Hinter einem Vorhang aus Schmerz
Syrien – Begegnungen zwischen Befreiung und Trauma
von Charlotte Wiedemann

Hinter der geschlossenen Metalltür ist die Luft schwer von Rauch und Trauer. Um einen Tisch sitzen Angehörige von Verschwundenen; leise und stockend sprechen sie von Vater, Bruder, Sohn. Die meisten Vermissten sind männlich – 130 000 Häftlinge, womöglich mehr, ohne Spur verschollen in den Katakomben des untergegangenen Assad-Regimes. Jede Familie hofft und bangt und leidet auf ihre eigene Art; der Schmerz könnte verbinden, doch trennt er auch, so ist es an diesem Tisch wie im ganzen Land, ein halbes Jahr nach dem Sturz des Regimes.
Eine Initiative der Zivilgesellschaft hat die Angehörigen zusammengebracht, in einem diskreten, schmucklosen Untergeschoss, um ihnen aus der Isolation zu helfen. Zelt der Wahrheit, so nennt sich die Initiative als Metapher für einen geschützten Raum. Doch lässt sich das Zelt auch wirklich aufbauen mit schwarzen Stangen und einer cremefarbenen Plane als öffentlicher Ort, um Aufklärung zu verlangen. An diesem Nachmittag halten die Angehörigen, die sich hinter der Metalltür Mut zusprachen, in einem Damaszener Park die Bilder ihrer Liebsten in den kalten Wind. Eine Großmutter hat ihre Enkelin dabei, fragend schaut das Mädchen in die Gesichter der Erwachsenen. Stumm steht die Gruppe da, ein schweigender Einspruch gegen das Vergessenwerden.
Syrien wirft nach dem Ende eines halben Jahrhunderts Diktatur eine exemplarische Frage auf: Wie geht eine Gesellschaft mit Verlust, Schmerz und Trauma um, wenn nahezu jede Familie, jedes Haus betroffen ist? Präsident Ahmed al-Scharaa, Syriens neuer starker Mann, versprach früh eine Übergangsjustiz zur Ahndung von Verbrechen. Doch bisher ist wenig geschehen, um dem kollektiv verwundeten Land eine Aussicht auf Gerechtigkeit zu vermitteln. Im Panorama massenhaften Unrechts ist das Schicksal der Verschwundenen von besonders düsterer Symbolkraft: Darin spiegelt sich der Horror eines Regimes, in dem Menschen wie Abfall weggeworfen wurden. Und die große Zahl deutet darauf hin, dass es Massengräber gibt, die bisher nicht gefunden wurden.
Wie zur Illustration der in Ungewissheit verstreichenden Zeit verblassen die Fotos der Verschwundenen, die in den ersten Tagen nach der Befreiung im Dezember an Hauswände und Straßenecken geklebt wurden mit einer Telefonnummer als Ausdruck der Hoffnung. Auf dem rostfarbenen Eingangstor zum Gefängnis Sednaya zeigen die Suchbilder nur noch geisterhafte weißliche Konturen, als sollten die Angehörigen gezwungen werden, sich ins Unerbittliche zu fügen.
Aus den Zellen hat sich der Gestank verzogen, sonst wirkt alles hier unberührt, der Unrat, die verwanzten Decken. Der Komplex ist offiziell geschlossen, und die Stille verstärkt die Aura einer Stätte, wo Tausende der Folter erlagen. Irgendwann soll Sednaya ein Museum werden, noch ist es dafür zu früh. Zu frisch, zu roh ist der Schmerz.
In einem Taxi sagt der Fahrer unvermittelt: „Mein Sohn ist in Sednaya verschollen. Wenn Sie Journalistin sind, müssen Sie doch etwas wissen!“ Was sagen in einem solchen Moment? Ich frage: „Wie alt ist Ihr Sohn?“ In der Zeitform – ist oder war – liegt ein Urteil. Ich habe nicht das Recht, dem Vater seine Hoffnung zu nehmen. Aber habe ich das Recht, sie zu stärken? Bei meiner Frage schießen ihm die Tränen so heftig aus den Augen, als hätte er sie lange zurückgehalten. Die Ungewissheit ist wie eine Geiselnahme, hält die Angehörigen im Zustand emotionaler Ambivalenz. Wenn sich eine Frau zur Witwe erklärt, begleitet sie ein Gefühl der Schuld in die neue Ehe.
