12.06.2025

Erdoğans Kalkül

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Erdoğans Kalkül

Warum die AKP-Regierung die Repression gegen die oppositionelle CHP verschärft und zugleich auf die Kurden zugeht

von Günter Seufert

Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel auf einer Solidaritätskundgebung für İmamoğlu, Istanbul, 29. März 2025 picture alliance/sipa USA/depo photos
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Selten bot die Türkei ein so verwirrendes Bild wie heute. Gleitet das Land vollends in eine Diktatur ab, oder beginnt sich ein Raum für mehr Demokratie zu ­öffnen?

Die oppositionelle, laizistische Republikanische Volkspartei (CHP) befürchtet spätestens seit dem 19. März 2025, dass künftig keine Wahlen mehr stattfinden werden, die die Regierung verlieren könnte. An diesem Tag wurde der Istanbuler Oberbürgermeister ­Ekrem İmamoğlu aufgrund fadenscheiniger Vorwürfe verhaftet. Der populäre CHP-Politiker hatte bereits dreimal gegen Konkurrenten gewonnen, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ins Rennen um das Bürgermeisteramt geschickt hatte.

İmamoğlu hatte vor, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gegen Er­doğan anzutreten, und präsentierte bereits seine Ideen zur Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie zu außenpolitischen Themen. In Umfragen lag er seit Herbst 2024 vor Erdoğan, dessen Stern am Sinken ist, weil er von einer wachsenden Mehrheit für die anhaltende Wirtschaftskrise, die ausufernde Korruption und den rapiden Verfall staatlicher Institutionen wie Justiz, Polizei und Gesundheitswesen verantwortlich gemacht wird.

Wenn Erdoğan in dieser Situation seinen härtesten Konkurrenten mit juristischen Tricks ausschalte, komme das einem Putsch gleich, befindet CHP-Chef Özgür Özel, der Erdoğan als Diktator bezeichnet. Das Argument kommt besonders unter Studierenden und anderen jungen Leuten gut an – und in den westlichen Provinzen des Landes generell. Hier hat es seit den Gezipark-Protesten von 2013 keine so großen Demonstrationen mehr gegeben wie nach İmamoğlus Verhaftung – aber auch keine so gewalttätige Polizei und keine so willfährige Justiz.

Während İmamoğlu seit dreieinhalb Monaten – und nach wie vor ohne Anklageschrift – im Gefängnis sitzt, sehen die Kurden der Türkei erstmals seit zehn Jahren wieder vorsichtig optimistisch in die Zukunft. Am 12. Mai verkündete die Führung der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) die Auflösung der Organisation und die Einstellung des bewaffneten Kampfs. Nun hofft die kurdische Bevölkerung, dass ihre Forderungen nach gleichen staatsbürgerlichen Rechten, Anerkennung ihrer nationalen Identität, Unterricht in der Muttersprache und kommunaler Selbstverwaltung von der Regierung in Ankara nicht mehr kriminalisiert werden. Was eine neue Phase der Demokratisierung einleiten könnte.

Der Aufruf zur Auflösung der PKK vom 27. Februar kam von Abdullah Öcalan persönlich, ihrem Gründer, Theoretiker und – bis zu seiner Gefangennahme durch den türkischen Geheimdienst im Februar 1999 – militärischen Führer. Öcalan kam damit einer Aufforderung von Devlet Bahçeli nach. Der Vorsitzende der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist seit 2016 der engste Verbündete Erdoğans, dessen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) im Parlament auf die Unterstützung der MHP angewiesen ist.

Allerdings hatte Bahçeli die AKP fast ein Jahrzehnt lang zu einer unduldsamen Kurdenpolitik gedrängt. Er hatte sogar das Verbot der legalen kurdischen Partei (früher HDP, jetzt DEM) gefordert und im März 2021 erreicht, dass die Generalstaatsanwaltschaft beim Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die HDP eröffnete. Auch hat er Selahattin Demirtaş, den Co-Vorsitzenden der HDP und Verfechter einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage, der nach einem politischen Prozess seit 2016 im Gefängnis sitzt, stets nur als „Terroristen“ bezeichnet.

