07.08.2025

Leben wir im Technofeudalismus?

zurück

Leben wir im Technofeudalismus?

Big Tech ist das neue Feindbild der Linken. Sie vergleichen die Geschäftspraktiken von Amazon, xAI und Co. neuerdings mit dem Lehnswesen aus dem Mittelalter. So hätten immaterielle Vermögenswerte wie Daten und Algorithmen eine neue Form von Feudalrente hervorgebracht. Doch stimmt diese Analyse?

von Evgeny Morozov

Lagerhalle von Amazon storage in Tepotzotlan (Mexiko), 22. Mai 2025 MARCO UGARTE/picture alliance/ap
Audio: Artikel vorlesen lassen

Von Paris bis Madrid wird die europäische Linke gerade vom sogenannten Technofeudalismus heimgesucht. Jean-Luc Mélenchon, Gründer der Bewegung La France insoumise, fordert einerseits Gewinnsteuern von den neuen „digitalen Feudalherren“, andererseits schreibt er, dass die Künstliche Intelligenz (KI) „nicht außerhalb der kapitalistischen Realität steht: Sie ist Teil eines Technofeudalismus, in dem einige wenige Akteure die Feudalrenten einstreichen.“ Gewinne oder Renten? Kapitalismus oder Feudalismus? Mélenchons Wirtschaft ähnelt Schrödingers Katze, die durch die Straßen von Palo Alto streunt: Sie ist lebendig und tot, kapitalistisch und feudal.

Auch die stellvertretende Ministerpräsidentin Spaniens, Yolanda Díaz, prangert den „Technofeudalismus des Magnaten Elon Musk“ an. Die Tech-Milliardäre, warnt sie, wollten „die Demokratien in Monarchien verwandeln, die den Großkonzernen hörig sind“. Und der italienische Grünen-Politiker Angelo Bonelli wirft Musk „autokratischen Neofeudalismus“ vor. Sein Land, fordert er, müsse sich zwischen „Musk oder Demokratie“ entscheiden.

In Zeiten des Trump’schen KI-Kapitalismus haben diese Einlassungen zum Neofeudalismus allein schon wegen ihres schlechten Timings etwas Tragikomisches. Im Mai kam Donald Trump von seiner Reise in die Golfregion mit riesigen Investitionsversprechen im Gepäck zurück. Saudi-Arabien will 600 Milliarden US-Dollar, Katar 1,2 Billionen und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) wollen sogar 1,4 Billionen US-Dollar in seine KI-­Infra­struk­tur, made in USA, stecken. Im Februar hatte bereits Japan 1 Billion US-Dollar zugesagt. Als der Open­AI-­Gründer Sam Altman letztes Jahr erklärte, er wolle 7 Billionen US-Dollar akquirieren, hielt man das für einen Scherz. Heute würde man ihm mangelnden Ehrgeiz vorwerfen.

Kapitalistische Exzesse im KI-Universum

Big Tech wird von einem regelrechten Investitionstsunami überrollt: Allein Meta, Microsoft, Alphabet und Amazon investieren in diesem Jahr 320 Milliarden US-Dollar in KI-Infrastrukturen, gegenüber 246 Milliarden 2024. Das KI-Start-up Thinking Machines Lab hat 2 Milliarden US-Dollar eingesammelt, ohne auch nur eine Beta-Version vorweisen zu können. Unter KI-Experten (und Hochstaplern) herrscht Goldgräberstimmung. Um Ingenieure abzuwerben, lockt Meta mit Prämien von 100 Millionen US-Dollar. Dem ehemaligen Leiter von Apples AI Models wurde sogar das Doppelte angeboten.

Vollends auf die Spitze getrieben werden die kapitalistischen Exzesse von Musks Unternehmen xAI, das in nur zwei Jahren 17 Milliarden US-Dollar eingesammelt hat und jeden Monat 1 Milliarde verbrennt. Im Vergleich dazu erscheinen die Verhältnisse der ersten Generation von Tech-Giganten nahezu bescheiden: Tesla startete mit einem Kapital von 7,5 Millionen US-Dollar, Google mit 1 Million und Amazon mit 8 Millionen. Und xAi? Das Unternehmen hat 3 bis 4 Milliarden Dollar ausgegeben, um in nur 122 Tagen den Supercomputer Colossus zu bauen – Experten hatten dafür zwei Jahre veranschlagt.

