12.06.2025

Gaza und das Völkerrecht

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Gaza und das Völkerrecht

Warum man von Genozid sprechen muss

von Insaf Rezagui

Gazasolidaritätsprotest vor dem IGH in Den Haag, 18. Mai 2025 PHIL NIJHUIS/picture alliance/anp
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Am 23. März wurden im Süden des Gazastreifens nahe Rafah acht Angehörige des palästinensischen Roten Halbmonds, sechs Zivilschutzkräfte und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen von israelischen Soldaten getötet und in einem Massengrab verscharrt.

Die humanitären Helfer waren klar als solche erkennbar: Sie trugen reflektierende Kleidung und waren in drei Krankenwagen des Roten Halbmonds, einem Feuerwehrauto und einem UN-Fahrzeug unterwegs.

Seit Beginn des Gazakriegs im Oktober 2023 wurden über 400 Menschen getötet, die humanitäre Aufgaben erfüllten, und weitere 1300, die im Gesundheitsbereich tätig waren. Artikel 8 des Römischen Statuts – die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) – wertet „vorsätzliche Angriffe auf Personal, Einrichtungen, Material, Einheiten oder Fahrzeuge, die an einer humanitären Hilfsmission beteiligt sind“, als Kriegsverbrechen. Die Genfer Abkommen von 1949 verpflichten die Konfliktparteien, den Schutz von Verletzten sicherzustellen und insbesondere dem Roten Kreuz und dem Roten Halbmond zu ermöglichen, „ihre Dienste anzubieten“.

Die Morde vom 23. März sind Teil eines umfassenden und methodischen Angriffs gegen das palästinensische Gesundheitswesen, indem die Israelis Krankenhäuser bombardieren und medizinische Einrichtungen durch das Sperren der Wasser- und Stromversorgung lahmlegen. Was das bedeutet, hat der IStGH in seiner Begründung der Haftbefehle gegen Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen damaligen Verteidigungsminister Yoav ­Galant (vom 21. November 2024) beschrieben: Verwundete sterben; die Versorgung mit medizinischen Geräten und Arzneimitteln „und insbesondere mit Narkosemitteln und Anästhesieausrüstung“ wird bewusst behindert; Ärzte müssen „ohne Betäubung Verletzte operieren und Amputationen vornehmen, auch bei Kindern“.1

Diese Zerstörung des Gesundheitswesens macht das Leben in Gaza unmöglich. Der Küstenstreifen unterliegt bereits seit 2006 einer weitgehenden Blockade und ist durch unablässige Militäroperationen mittlerweile fast komplett verwüstet. Vom 2. März bis zum 20. Mai 2025 blockierten die is­rae­li­schen Behörden ausnahmslos alle Hilfslieferungen in die Enklave, was gegen bindende Regeln des Völkerrechts verstößt. Damit schafft Israel nach dem Diktum des IStGH „gezielt Lebensbedingungen, die auf die Zerstörung eines Teils der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen abzielen“. Das Gebiet wird so, wie es UN-Generalsekretär António Guterres am 8. April formulierte, zu einem „killing field“2 , mehr als zwei Millionen Menschen werden zum Opfer einer – ebenfalls völkerrechtswidrigen – Kollektivbestrafung. Was gegenwärtig in Gaza und in Palästina insgesamt auf dem Spiel steht, ist die schiere Existenz des palästinensischen Volks.

All das wird weiterhin nicht geahndet, weder auf internationaler Ebene noch in Israel. Gegen einzelne politisch und militärisch Verantwortliche, die der Verletzung des Völkerrechts beschuldigt werden, liegen zwar Haftbefehle des IStGH vor, doch die blieben bisher folgenlos. Und das, obwohl die rechtliche Bewertung der von der is­rae­li­schen Armee durchgeführten Operationen mit jedem der zahlreichen Gazareporte, die UN-Experten und zivilgesellschaftliche Organisationen vorlegen, immer eindeutiger ausfällt.3

Auch die berufenen Hüter des Völkerrechts kommen zu dem Schluss, dass es in Gaza massiv und systematisch verletzt wird – so lautet es in den Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in dem Verfahren, das Südafrika im Dezember 2023 wegen eines möglichen Verstoßes gegen die 1948 beschlossene „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ eingeleitet hat und dem mittlerweile viele Staaten beigetreten sind. In dieselbe Richtung gehen die laufenden Ermittlungen des IStGH-Chefanklägers Karim Khan gegen is­rae­li­sche Funktionsträger.