Umso größer war die Überraschung, als Bahçeli am 1. Oktober 2024 in der Eröffnungssitzung des Parlaments auf die Fraktionsvorsitzenden der legalen kurdischen Partei DEM zuging, ihnen die Hände schüttelte und von der Notwendigkeit sprach, Frieden auch „in unserem eigenen Land zu schaffen“.

Schon zuvor hatte Erdoğan auf die „großen Gefahren“ verwiesen, die das Geschehen in Syrien und generell im Nahen Osten für die Türkei bedeute, weshalb es gelte, „die innenpolitische Front“ zu festigen. Ganz auf dieser Linie entdeckte Bahçeli nun plötzlich, dass Türken und Kurden in einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden seien. Schon im Kampf gegen Byzanz hätten muslimische Kurden den muslimischen Türken zur Seite gestanden. Ebenso hätten beide Völker bei der Verteidigung Anatoliens nach dem Ersten Weltkrieg gemeinsam gegen Armenier, Griechen und die europäischen Besatzungsmächte gekämpft.

İmamoğlus Inhaftierung und weitere Verhaftungswellen

Drei Wochen später legte Bahçeli nach. Am 22. Oktober erklärte er, die MHP werde einer Gesetzesänderung zustimmen, die eine Begnadigung des zu lebenslanger Haft verurteilten Öcalan ermöglicht, falls dieser die PKK aufrufe, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen. Als die PKK dann am 12. Mai 2025 ihre Selbstauflösung verkündete, beschwor der MHP-Vorsitzende erneut die „uranfängliche und ewige Bruderschaft von Türken und Kurden in der Türkei und darüber hinaus“. Zwar vermied Bahçeli – wie Erdoğan – konkrete Zusagen an die Kurden, versprach jedoch „politische und juristische Reformen“, die den Spielraum für „zivile Politik“ erweitern sollen.1

In der Hoffnung auf eine solche Entwicklung wurde die Auflösung der PKK nicht nur von der ethnisch türkischen Bevölkerung begrüßt, sondern auch von der legalen prokurdischen Partei und den Menschen in den kurdischen Regionen. Unter Verweis auf Terroranschläge der PKK hatte die Regierung in Ankara jahrzehntelang die Meinungs- und Organisationsfreiheit eingeschränkt, die Justiz instrumentalisiert und den Ausnahmezustand zur politischen Normalität gemacht.

Nun fordert die DEM, dass auf Bahçelis Worte endlich Taten folgen. Insbesondere solle die Regierung 5000 politische Gefangene freilassen, abgesetzte kurdische Bürgermeister rehabilitieren und die Isolationshaft Öcalans aufheben. Und Ankara solle endlich auch Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (­EGMR) umsetzen.

Das betrifft in erster Linie Demirtaş, dessen Verurteilung das Straßburger Gericht schon im Dezember 2020 als „politisch motiviert“ bezeichnet und dessen sofortige Freilassung es angeordnet hatte. Doch die Erdoğan-Regierung will konkrete Schritte erst unternehmen, wenn die PKK dem türkischen Militär ihre Waffen übergeben hat.

Die Situation ist wahrhaft verwirrend: Einerseits gibt es klare Tendenzen in Richtung Diktatur – siehe die Verhaftung İmamoğlus –, andererseits die Hoffnung auf demokratischer Reformen in der Kurdenfrage. Wie passt das zusammen? Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen dem Vorgehen gegen den Hauptgegner und der neuen Rhetorik, mit der die Regierung die Gleichheit und Brüderlichkeit von Kurden und Türken beschwört?