Im kapitalistischen Wettbewerb gehen die KI-Giganten zudem kaum für möglich gehaltene Allianzen ein. Man schreibt seinen Erzfeinden Schecks aus, während man hinterrücks die Messer wetzt. BlackRock, Microsoft und xAI hatten schon 30 Milliarden Dollar von insgesamt geplanten 100 Milliarden für KI-Infrastrukturen zusammengelegt, als US-Präsident Trump das Projekt Stargate ankündigte, mit Zusagen von OpenAI, Oracle und SoftBank, die über einen Zeitraum von vier Jahren 500 Milliarden US-Dollar investieren wollen. Dass Microsoft auch einer der Hauptinvestoren von OpenAI ist, spielt offenbar keine Rolle – zwischen den beiden Unternehmen kriselt es ohnehin schon länger.

Datenakkumulation, digitale Festungen und selbst Patente schützen vor der Konkurrenz in etwa so gut wie ein Regenschirm vor dem Monsun: Der Monopolist von heute ist womöglich der Versager von morgen. So fordert die Wall Street den Kopf von Apple-Chef Tim Cook, weil er Apples KI-Strategie

nicht richtig umgesetzt haben soll. Der aktuelle Preiskampf zeugt von heftigen Turbulenzen. Zum ersten Schlag holte xAI aus, als es die Preise der Marktriesen wie OpenAI unterbot. Dann schockierte das chinesische Unternehmen DeepSeek mit seiner Behauptung, mit einem Bruchteil der Kosten eine KI entwickelt zu haben, die dem Chatbot ChatGPT von OpenAI überlegen sei.

Den größten Kurssturz in der Geschichte der US-Börse löste der weltweite Marktführer für KI-Computing aus: Nvidia verlor innerhalb weniger Stunden 600 Milliarden US-Dollar an Marktwert, holte die Kursverluste aber innerhalb weniger Tage wieder auf. Es folgte ein Gemetzel: Bei OpenAI purzelten die Preise wie in einem Ramschladen zum Schlussverkauf: GPT-4.1 verbilligte sich um 26 Prozent, das Flaggschiffmodell o3 sogar um selbstmörderische 80 Prozent. Damit zog OpenAI die gesamte Branche in eine Deflationsspirale, der einige Akteure zum Opfer fallen könnten.

Das ist Kapitalismus pur, und man fragt sich, warum europäische Politiker immerfort von Feudalismus sprechen, wenn sie die Techbranche geißeln wollen. Offensichtlich ist die Linke der zugegebenermaßen attraktiven, jedoch trügerischen Vorstellung aufgesessen, dass die Techindustrie dem Kapitalismus den Garaus macht. Und so schießen die apokalyptischen Prognosen schneller aus dem Boden als Start-ups im Silicon Valley.

Die Essayistin McKenzie Wark schlug bereits 2019 Alarm, dass sich der Kapitalismus an der Informationswirtschaft verschluckt habe. Unsere neuen Herren – die sie Vektorialisten nennt, weil sie nicht mehr die Produktion, sondern die Informationsvektoren kontrollieren – machten aus jedem Smartphone ein mit unseren Daten gefülltes „Mineral-Sandwich“.1

Von da wurden immer mehr Bücher zum Technofeudalismus veröffentlicht: In „Techno-féodalisme“2 analysiert Cé­dric Durand detailliert die Symptome des Neofeudalismus. Die nach der Weltfinanzkrise von 2008 beschlossenen Rettungspläne hätten zu noch mehr Enteignungen und Parasitismus geführt. Seine Diagnose: Immaterielle Vermögenswerte wie Daten und Algorithmen, die an strategischen Punkten der Wertschöpfungskette konzentriert sind, hätten eine neue Form von Feudalrente hervorgebracht. Sie erlaube es den Techgiganten, den Mehrwert zu vereinnahmen, ohne selbst noch produzieren zu müssen.

