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten unterstützt wird – eine Vision, die auf gemeinsames Handeln auf der Grundlage des Völkerrechts setzt. Ihre Geburtsstunde schlug 2010 auf der achten NVV-Überprüfungskonferenz. In deren Gefolge beschäftigte sich eine Reihe von Studien mit den Konsequenzen vorsätzlicher oder unbeabsichtigter nuklearer Explosionen und mit der Notwendigkeit, ein langfristiges „humanitäres Sicherheitskonzept“ zu entwickeln.
Die „Abrüster“ – also Staaten, die die militärische Nutzung der Atomenergie ablehnen, wie Südafrika, Mexiko, Malaysia, Neuseeland, Österreich und Irland – beschlossen daraufhin, ein weltweites und umfassendes Verbot von Kernwaffen zu fordern, das sich auf Entwicklung, Produktion, Tests, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz erstrecken sollte.
Aus dieser Initiative ging der 2021 in Kraft getretene Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) hervor – eine notwendige Vorstufe zum Ausstieg aus einer Vision von Sicherheit, die sich auf Abschreckung durch Kernwaffen gründet.
Die Erfahrung lehrt, dass Verbote von Waffensystemen ihrer Abschaffung vorausgehen – und nicht umgekehrt. So wurden biologische und chemische Waffen 1972 und 1993 durch entsprechende Konventionen verboten. Das Verbot hatte eine internationale Ächtung zur Folge, die Russland und die USA dazu brachten, solche Waffen aus ihren Arsenalen zu entfernen.
Die gleiche Logik sollte auch bei Atomwaffen angewandt werden, die sogar von politischen Falken wie dem früheren US-Außenminister Robert McNamara als „unmoralisch, illegal und militärisch nutzlos“ bezeichnet wurden.7 Der Atomwaffenverbotsvertrag, den mittlerweile fast einhundert Staaten unterzeichnet haben, verbietet zudem „alle expliziten und impliziten Drohungen mit Atomwaffen“.
Auf ihrer ersten Konferenz im Juni 2022 erklärten die AVV-Vertragsstaaten, man werde „nicht ruhen, bis der letzte Staat dem Vertrag beigetreten ist, der letzte Sprengkopf abgebaut und zerstört wurde und Atomwaffen vollständig von der Erde verbannt worden sind“.8 Die Konferenzen im Rahmen des AVV haben eine intensive Diskussion ausgelöst. Es geht darin um die Frage der von den verschiedenen Staaten angemeldeten „Sicherheitsbedenken“9 und ihre jeweiligen verteidigungspolitischen Konzepte.
Nach Auffassung der AVV-Vertragsstaaten ist die Abschreckungstheorie mit erheblichen Unsicherheiten und dem Risiko „katastrophaler Ereignisse“ verbunden. In der Vergangenheit sei ein drohender Atomkrieg oft „durch Zufall und nicht durch entsprechende Verfahren verhindert“ worden. Konkret verweisen sie etwa auf den Fehlalarm, den der sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrow im September 1983 erst in letzter Minute erkannte.10 Nur seine Besonnenheit verhinderte einen Atomschlag der UdSSR gegen die USA.
Der AVV eröffnet zudem neue Möglichkeiten, die Kernwaffenstaaten im Rahmen der Vollversammlung der Vereinten Nationen stärker unter Druck zu setzen. So wurde 2024 eine Resolution über „das schwere Erbe der Kernwaffen“11 verabschiedet, in der die Notwendigkeit betont wird, die von Kernwaffeneinsätzen (auch Tests) betroffene Umwelt zu sanieren und die Opfer zu entschädigen. Nur vier Staaten (Frankreich, Nordkorea, Russland und Großbritannien) stimmten gegen die Resolution; sechs enthielten sich (die USA, Israel, China, Indien, Pakistan, Polen) und 174 votierten dafür.
Auch eine weitere, direkt mit dem AVV verknüpfte Resolution zu den Auswirkungen eines Atomkriegs und wissenschaftlicher Forschung12 wurde 2024 mit breiter Mehrheit (136 Ja-Stimmen) angenommen und machte den Weg frei für eine UN-Studie über die Konsequenzen eines Nuklearkriegs. Russland, Großbritannien und Frankreich votierten mit Nein. Paris führte als Begründung an: „Wir brauchen keine neue Studie zu den Auswirkungen eines Atomkriegs, denn wir wissen, dass sie verheerend sind.“13 Diese verblüffende Einsicht wirft die Frage auf, warum es eigentlich Untersuchungen über den Klimawandel gibt, obwohl über dessen verheerende Auswirkungen ebenfalls viel bekannt ist.
Innerhalb weniger Jahre hat der Atomwaffenverbotsvertrag dazu beigetragen, Sicherheit in einem größeren Rahmen neu zu denken. Der im September 2024 beschlossene Zukunftspakt der Vereinten Nationen formuliert das „Ziel der vollständigen Beseitigung der Kernwaffen“ (Maßnahme 25) und fordert die Staaten auf, ihre „Verpflichtungen und Zusagen auf dem Gebiet der Abrüstung“ einzuhalten (Maßnahme 26).
Zudem werden einige Prinzipien des AVV immer häufiger in verschiedenen diplomatischen Kontexten, wie etwa der G7, bekräftigt. Selbst in der Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G20 vom November 2022 wurde Artikel 1 des AVV aufgegriffen: Der Einsatz atomarer Waffen und die Androhung ihres Einsatzes seien „inakzeptabel“, hieß es darin.
1 Günther Anders, „Hiroshima ist überall“, München (C. H. Beck) 1982.
2 „Status of World Nuclear Forces“, Federation of American Scientists, 26. März 2025.
4 Siehe Olivier Zajec, „Von der Kubakrise lernen“, LMd, April 2022.
5 Thérèse Delpech, „L’Ensauvagement. Le retour de la barbarie au XXIe siècle“, Paris (Grasset) 2005.
7 Richard Norton-Taylor, „McNamara attacks UK nuclear policy“, The Guardian, 4. Juni 2005.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Jean-Marie Collin ist Direktor der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen in Frankreich (Ican France).