Es gibt ihn, und er besteht darin, dass zentrale kurdische Forderungen – etwa Schulunterricht auf Kurdisch, eine gesetzliche Neudefinition der Staatsbürgerschaft, die Ausweitung der kommunalen Selbstverwaltung – nur im Rahmen einer neuen Verfassung eingelöst werden können.

Staatspräsident Erdoğan fordert schon seit Jahren ein neues Grundgesetz – wenngleich aus anderen Gründen. Allerdings weigern sich die Sprecher der AKP beharrlich, konkrete Vorstellungen zur neuen Verfassung darzulegen, und beschränken sich auf Leerformeln wie „mehr Demokratie“. Doch Äußerungen von AKP-Spitzenpolitikern lassen unschwer erkennen, worum es geht: Erdoğan eine weitere Amtszeit zu ermöglichen, den Staatspräsidenten mit einfacher Mehrheit wählen zu lassen, die Möglichkeit einer Individualklage vor dem Verfassungsgericht abzuschaffen, die bislang strikte Koedukation in den Schulen aufzuheben, die Verankerung des Laizismus zu tilgen oder zumindest zu verwässern sowie die Geltung der Grundrechte zu relativieren.

Kurzum, die Versprechungen von Reformen für die Kurden – als Belohnung für die Selbstauflösung der PKK – sind ein Instrument im innenpolitischen Machtkampf: Die Regierung will einen Keil zwischen die Kurden und die wichtigste Oppositionspartei CHP treiben, die Erdoğan bei Wahlen nur dann gefährlich werden kann, wenn sie auch kurdische Stimmen für sich gewinnt.

Für die CHP und für die kemalistische Opposition insgesamt bedeutet die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters vom 19. März den Beginn einer neuen Dimension der Unterdrückung. Bis Ende Mai wurden nach Angaben des Nachrichtenportals T24 in fünf Wellen mindestens 246 Personen verhaftet, von denen noch 110 in Untersuchungshaft sitzen. Die meisten hatten leitende Funktionen in der Istanbuler Stadtverwaltung oder kommunalen Unternehmen inne. Viele weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (eine genaue Zahl gibt es nicht) wurden unter Hausarrest gestellt oder unterliegen einer polizeilichen Meldepflicht beziehungsweise einem Ausreiseverbot.

Die vorletzte Verhaftungswelle erstreckte sich auch auf andere CHP-geführte Kommunen wie Izmir, Antalya, Tunceli, Trabzon und İzmit. In Istanbul hat das Innenministerium nicht nur İmamoğlu, sondern auch drei CHP-­Stadt­teil­bürgermeister ihrer Ämter enthoben und zwei von ihnen durch Zwangsverwalter ersetzt. Den meisten Verhafteten wird Korruption vorgeworfen, einigen auch die Unterstützung einer Terrororganisation, sprich der PKK.

Die gelenkte Selbstauflösung der PKK

Die Regierung hat mit ihrem Vorgehen, deren Ende nicht abzusehen ist, die Stadtverwaltung von Istanbul derart geschwächt, dass sie gerade noch die tägliche Routine bewältigen kann. Die Verhaftungen trafen auch viele Beraterinnen und Berater İmamoğlus, die politische, ökonomische und mediale Strategien für den nächsten Präsidentschaftswahlkampf ausarbeiten sollten. Alle werden der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation verdächtigt, die in ein Geflecht aus Korruptionsfällen verstrickt sei und separatistische Ziele der PKK unterstützt haben soll.

Die Repression richtet sich jedoch auch gegen die Wählerschaft der CHP. Bereits im ersten Monat seit der Verhaftung İmamoğlus wurden Straf­verfahren gegen mehr als 800 Bür­gerinnen und Bürger eröffnet, nur weil sie friedlich für die türkische Demo­kratie demonstrierten. Fast 300 von ­ihnen sitzen noch in Untersuchungshaft.

Die Anklagen gegen İmamoğlu und die Angestellten mehrerer Stadtverwaltungen bestehen aus einem Sammelsurium von Vorwürfen, die von Kor­rup­tion über Unterstützung des Terrorismus bis zu Beleidigung von Amtspersonen reichen.