Der jüngste Beitrag stammt von Jodi Dean, die in „Capital’s Grave“3 beschreibt, wie die Prinzipien des Wirtschaftssystems selbst zu einer Kannibalisierung geführt haben. Investitionen, Wettbewerb und Fortschritt beruhten nun darauf, zu horten, auszubeuten und zu zerstören. In diesem neuen Feudalismus verkaufen wir, so ihre These, nicht mehr nur unsere Arbeitskraft, sondern bezahlen auch noch für das Privileg, ausgebeutet zu werden.

Doch die mit Abstand lauteste Stimme im technofeudalen Konzert ist kein Geringerer als der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. Sein Beitrag4 ist ein Abgesang auf den Kapitalismus, der 2008 gestorben sei. Es sei uns nur nicht aufgefallen, weil wir am Bildschirm gehangen hätten.

Während Wark dem System den Puls fühlt und Durand die Metastasen im System wachsen sieht, beobachtet Dean den Kapitalismus dabei, wie er sein eigenes Grab schaufelt. Und Varoufakis stellt die Sterbeurkunde aus.4 Nein, dieses System liege nicht in den letzten Zügen und befinde sich auch nicht im Wandel. Es sei von seinem eigenen Sprössling, dem „Cloud-Kapital“, ermordet worden – wobei „Cloud“ die digitale Infrastruktur bezeichnet, in der Daten gespeichert und verarbeitet werden.

Varoufakis’ Theorie besticht durch ihre Klarheit. Im Kapitalismus, erklärt er, konkurrierten Unternehmen auf agilen, fluiden und dezentralisierten Märkten, um von den durch sie hergestellten Waren zu profitieren. Je effizienter diese sind, desto höher seien die Gewinne – und desto größer seien unter sonst gleichen Bedingungen die Vorteile für die Gesellschaft. Deshalb würden die Geräte immer billiger und technisch ausgefeilter.

Die digitale Wirtschaft habe jedoch die Säulen des Systems zerstört, nämlich die Märkte und Gewinne. Der Gewinn (das Ergebnis von Wettbewerb und Produktion) sei durch die Rente (das Ergebnis von Kontrolle) ersetzt worden. Die Kapitalisten stellten Produkte her, während sich die Herren der digitalen Welt damit begnügten, die unter ihrer Kontrolle befindlichen Onlineressourcen zu monetarisieren.

Der Grund, warum man E-Com­merce-­Plattformen wie Amazon oder Ali­ba­ba „nicht als Märkte ansehen kann, ist, dass die Algorithmen der Clou­da­lis­ten es schaffen, alle Käufer und genauso alle Verkäufer voneinander zu isolieren. In der Folge kon­zen­triert der Algorithmus des Cloudalisten in sich die Macht, Käufer und Verkäufer zusammenzubringen – und das ist das Gegenteil zu dem, was Märkte sein sollen: dezentralisiert“ (S. 329). In der Analogie, die Varoufakis zum mittelalterlichen Lehnswesen zieht, ist Jeff Bezos der Lehnsherr, der den Verkäufern auf seiner Plattform „gegen Gebühr cloudbasierte digitale Lehen“ überlässt.

Leibeigene in der Cloudwirtschaft

Die „Cloudalisten“, ein Neologismus, mit dem Varoufakis die Besitzer von Cloud-Kapital bezeichnet, hätten die guten alten Kapitalisten zu „Vasallen“ degradiert, die um Zugang zu den Plattformen betteln müssen – denn schon mit der Entfernung von ein oder zwei Links aus Googles Suchmaschine oder von ein paar E-Commerce- und Social-Media-Seiten könnten diese „Vasallen-Kapitalisten“ komplett aus der Onlinewelt verschwinden: Willkommen zurück, brutale Gewalt des Feudalismus! Willkommen im „aseptischen Tech-Terror“, in der „Cloud-Proles“ – wie Va­rou­fa­kis die bezahlten Arbeitskräfte nennt– von cloudbasierten ­Algorithmen „an ihre körperlichen Grenzen getrieben werden“.