Beide Gerichte stellen ausdrücklich fest, die fraglichen Aktionen richteten sich gezielt gegen die Zivilbevölkerung. Damit verwerfen sie die offiziellen Erklärungen Israels, wonach sie Teil eines „Kriegs gegen die Hamas“ seien. Im Übrigen bekennt sich Netanjahus Verteidigungsminister Israel Katz ganz offen zu dieser illegalen Strategie. „Die Ausweitung der Operation von heute Morgen“, schrieb er am 2. April 2025 auf X, „wird den Druck auf die Hamas-Mörder und auch auf die Bevölkerung von Gaza erhöhen.“

In seinen faktenreichen und rechtlich ausführlich begründeten Haft­befehlen wirft der IStGH-Chefankläger der israelischen Führung vor, Hunger als Mittel der Kriegsführung einzusetzen, was den Tatbestand des Kriegs­verbrechens erfüllt. Zudem macht er sie für Morde und unmenschliche ­Taten verantwortlich, die er als Ver­brechen gegen die Menschlichkeit ­wertet.

Nach Auffassung der IStGH-Anklagebehörde haben Netanjahu und ­Galant „der Zivilbevölkerung von Gaza bewusst und wissentlich lebenswichtige Dinge wie Essen, Wasser, Medikamente und medizinische Versorgungsgüter sowie Treibstoff und Strom vorenthalten“. Der Umfang der Hilfslieferungen, die am 21. Mai wieder aufgenommen wurden, ist bei Weitem nicht ausreichend und wird die Hungersnot nicht stoppen.

Aus der vorsätzlichen Vernichtung von Teilen der Zivilbevölkerung in Gaza ergibt sich logisch der Vorwurf des Völkermords. Auch nach Ansicht der Völkerrechtler Julian Fernandez und Olivier de Frouville von der Universität Panthéon-Assas „ist es inzwischen wahrscheinlicher als je zuvor, dass der Staat Israel wegen Völkermords zur Rechenschaft gezogen werden kann“.4

Unmissverständliche Intention der israelischen Regierung

Schon in seiner ersten Anordnung im Verfahren Südafrika gegen Israel vom 26. Januar 2024 sah der IGH „die reale und unmittelbare Gefahr einer nicht wiedergutzumachenden Verletzung der Rechte“ der Palästinenser als einer Gruppe, die unter dem Schutz der Völkermordkonvention steht. In dieser Konvention, der sowohl Israel als auch Palästina beigetreten sind, wird in Artikel 2 jede Handlung unter Strafe gestellt, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

Konkret werden folgende Handlungen benannt: „Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“. Diese Definition wurde in Artikel 6 des Römischen Statuts übernommen, dem Palästina, nicht aber Israel beigetreten ist.

Das erste Kriterium, das für den Tatbestand des Völkermords erfüllt sein muss, ist die Existenz einer geschützten Gruppe. Die 2,3 Millionen Palästinenser im Gazastreifen erfüllen dieses Kriterium, weil sie als substanzieller Teil der in Palästina lebenden Menschen gelten, wie der IGH in seiner Anordnung vom 26. Januar 2024 bekräftigte. Auch das zweite Krite­rium, der Vollzug einer oder mehrerer der verbotenen Handlungen, ist erfüllt.

So ist etwa der Vorwurf des Mords durch die bewusst wahllose Bombardierung in Gaza zu begründen. Laut Amnesty International richteten sich viele der Luftangriffe nicht gegen militärische Ziele, sondern unmittelbar gegen die Zivilbevölkerung.5 Bei diesen Angriffen, die häufig ohne die geforderte Vorwarnung stattfinden, kommen breit streuende Kampfmittel zum Einsatz, die in dicht besiedeltem Gebiet zwangsläufig zum Verlust von Menschenleben führen.

Seit 7. Oktober 2023 wurden in Gaza mehr als 50 000 Palästinenser ge­tötet, davon 70 Prozent Frauen und Kinder. Nicht in dieser Zahl enthalten sind die unter den Trümmern verschütteten Opfer und die Todesfälle, die durch Hunger und Krankheit verursacht werden.6

Ein weiterer Anklagepunkt ist, dass den überlebenden Menschen Lebensbedingungen aufgezwungen werden, die auf ihre Zerstörung ausgerichtet sind. Im November 2024 stellte der IStGH fest, es gebe „hinreichende Gründe für die Annahme, dass der Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und Treibstoff sowie an bestimmten medizinischen Hilfsgütern Lebensbedingungen geschaffen hat, die die Vernichtung eines Teils der Zivilbevölkerung im Gazastreifen herbeiführen sollten“.7

Nach einer Einschätzung der UN von Ende Mai ist inzwischen die gesamte Bevölkerung Gazas von einer Hungersnot bedroht. Ihre Lage ist umso prekärer, insofern fast alle vertrieben wurden, viele sogar mehrmals.