Das erste Beleidigungsverfahren gegen İmamoğlu datiert bereits aus Juni 2019. Damals hatte der von der Regierung bestimmte Hohe ­Wahlrat (YSK) den knappen Sieg annulliert, mit dem İmamoğlu der AKP die seit 2004 aus­geübte Herrschaft über Istanbul entrissen hatte. Doch dann gewann er auch die Wiederholungswahl. Da sein Vorsprung noch angewachsen war, bezeichnete er das Ansetzen der Wiederholungswahl als eine „po­litische Dummheit“. Wegen Beleidigung des Gremiums verurteilte ihn die ­erste ­Instanz zu zwei Jahren und sieben Monaten Gefängnis. Falls dieses Urteil rechtskräftig wird, würde er ­seiner ­politischen Rechte verlustig gehen und könnte nicht mehr kandi­dieren.

Andere Beleidigungsverfahren folgten auf dem Fuß. Geschädigt sieht die Staatsanwaltschaft einen Gouverneur, einen AKP-Politiker und ganz besonders den heutigen Istanbuler Chefankläger Akın Gürlek. Letzterer spielt seit Jahren eine zentrale Rolle in politischen Prozessen gegen Oppositionelle wie etwa den früheren Parteivorsitzenden der CHP Kemal Kılıçdaroğlu, die Ex-Vorsitzende der Istanbuler CHP Canan Kaftancıoğlu, die Ex-Vorsitzende der Türkischen Ärztekammer Şebnem Korur Fincancı und eine Reihe kritischer Akademiker.

Erdoğan hat den beflissenen Staatsanwalt Gürlek 2022 erst zum Vize­justizministers befördert und im Oktober 2024 zum Chefankläger von Istanbul ernannt. Nur einen Monat später eröffnete Gürlek den ersten Prozess gegen einen der Istanbuler CHP-Stadtteilbürgermeister, der mit dessen Amtsenthebung endete.

In der heutigen Türkei sind Klagen wegen Beleidigung und Verunglimpfung das Instrument der Wahl, um die Opposition zu kriminalisieren. Weitaus die meisten Klagen hat der Staatspräsident selbst angestrengt: Im Zeitraum 2019 bis 2022 setzten Erdoğans Anwälte die Eröffnung von Strafverfahren wegen Beleidigung gegen mehr als 52 000 Bürgerinnen und Bürger durch.2

Die zweite Kategorie von Prozessen gegen İmamoğlu betrifft angebliche Korruption. Die Staatsanwaltschaft rechnet dem Oberbürgermeister der 16-Millionen-Metropole eine ganze Latte von Unregelmäßigkeiten zu, die sie in allen möglichen Abteilungen der Stadtverwaltung entdeckt haben will. Als angeblicher Drahtzieher all dieser unterschiedlichen Fälle wird İmamoğlu von der Staatsanwaltschaft als Kopf ­einer kriminellen ­Organisation be­handelt.

Gerichtsverfahren wegen Korrup­tion haben in der Türkei eine ähnliche Funktion wie Beleidigungsprozesse. Sie dienen, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie der Aufklärung und Verhinderung aktiver und passiver Bestechung. Nichts belegt dies besser als die Vorgänge in Istanbul seit dem Amtsantritt İmamoğlus im Juni 2019. Der neue Bürgermeister berief sogleich eine Kommission ein, die das Finanzgebaren der abgelösten AKP-Verwaltung durchleuchten sollte. Als diese ihre ersten Vorwürfe erhob, ließ der AKP-Innenminister die Dossiers konfiszieren. Sie werden seither unter Verschluss ge­halten.

Gegen die früheren AKP-Stadtverwaltungen von Istanbul wurde weder eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung eingeleitet noch Anklage erhoben. Der selektive Umgang mit Korruptionsvorwürfen ist ein Grund dafür, dass das Land seit dem Regierungsantritt der AKP im Jahr 2002 im interna­tio­nalen Korruptionswahrnehmungsindex von Platz 64 auf Platz 105 abgerutscht ist.