Während Kapitalisten nur ihre Beschäftigten ausbeuten können, profitierten die Cloudalisten von „universeller Ausbeutung“, das heißt von „Cloud-Leibeigenen“, die unbezahlt arbeiten, um den Bestand an Cloud-Kapital zu erhöhen. So seien wir alle in Cloud-Leibeigene verwandelt worden, „die an ihren Smartphones und Tablets kleben und eifrig das Cloud-Kapital produzieren, das dafür sorgt, dass unsere neuen Lehnsherren weiter auf Wolke sieben schweben“ (S. 133).

Ein zentraler Punkt in Varoufakis’ These ist, dass unsere neuen Herren ihre Produkte nicht zum Verkauf anbieten. Die Suchergebnisse seien ebenso kostenlos wie die Antworten von Alexa, der virtuellen Sprachassistentin von Amazon. Soziale Netzwerke verlangten zwar keine Gebühren von ihren Nutzern, doch diene der Service dazu, „unsere Aufmerksamkeit zu fesseln und zu kommerzialisieren“. Selbst wenn die „Big-Tech-Cloudalisten“ für den Zugang zu KI-Tools wie ChatGPT eine Gebühr verlangen oder Geräte verkaufen wie Alexa, „verkaufen sie diese nicht als Waren“, sondern um „Zugang zu unseren Wohnungen zu finden und, wichtiger noch, zu unserer Aufmerksamkeit“ (S. 190). Diese Macht über unsere Aufmerksamkeit ermögliche es den Cloudalisten, Cloud-Renten von den Vasallen-Kapitalisten zu erheben, „die das altmodische Geschäft betreiben, ihre Waren zu verkaufen“.

Varoufakis beschreibt den Wandel des Systems so: Früher hätten die Kapitalisten Fabriken und Maschinen gebaut und alle möglichen Tricks angewendet, um ihre Beschäftigten maximal ausbeuten zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat die Figur des Managers beziehungsweise Effizienz-Experten auf den Plan, der mit Stoppuhr und Notizblock alle Arbeitsstätten– von den Fabrikhallen bis zur Börse – in Fließbandbetriebe verwandelte. Daneben entstand mit der Werbeindustrie eine neue Branche, die nicht nur Produkte verkaufte, sondern via dem neuen Medium Fernsehen neue Bedürfnisse weckte. Werbeindustrie und Medien verschafften damit den Großunternehmen eine bis dahin beispiellose Macht in einem System der doppelten Ausbeutung: Von neun bis fünf hatte man zu schuften, von fünf bis neun wurde man als Konsument ausgebeutet.

Dank der Algorithmen aus dem Silicon Valley wird die Produktivität noch effizienter und kostengünstiger kon­trol­liert als von einer Armee von Vorarbeitern. Sie arbeiten rund um die Uhr und beeinflussen ständig unser Verhalten. Sie kontrollieren uns nicht nur als Arbeitnehmende und manipulieren uns als Konsument:innen, sondern lassen uns auch – kostenlos – an unserer eigenen Überwachung mitarbeiten. Mit jeder Suche, jedem Klick und jedem Download zieht sich die Schlinge enger.

So ist eine neue Klasse von Ausbeutern entstanden, die Varoufakis die „Clou­da­lis­ten“ nennt. Wer einen Bildschirm berührt, werde zum digitalen Leibeigenen – und Kleinunternehmer mutierten zu Vasallen, die ihre Rentenzahlungen entrichten müssen. Die Maschine versorge sich selbst: Datenakkumulation, Beeinflussung des Verhaltens, Machtkonzentration, Rentensteigerung, Perfektionierung der Algorithmen. In diesem fortwährenden Ausbeutungsprozess seien wir sowohl Kraftstoff als auch Produkt.

Es ist die ultimative Paradoxie, dass sich der Kapitalismus durch seinen eigenen Erfolg selbst zerstört. Oder, wie Varoufakis schreibt, dass „der Kapitalismus verkümmert als Folge von blühenden kapitalistischen Aktivitäten“. Seine Gier nach Disruption habe seinen feudalen Nachfolger hervorgebracht. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren Sozialdemokraten wie der Finanzminister der Weimarer Republik, Rudolf Hilferding, der Meinung, das kapitalistische System ebne den Weg zum Arbeiterparadies. Varoufakis hingegen hat eine weitaus düsterere Entwicklung im Blick.