Das dritte Kriterium ist die Völkermordabsicht. Sie lässt sich aus den vielen öffentlichen Verlautbarungen der politisch und militärisch Verantwortlichen ableiten, auf die auch der IGH verweist. Yoav Galant am 9. Oktober 2023: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere.“ Und: „Gaza wird nicht wieder das werden, was es vorher war.“ Staatspräsident Itzchak Herzog am 12. Oktober 2023: „Eine ganze Nation da draußen ist verantwortlich. Das Gerede über Zivilisten, die nichts wissen, nicht involviert sind – das ist absolut nicht wahr.“ Und: „Wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen.“

Am 19. März ließ Verteidigungsminister Katz den Menschen in Gaza eine „letzte Warnung“ zukommen: „Hört auf den Rat des amerikanischen Präsidenten: Lasst die Geiseln frei und werft die Hamas raus, und es werden sich neue Möglichkeiten für euch eröffnen – auch die Umsiedlung in andere Teile der Welt für diejenigen, die es wünschen. Die Alternative ist völlige Zerstörung.“ Fernandez und Frou­ville sehen damit die genozidale Absicht klar belegt: „Unseres Wissens wurde eine solche Intention noch nie so unmissverständlich ausgesprochen.“8

Solche Äußerungen knüpfen im Übrigen an den Plan an, den Donald Trump ins Spiel gebracht hat und dem Tel Aviv zustimmt. Er sieht eine „Umsiedlung“ – also die gewaltsame Vertreibung – der Palästinenser aus Gaza vor. Das wäre ein schwerer Verstoß gegen die IV. Genfer Konvention und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Plan reiht sich ein in die fortwährend vorangetriebene „ethnische Säuberung“: Der IGH hat schon in seinem Gutachten vom 19. Juli 2024 aufgezeigt, wie Israel auf vielfache Weise die demografische Zusammensetzung der besetzten palästinensischen Gebiete verändert.9

Wegen der Zugangsbeschränkungen gegen Journalisten und interna­tio­nale Organisationen sind die Palästinenser beim Sammeln von Beweisen und Zeugenaussagen auf sich allein gestellt – und riskieren dafür oft das eigene Leben. Nur dank ihrer Berichte und Bilder konnte Südafrika im Dezember 2023 seine Klage beim IGH einreichen.

Völkerrechtliche Verpflichtungen existieren allerdings nicht nur für Israel. Auch alle Staaten, die der Völkermordkonvention beigetreten sind, haben die Pflicht, einem Genozid vorzubeugen, ein solches Verbrechen zu verhindern und es zu sanktionieren. Dazu könnten sie etwa ein Embargo beschließen, das Waffen und Rüstungsgüter betrifft, oder finanzielle Sanktionen gegen die mutmaßlich Verantwortlichen des Völkermords.

Was die EU-Staaten angeht, so könnten sie das Assoziierungsabkommen mit Israel aussetzen oder die Ini­tia­ti­ve zu einer Resolution des UN-Sicherheitsrats ergreifen, um auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta das Verhängen von (wirtschaftlichen, di­plo­ma­ti­schen und finanziellen) Zwangsmaßnahmen zu ermöglichen. Zudem könnten sie die Ermittlungsarbeit des Büros des IStGH-Anklägers unterstützen. Wenn Netanjahu nach wie vor ins Ausland reist – am 2. Februar 2025 zum Beispiel auch dank einer französischen Überfluggenehmigung –, so zeigt dies, dass viele westliche Staaten zögern, ihrer Verpflichtung nachzukommen.

Offensichtlich gibt es in der Anwendung des Völkerrechts immer noch zweierlei Maß. Der Krieg in Gaza zeigt nicht nur, dass die heutige inter­na­tio­na­le Ordnung nicht in der Lage ist, Frieden zu schaffen. Er zeigt auch, wie sehr diese Ordnung die fortwährende Kolonisierung Palästinas begünstigt.

1 „ICC Pre-Trial Chamber I rejects the State of Israel’s challenges to jurisdiction and issues warrants of arrest for Benjamin Netanyahu and Yoav Gallant“, Presseerklärung, IStGH, 21. November 2024.

2 „Gaza is a ‚killing field‘, says UN chief, as agencies urge world to act on Israel’s blockade“, BBC, 8. April 2025.

3 Siehe Akram Belkaïd, „Genozid-Vorwürfe mehren sich“, LMd, Januar 2025.

4 Julian Fernandez und Olivier de Frouville, „Les décla­rations du ministre israélien de la défense sont l’expression transparente d’une intention génocidaire à Gaza“, Le Monde, 11. April 2025.

5 „Amnesty International investigation concludes Israel is committing genocide against Palestinians in Gaza“, Amnesty International, 5. Dezember 2024.

6 Siehe Rasha Khatib, Martin McKee und Salim Yusuf, „Counting the dead in Gaza: Difficult but essential“, The Lancet, 10. Juli 2024. Und: Zeina Jamaluddine, Hanan Abukmail, Sarah Aly, Oona M R Campbell, Francesco Checchi, „Traumatic injury mortality in the Gaza Strip from Oct 7, 2023, to June 30, 2024: a capture–recapture analysis“, The Lancet, 8. Februar 2025.

7 Siehe Anm. 1.

8 Siehe Anm. 4.

9 Siehe „Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem“, IGH.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Insaf Rezagui ist Staatsrechtlerin, Spezialistin für Völkerrecht und Mitbegründerin des Kollektivs Yaani.

Le Monde diplomatique vom 12.06.2025, von Insaf Rezagui