Der dritte Anklagepunkt gegen İmam­oğlu lautet auf Unterstützung einer Terrororganisation, also der PKK. Das hat folgenden Hintergrund: Bei den letzten Kommunalwahlen im März 2024 kooperierte die CHP mit der legalen prokurdischen Partei DEM. In manchen Wahlkreisen stellte die DEM keine eigene Liste auf und ließ ihre Kandidaten auf dem CHP-Ticket antreten.

Solche Absprachen zwischen Parteien sind in der Türkei allgemein üblich. Doch die Kooperation von CHP und DEM erklärte die Staatsanwaltschaft mit dem Argument für illegal, die DEM habe die Anweisung zu dieser Strategie von der PKK erhalten, die damit ihren Einfluss in den Metropolen im Westen des Landes habe stärken wollen.

Indem die Staatsanwaltschaft legalen politischen Handlungen illegale Absichten und Ziele zuschreibt, kriminalisiert sie die Akteure. Nach diesem Muster kann der Justizapparat noch mehr Kommunalverwaltungen absetzen. Im mehreren Städten der Türkei verdankt die CHP ihre Erfolge der Kooperation mit der prokurdischen Partei. Die Anklage gegen İmamoğlu und die Istanbuler CHP platziert quasi eine Zeitbombe unter die Sessel weiterer Bürgermeister der Opposition.

AKP-Sprecher Ömer Çelik hat dies gegenüber dem Fernsehsender Habertürk am 16. Mai ganz unverblümt ausgesprochen: „Die Stadtverwaltungen, die früher mit der PKK gekungelt haben, bleiben weiterhin Ziel juristischer Ermittlungen.“

Die von der AKP-MHP-Regierung beschworene türkisch-kurdische Brüderlichkeit gilt mithin erst ab Datum der Selbstauflösung der PKK, dem 12. Mai 2025. Auch gilt sie anscheinend nicht für die CHP. Eine „Rückkehr zur Demokratie“ sieht anders aus.

Bei alledem geht es jedoch nicht nur um Innenpolitik. Als Motiv ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, sind die Ereignisse in Syrien. Zwischen 2013 und 2015 hatten die bisher aussichtsreichsten Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK stattgefunden. Sie scheiterten am Ende auch deshalb, weil die AKP wegen des bis dahin verfemten Kontakts mit der Kurdenpartei einen Teil ihrer nationalistischen Wähler an die MHP verlor. Damit büßte sie ihre absolute Mehrheit im Parlament ein, und Erdoğan sah seine Macht bedroht.

Doch es gab noch einen weiteren Faktor: Der Bürgerkrieg in Syrien ermöglichte es der syrisch-kurdischen PYD, einer Schwesterpartei der PKK, im Norden des Landes eine Zone kurdischer Selbstverwaltung zu etablieren. Die türkische Regierung befürchtete, nach den irakischen könnten nun auch die syrischen Kurden eine Teilautonomie erlangen. Das aber würde es unmöglich machen, den Kurden der Türkei weiterhin ihre kollektiven Rechte vorzuenthalten. Da schien es besser, den Krieg wieder aufzunehmen und die PKK, die maßgeblich zum Aufbau der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien beigetragen hatte, militärisch zu schwächen oder zu besiegen.

Gegen Israels Einfluss in Syrien

Auch heute wird die Kurdenpolitik der Erdoğan-Regierung maßgeblich durch die Lage in Syrien und die Entwicklung im weiteren Nahen Osten bestimmt. Bahçeli startete seine überraschende Initiative am 1. Oktober 2024, nur Stunden nachdem israelische Truppen die Grenze zum Libanon überschritten hatten. Damit zeigte sich die Regierung in Tel Aviv entschlossen, nicht nur die Hamas im Gazastreifen, sondern auch die Hisbollah, den zweiten iranischen Proxy in der Region, auszuschalten.