Monopolisten und Netzkleptomanen

Was ist von dieser provokanten Theorie zu halten? Auf den ersten Blick scheint sie schlüssig zu sein, ist sie doch durch entsprechendes Material unterfüttert, um Skepsis erst gar nicht aufkommen zu lassen. In dieser Hinsicht ähnelt Varoufakis’ Buch Shoshana Zuboffs bekanntem Werk „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“.5

Beide Au­to­r:in­nen scheinen überzeugt davon zu sein, „Das Kapital“ des 21. Jahrhunderts geschrieben zu haben. Doch in ihrem Bestreben, Marx nachzueifern, kopieren sie eigentlich nur Charles Dickens und produzieren ein als Sozialtheorie getarntes viktorianisches Melodram. Die abstrakte, aber empirisch fundierte Theorie weicht der eloquenten Beschreibung eines unmenschlichen Systems. Tausend ergreifende Geschichten ergeben aber noch keine solide Theorie, selbst wenn man noch so viele Begriffe und Konzepte einführt.

Weil Varoufakis und Zuboff ein breites Publikum ansprechen wollen, lassen sie eine ganze Reihe von trockenen technischen Details außer Acht, wie etwa die Beziehungen zwischen Staat und Kapital, die Produktion und die Transaktionen zwischen den Unternehmen. So gelangen sie ohne größere argumentative Probleme zu der Schlussfolgerung, dass die Techgiganten die Räder des Konsums schmieren, indem sie andere Unternehmen direkt (Amazon) oder indirekt (Google und Face­books Werbegeschäfte) beim Absatz ihrer Produkte unterstützen.

Schaut man sich die Zahlen an, sieht die Sache schon anders aus. Denn die Techgiganten tragen auch zur Produktivität der Unternehmen bei. Amazon Web Services (AWS), der Cloud-Computing-Anbieter von Jeff Bezos, bedient 2 Millionen Fir­men­kun­d:in­nen und hat 2024 die Marke von 100 Milliarden Dollar Umsatz überschritten. Wenn etwa Netflix jährlich 1 Milliarde US-Dollar an AWS entrichtet, ist das keine Feudalrente, sondern ein Honorar für die digitale Infrastruktur zum Streamen.

Man kann auch nicht behaupten, wie Varoufakis es tut, dass Amazon seine Webdienste mit personenbezogenen Daten aufbaut, die eine Armee von Alexa-Geräten zuvor abgeschnorchelt hat. Das Unternehmen ging vielmehr wie ein Kapitalist alter Schule vor und investierte seit 2014 hunderte Milliarden US-Dollar in die AWS-Infrastruktur. Heute generiert das Tochterunternehmen 58 Prozent des Betriebsergebnisses, obwohl dieser Geschäftsbereich nur 17 Prozent des Gesamtumsatzes von Amazon erwirtschaftet. In Wahrheit verdient der multinationale Konzern damit sein Geld – und nicht mit den Marktplatzgebühren, auf die Varoufakis so fixiert ist.

Ruht sich hier ein Riese auf regelmäßigen Rentenzahlungen aus? Wohl kaum, wenn man sich den historischen Kapitaleinsatz von 100 Milliarden US-Dollar anschaut, den Amazon allein 2025 fast ausschließlich in KI-Infrastrukturen investieren will. Man spräche ja auch nicht von Feudalismus, wenn ein Unternehmen irrwitzige Summen in eine Erntemaschine steckt, um Landwirten höhere Erträge zu ermöglichen.

Zweifellos wird die künstliche Intelligenz vom endlosen Scrolling in den sozialen Netzwerken genährt. Fortschritte erzielt sie aber nicht durch privat gepostete Katzenfotos, sondern durch Bücher von echten Menschen, die bei Verlagen unter Vertrag stehen und vom Silicon Valley ausgeplündert worden sind. So hat Meta 82 Tera­byte an Daten aus der Schattenbibliothek Library Genesis abgesaugt. Und Open­AI hat GPT-3 mit dem Textkorpus „Books2“ trainiert, der höchstwahrscheinlich aus zweifelhaften Internetquellen zusammengestellt wurde.