An jenem 1. Oktober erklärte Erdoğan vor dem Parlament: „Das israelische Regime handelt gemäß seiner Wahnvorstellung vom Gelobten Land und wird versuchen, sich nach Palästina und dem Libanon auch Teile unseres Landes unter den Nagel zu reißen.“3 Drei Wochen vorher, am 7. September, hatte der Präsident orakelt, Israel habe es auf die türkischen Gebiete zwischen Euphrat und Tigris abgesehen. Am 8. Oktober stieß Devlet Bahçeli in dasselbe Horn, als er vor dem Parlament erklärte, ein Angriff auf die Türkei werde Israel ins Verderben stürzen.

Am 9. Oktober zog Erdoğan explizit eine Verbindung zwischen der behaupteten Bedrohung durch Israel und seinem Versuch, einen Ausgleich mit der PKK zu finden. Angesichts der Gefahr, dass Israel den Krieg in weitere Länder tragen könnte, gelte es, „jede mögliche Vorsorge für die Sicherheit unseres Staats und unserer Nation zu treffen“. Daher müsse man innerhalb der Re­gion „mehr miteinander reden, Kompromisse schließen und die Basis für den Dialog erweitern“. Die Initiative Bahçelis, so Erdoğan, sei „essenziell für die Brüderlichkeit unter den 85 Millionen Einwohnern der Türkei und für die türkische Demokratie“.

Dass die Rede über eine mögliche israelische Aggression tatsächliche Bedrohungsängste widerspiegelt, erscheint höchst unwahrscheinlich. Solche Rhetorik zeigt jedoch, dass Israel und die Türkei um Einfluss in Syrien konkurrieren und dass bei dieser Rivalität die Kurden ein wesentlicher Faktor sind.

In Israel glaubt man, dass die starke Präsenz der Türkei in Syrien die eigene Sicherheit gefährde, und das macht die Kurden Syriens zu potenziellen Verbündeten gegen die neue syrische Regierung des ehemaligen Islamisten Ahmed al-Scharaa. Schon im November 2024 bezeichnete der israelische Außenminister Gideon Sa’ar die Kurden des Nahen Ostens als „eine große Nation“, als „Opfer iranischer und türkischer Unterdrückung“ und als „natürlichen Verbündeten“ Israels.4

Aus der Sicht Tel Avivs sind die syrischen Kurden ein Gegengewicht zur neuen „islamistischen Regierung“ in Syrien, deren Hauptverbündete die Türkei sei. Ihre Unterstützung durch Israel sei eine Antwort auf den verbalen Beistand Erdoğans für die Hamas. Zugleich hofft man, der Verweis auf das Schicksal der Kurden könnte das internationale Entsetzen über die humanitäre Lage im Gazastreifen relativieren.

Tatsächlich gab es nach dem Sturz von Baschar al-Assad im Dezember 2024 direkte Kontakte zwischen dem israelischen Außenministerium und der syrischkurdischen Autonomieverwaltung. Deshalb war es für Tel Aviv ein Rückschlag, als Mazlum Abdî, der Oberkommandierende der Autonomieverwaltung, am 28. Oktober mit dem syrischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa die langfristige Integration der Kurden in den neuen syrischen Staat vereinbarte.

Besorgt zeigte sich Israel deswegen auch, als die PKK am 1. März 2025 – als erste Reaktion auf den Aufruf Öcalans zur Selbstauflösung – einen einseitigen Waffenstillstand erklärte.5 Das nährte die Befürchtung Tel Avivs, dass die Strategie der Türkei, die Kurden auf ihre Seite zu ziehen, am Ende aufgehen könnte.

Anfang April 2025 drohte die is­rae­lisch-türkische Rivalität in Syrien zu eskalieren. In der Nacht vom 2. auf den 3. April bombardierte die israelische Luftwaffe drei syrische Militärflug­häfen – kurz bevor eine Abordnung des türkischen Militärs die Basen inspizieren wollte. Die Delegation aus Ankara sollte die Möglichkeit einer Stationierung von Kampfflugzeugen, Drohnen oder gar des Raketenabwehrsystems S-400 prüfen.

Die türkische Presse hatte schon Monate vorher gemeldet, dass die Türkei den Schutz des syrischen Luftraums übernehmen wolle. Das wird Israel, das auch auf syrischem Territorium volle militärische Handlungsfreiheit beansprucht, nicht hinnehmen. Die Spannungen haben sich derart verschärft, dass Militärdelegationen beider Länder am 9. April in Baku6 Verhandlungen über eine Deeskalation begannen, die bis heute andauern.

Die neue Konstellation in Syrien ist ein wichtiger Grund dafür, dass die PKK dem Aufruf der türkischen Regierung folgte und ihre Selbstauflösung beschloss. Gut ein Jahrzehnt hat die Türkei alles daran gesetzt, die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien zu zerstören. Doch kaum unternahm die israelische Regierung den Versuch, die syrischen Kurden für ihre Interessen einzuspannen, war Erdoğan bereit, sich ebenfalls mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Die syrischen Kurden stützen die neue Regierung in Damaskus, was dieser Luft verschafft und ihr internationales Ansehen stärkt. Daher hat die Türkei – jedenfalls vorläufig – aufgehört, die kurdischen Stellungen in Syrien zu bombardieren.

Die PKK tritt ab, aber die Kurden Syriens haben erstmals die Chance auf Anerkennung ihrer Identität und die Ausübung einer – wenn auch begrenzten – Selbstverwaltung. Die Kurdenfrage bleibt auf der Agenda des Nahen Ostens. Das wird mittelfristig auch den Kurden der Türkei zugutekommen.

Eine weitere Folge ist, dass der innerkurdische Konflikt eingehegt wird. Vor wenigen Wochen trafen sich in der irakischkurdischen Hauptstadt Erbil erstmals der syrische Kurdenführer Mazlum Abdî und Masud Barzani, der starke Mann der irakischen Kurden, der eng mit der Türkei kooperiert.

Dass sich die PKK auf den Handel mit Ankara eingelassen hat, liegt zudem an der militärischen Entwicklung. Innerhalb der Türkei waren die kurdischen Rebellen seit fast zehn Jahren auf dem Rückzug. Das türkische Militär hat sie längst in unzulängliche Gebirgs­re­gio­nen des Irak zurückgedrängt und viele ihrer Kommandeure mit Drohnen hingerichtet. Schon 2022 fand nur noch jedes zehnte Scharmützel auf türkischem Boden statt; seither kämpfte die PKK auch im Irak nur noch um ihre nackte Existenz.

Geht der bislang längste und blutigste Kurdenaufstand in der Türkei damit zu Ende? Und was wird aus Öcalan und der PKK, was aus der legalen kurdischen Partei, der säkularen Opposition und der türkischen Demokratie?

Die PKK hat seit ihrer Gründung am 27. November 1978 einen bewaffneten Kampf geführt, der länger als 46 Jahre dauerte. In diesem Kampf wurden nicht nur türkische Sicherheitskräfte getötet, sondern auch Mitglieder konkurrierende kurdischer Gruppen, „Abweichler“ und Menschen, die aus Überzeugung, Not oder Zwang mit dem türkischen Staat kooperierten.

Die Türkei reagierte mit drakonischen Gesetzen und einer Kriegsführung, die in den 1990er Jahren zur Zerstörung von mindestens 2500 kurdischen Dörfern7 führte und einen kurdischen Exodus aus dem Osten in den Westen der Türkei auslöste.

In dieser Zeit scheiterten mehrere Friedensinitiativen, 1993 die erste des damaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal, die letzten unter Erdoğan in den Jahren 2013 bis 2015. Bei diesen letzten war das Dilemma der Kurden besonders deutlich geworden.