Bis eines Tages die Verlagsanwälte bei den Netzkleptomanen an die Tür klopften und Lizenzen einklagten. Im Mai 2024 einigten sich OpenAI und Murdochs Medienkonglomerat News Corp, zu dem unter anderem das Wall Street Journal gehört, auf eine Fünfjahreslizenz über 250 Millionen US-Dollar. Im August desselben Jahres schloss das altehrwürdige New Yorker Verlagshaus Wiley eine KI-Partnership über 44 Mil­lio­nen US-Dollar ab. Und Harper­Collins brachte es sogar auf 5000 US-Dollar pro Titel für die Nutzung der Inhalte für KI-Trainings. Die Summe teilt sich das Verlagshaus mit den Autor:innen.

Zahlreiche andere Verlage warten noch auf ein Angebot. Doch während sich die Digitalindustrie mit ihrer „fairen Nutzung“ von Quellen brüstet, entdecken Au­to­r:in­nen immer wieder, wie ihre wertvolle Arbeit in einem Eintopf aus Metadaten versinkt. So hat Meta noch immer keinen Cent für die ansehnliche Beute gezahlt, die es mit der File­sha­ring-­Software BitTorrent gemacht hat.

All das war durchaus vorhersehbar. Schließlich zieht die KI ihre Nahrung nicht aus dem endlosen Geschwätz in den sozialen Netzwerken, sondern aus professionell erstellten Inhalten. Deshalb waren die Tech-Unternehmen – allen voran Google – anfangs auch Piraten, bevor sie ins Lager der Mäzene wechselten. Das ist Kapitalismus in Reinform: erst expropriieren und dann im Bedarfsfall so geschickt wie möglich verhandeln und rechtfertigen.

Noch mal zu Amazon: Es stimmt zwar, dass die Nut­ze­r:in­nen durch die Algorithmen des Unternehmens manipuliert und seine Ver­sand­ar­bei­te­r:in­nen wie Zitronen ausgepresst werden. Doch Amazon ist – auch wenn das Varoufakis nicht ins Konzept passen mag – vor allem ein riesiger, in vielen Bereichen ganz und gar nicht virtueller Industriebetrieb, mit weltweit 1,55 Millionen Beschäftigten und mehr als 600 Logistikzentren in den USA und weiteren 185 in der ganzen Welt. 2024 hat das Unternehmen 1,5 Millionen Quadratmeter zusätzlich angemietet. Außerdem plant es den Bau von 170 ­neuen Anlagen und Investitionen in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar, um die Lagerkapazitäten zu vergrößern. Bis 2026 wird Amazon allein 4 Milliarden US-Dollar investiert und 210 neue Verteilzentren in ländlichen Gebieten gebaut haben, um auch die abgelegensten Orte in den Vereinigten Staaten beliefern zu können.

Wer über Amazon verkauft, muss tatsächlich hohe Gebühren von in der Regel 15 Prozent zahlen – zuzüglich Lagerung und Versandkosten. Einige Händler beziffern die Gebührenbelastung sogar auf 40 Prozent ihrer Einnahmen. Dafür haben sie aber auch Zugang zu einer Infrastruktur, deren Aufbau sie in Eigenregie hunderte Milliarden US-Dollar kosten würde. Diese Infrastruktur besteht aus automatisierten Lagerhallen, einer Zustellflotte mit einer Kapazität, die größer ist als die der meisten Postdienste, und dem Service, dass Waren innerhalb eines Tages an die Bestelladresse geliefert werden können. Vor zehn Jahren war das noch Science-Fiction.

Die uralte Dialektik des Kapitalismus

Varoufakis bezeichnet sich zwar als „erratischen Marxisten“ mit libertären Neigungen. Doch seine Ausbildung ist die des neoklassischen Ökonomen, für den Wirtschaft eine Gleichung ist und keine blutige Jagd. Vielleicht kommt daher auch sein anrührender Glaube, dass es im klassischen Kapitalismus, bis er durch den Taylorismus, die Werbeindustrie und schließlich das Silicon Valley ruiniert wurde, wie in einer Art Gentleman-Club zuging, wo stets das beste Produkt in einem fairen Wettbewerb das Rennen gewann. Varoufakis glaubt auch, dass die Kapitäne des Big Business im frühen 20. Jahrhundert, die Edisons, Fords und Westinghouses, sicher als Erste erkannt hätten, „dass die Cloudalisten heute sagenhaft reich werden, ohne dass sie die Produktion irgendeiner Ware organisieren müssen“ (S. 191).