Auch damals kalkulierte Erdoğan, dass er sich mit der Gewährung kultureller und politischer Rechte die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung für die von ihm gewünschte Verfassungsänderung einhandeln könne – also für die Einführung des Präsidialsystems, das inzwischen in Kraft ist und dem Präsidenten fast unbeschränkte Macht nicht nur über die Exekutive, sondern auch über die Legislative und Judikative verleiht.

Seinerzeit wies Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP, das Ansinnen Erdoğans zurück und bestand auf einer generellen Demokratisierung des Landes. Dies war der eigentliche Grund für sein Inhaftierung. Mit seiner prinzipienfesten Haltung brachte Demirtaş sich und die Partei in eine Zwangslage: Auf türkischer Seite war damals nur Erdoğan zu Verhandlungen bereit, die kurdische Seite war also auf ihn angewiesen. Dennoch verweigerte sie sich Erdoğans Angebot um der Demokratie willen. Deshalb musste der Prozess scheitern.

Heute sind die Kurden erneut in einer ähnlichen Lage – mit einem wichtigen Unterschied: 2015 war die opposi­tio­nelle CHP gegen einen Ausgleich mit den Kurden, heute ist sie dafür; desgleichen die MHP, die Erdoğan damals von rechts außen attackiert hatte. Der Spielraum der heutigen DEM ist also deutlich größer. Zum einen, weil die AKP politisch geschwächt ist, zum anderen, weil fast alle anderen im Parlament vertretenen Parteien einen Ausgleich mit den Kurden unterstützen.

Die DEM wird deshalb weder die Verhandlungen mit Erdoğan beenden noch sich gegen die CHP instrumentalisieren lassen, und sie wird auch ihre Forderung nach Rechtssicherheit und politischer Mitsprache nicht ganz aufgeben. Das grundsätzliche Dilemma, in dem sie sich befindet, ist der Parteiführung wohl bewusst. Entsprechend ist ihre Haltung beharrlich, vorsichtig und um Ausgleich bemüht.

Was die neue Lage in Syrien betrifft, ist Ankara an Stabilität interessiert. Schon deshalb, und wegen der Rivalität mit Israel, muss Erdoğan interessiert sein, die eigene „Kurdenfrage“ zu lösen oder mindestens zu neutralisieren. Dabei sind noch wichtige Fragen offen. Das Problem Öcalan könnte durch eine Art Hausarrest gelöst werden. Demirtaş hat gute Chancen freizukommen. Mitglieder der PKK, denen kein Anschlag nachgewiesen werden kann, könnten amnestiert werden. Aber den Führungskadern bleibt nur das Exil.

Am düstersten sind die Aussichten für Ekrem İmamoğlu. Es ist zu befürchten, dass er seine Freiheit erst nach einem Regierungswechsel wiedererlangen wird.

1 In der Tageszeitung Karar, 14. Mai 2025.

2 „Mehr als 52.000 Menschen wurden innerhalb von vier Jahren wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht gestellt“, pirha.org, 14. März 2024 (Türkisch).

3 Dieses und die folgenden Zitate und Angaben stammen von ArtıGerçek.com, 9. Mai 2025.

4 Ofra Bengio, „Why Kurds are calling for a strategic ­alliance with Israel“, Haaretz, 14. Januar 2025.

5 Yalçın Doğan, „Sich einigen und das Land teilen: In Syrien entsteht eine autonome Zone der Kurden“ (Türkisch), T24, 12. März 2025.

6 Aserbaidschan unterhält enge Beziehungen zu Is­rael wie zur Türkei.

7 Diese Zahl nannte der kurdische CHP-Parlamentsabgeordnete Sezgin Tanrıkulu gegenüber der Tageszeitung Radikal, 12. Februar 2009.

Günter Seufert ist ehemaliger Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.06.2025, von Günter Seufert