Laut Varoufakis seien Tech-Unternehmen sowohl von dem Marktdruck befreit, immer billigere, bessere Waren produzieren zu müssen, als auch „von der beständigen Furcht, ein Konkurrent könnte mit einem eigenen Produkt um die Ecke kommen und ihnen ihren Marktanteil rundweg stehlen“. So stehe das soziale Netzwerk Tiktok nicht wirklich in Konkurrenz zu Facebook. Dass Tiktok erfolgreich die Aufmerksamkeit von Nut­ze­r:in­nen von anderen Social-Media-Webseiten abgezogen habe, hätte nichts damit zu tun, dass es niedrigere Preise verlangt, sondern weil Tiktok ein neues Cloud-Lehen geschaffen habe für „Cloud-Leibeigene, die eine andere Online-Erfahrung suchen“.

Analog dazu bot Disney+ dem Publikum auch nicht die Filme und Serien von Netflix zu einem niedrigeren Preis an oder in höherer Auflösung, sondern „es bot Filme und Serien, die es auf Netflix nicht gab. Walmart unterbot nicht Amazons Preise oder verbesserte die Qualität seiner Waren – es nutzte seine eigenen Daten, um mehr Nutzer in sein neu geschaffenes Cloud-Lehen zu locken. (S. 192 f.).

Varoufakis glaubt hier eine tiefe Wahrheit des modernen Kapitalismus entdeckt zu haben. Dabei beschreibt er doch nur die ewig gleiche Funk­tions­weise des Systems. Es stimmt zwar, dass es keinen echten Wettbewerb zwischen den Plattformen gibt. Aber die Konkurrenz der Anbieter beruhte noch nie ausschließlich auf der Qualität und dem Preis der Produkte.6 Unternehmen bemühen sich seit eh und je um Kundenbindung, die Herstellung exklusiver Waren und den Aufbau eigener Netzwerke. Und natürlich haben sie auch immer versucht, alle ihnen zur Verfügung stehenden Vorteile zu nutzen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass diese – ohne staatliche Garantien in der Regel nur vorübergehend bestehenden Vorteile – heute eher digitaler als physischer Natur sind.

Durch seine libertäre Brille sieht Varoufakis nicht, dass der Wettbewerb selbst eine Form von Zwang ist. Als Marxist wird er zwar einräumen, dass Kapitalisten Zwang auf Arbeitnehmende ausüben. Dass die Kapitalisten aber selbst unter dem Zwang des Marktes stehen, der sie nicht immer nur zu besserer und billigerer Produktion antreibt, wird er aber wohl nicht unterschreiben. Marx hatte das verstanden: Das Kapital fließt dorthin, wo sich die besten Gewinnperspektiven bieten, und setzt dabei mal auf Innovationen, mal auf Ausbeutung oder beides. Diese Dialektik ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Dieser permanente Prozess treibt die Kapitalisten in einen Krieg aller gegen alle, aus dem sie ebenso wenig entkommen können wie Fische aus dem Wasser.

So mächtig Apple auch sein mag, als multinationales Unternehmen ist es abhängig vom globalen Kapital. Das Unternehmen kann zwar ähnlich einem mittelalterlichen Zöllner 15 bis 30 Prozent Gebühren auf die im App Store angebotenen Anwendungen erheben. Das ändert aber nichts daran, dass es sich durch seinen Rückstand in Sachen KI bedroht fühlt.

Dieser Nachholbedarf hat Apple bereits den Zorn der Wall Street eingebracht – und führt morgen womöglich zur Abwanderung von Nutzern zu anderen Betriebssystemen wie An­droid und HarmonyOS von Huawei, das Ap­ples Betriebssystem iOS in China bereits den Rang abgelaufen hat. Mit der Ablösung von COO Jeff Williams, der Nummer zwei von Apple, sollen die Skeptiker beschwichtigt werden. Damit offenbart Apple eine traurige Wahrheit: Die autoritäre Kontrolle, die das Unternehmen über die App-Entwickler:innen ausübt, ist nichts im Vergleich zu den Diktaten der Kapitalmärkte.

Was Varoufakis nicht sieht: Wenn es in diesem Drama einen Feudalherren gibt, ist es das Kapital selbst. Zu Marx’ Zeiten war das nicht anders. Der Ausdruck „demokratischer Kapitalismus“ ist ein Widerspruch in sich, denn im Kapitalismus entscheidet allein die Armee der Wall-Street-Analyst:innen. Wenn sie die Integration von KI in das iPhone fordern, wird Apple dem ganz sicher nachkommen.

Varoufakis versteht sich gut darauf, einzelne Mikromärkte zu sezieren. Es gelingt ihm aber nicht, den systemischen Krieg zu begreifen, der die Kapitalisten zerreißt. Dabei hat ihm sein früheres Amt als griechischer Finanzminister viel Anschauungsmaterial geliefert. Doch anstatt zu versuchen, die Logik des Wirtschaftssystems in seiner Gesamtheit zu begreifen, konzentriert er sich auf Einzelkomponenten. Das ist ein fataler Fehler. Ginge ein Automechaniker genauso vor, bekäme er keinen Motor mehr zum Laufen.

Der Technofeudalismus ist ein Märchen, das die wahre Geschichte verschleiert: Mit der unangefochtenen Vorherrschaft der Techgiganten kommt ein Prozess zum Abschluss, der vor 70 Jahren begann.7 Hand in Hand haben die Wall Street, das Silicon Valley, das Pentagon und die CIA systematisch auf die Zermürbung aufmüpfiger Länder hingearbeitet, die nach echter technologischer und wirtschaftlicher Souveränität strebten. Dass Staaten heute Geld für die Bereitstellung digitaler Souveränität – Stichwort Sovereignty-as-a-Service – ausgeben müssen, ist eine Ironie des Schicksals. Aber keine Sorge: Microsoft, Palantir und Co. werden alle Bedürfnisse zu einem erschwinglichen Preis erfüllen.

Die Theorie vom Technofeudalismus ist aber nicht nur verlockend; sie ist auch gefährlich, weil sie den Fokus auf comichafte Bösewichter (Bezos, Musk und Zuckerberg) und Pseudolösungen lenkt („Bildet Genossenschaften!“, „Die Zentralbanken sollten Kryptowährungen ausgeben!“, „Her mit der Datenübertragbarkeit!“). Und sie lässt uns glauben, dass wir uns in einem Kampf gegen mittelalterliche Feudalherren befinden, obwohl der Gegner ganz woanders zu suchen ist. Es ist an der Zeit, den Kapitalismus beim Namen zu nennen.

1 McKenzie Wark, „Capital Is Dead: Is This Something Worse?“, London (Verso) 2019.

2 Cédric Durand, „Techno-féodalisme. Critique de l’économie numérique“, Paris (La Découverte) 2020. Darin knüpft der Autor an frühere Überlegungen aus seinem Buch „Le Capital fictif. Comment la finance s’approprie notre avenir“, Paris (Les Prairies ordinaires) 2014, an.

3 Jodi Dean, „Capital’s Grave: Neofeudalism and the New Class Struggle“, London (Verso) 2025.

4 Yanis Varoufakis, „Technofeudalism: What Killed Capitalism“, London (Bodley Head) 2023; die im Folgenden mit Seitenzahlen angegebenen Zitate stammen alle aus der deutschen Fassung: „Technofeudalismus: Was den Kapitalismus tötete“, München (Kunstmann) 2024.

5 Siehe auch Shoshana Zuboff, „Google sucht dich. Willkommen im Überwachungskapitalismus“, LMd, Januar 2019.

6 Siehe Anwar M. Shaikh, „Capitalism: Competition, Conflict, Crises“, Oxford (Oxford University Press) 2016.

7 Siehe „Kalte Krieger im Silicon Valley“, LMd, Mai 2023.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Evgeny Morozov ist Autor sowie Gründer und Herausgeber der nichtkommerziellen Wissensplattform The Syllabus.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2025, von Evgeny Morozov