Das alte stabile Leben von Asmaa Assalama endete an einem Septembertag vor sieben Jahren, als vier Agenten in Zivil an der Wohnungstür klingelten. Vom Balkon sah sie, wie ihr Mann auf den Rücksitz eines Hyundai Avante verfrachtet wurde. Ziad trug einen dunkelroten Trainingsanzug, so sah sie ihren Mann zum letzten Mal, als er noch wie ein Mensch aussah. Er war 46 Jahre alt, unpolitisch, ein Händler, der durch falsche Anschuldigungen ins Schleppnetz des Regimes geriet.
Elf Monate später durfte sie ihn in Sednaya für drei Minuten sehen, dafür hatte die Familie viel bezahlt. Sie erkannte ihn kaum wieder, und als das Wesen hinter den zwei Reihen Gitterstäben ihren Sohn ansprach, sagte der Junge verstört: „Bist du mein Vater?“
Am Tag nach Assads Sturz fuhr sie nach Sednaya, irrte durch die verdreckten Zellen, dann durch die Krankenhäuser, die Leichenhallen. Bei manchen Leichen war sie sicher, das war nicht ihr Mann, bei anderen war sie unsicher. „Die Gesichter waren so entstellt; ich sah zerschmolzene Lippen, eine Nase, wo sie nicht hingehört, ein Ohr fehlte oder die Augen.“ Sie spricht ruhig und gefasst, die Hände im Schoss eines hellgrünen Hauskleids, auf den Pantoffeln ein Storchenbild. Nur die Schatten um die Augen verraten ihre Erschöpfung. Sie suchte wochenlang, „und es musste immer jemand zu Hause sein, für den Fall, dass er zurückkommen würde“.

Maskierte Gefühle, maskierte Gesichter
Vor den Kindern keine Schwäche zeigen. „Sie fürchten, auch ich könnte verschwinden.“ Die beiden Jüngsten, achtjährige Zwillinge, hatten ihr eine Weile vor Assads Sturz gesagt: „Wir wissen, dass unser Vater tot ist. Du sagst, er ist auf Reisen, aber er ruft nie an. Du kannst uns ruhig sagen, dass er tot ist.“ Nach dem Fall des Regimes hörten sie in der Schule von Vätern, die wieder aufgetaucht sind. Seitdem laufen sie, wenn jemand klingelt, zur Tür und rufen: „Baba, Baba?“
Die Angehörigen der Verschwundenen, sagt der Psychiater Jalal Nofal, haben über Jahre ihre Gesichter so maskiert wie ihre Gefühle. „Wenn jemand schließlich einen Knochen erhält zum Beerdigen, dann zerbricht die Schale.“ Nofal zählt zu den wenigen syrischen Experten mit Erfahrung in der Behandlung Traumatisierter, und er kennt Haft und Folter aus eigener Erfahrung. „Die meisten Psychologen behandeln nur die körperlichen Symptome, geben Schlaf- und Beruhigungsmittel.“ Die Patienten beschweren sich nicht; eine Sitzung für umgerechnet 10 Euro ist für sie sehr teuer. Also sagen sie: Gib mir Pillen für drei Monate.
Ich frage Nofal nach dem flashartigen Zittern, das manche Gesprächspartner durchzuckt, wenn sie über Vergangenes sprechen. „Der Körper revoltiert gegen das Unterdrücken der Gefühle.“ Psychische Probleme mussten unter Assad verborgen werden; andernfalls wurden die Betroffenen gemieden wie aus Angst vor Ansteckung. Sie blieben mit ihrer Qual allein „und wagten nicht einmal, sich bei Gott zu beklagen“.
Frauen hören auch jetzt noch: Denk nicht an dich, denk an deine Kinder! Der Psychiater berichtet von einer Mutter, die weinend zusammenbrach, als er sie fragte: „Wie geht es dir?“ Seit Langem hatte niemand ihr diese Frage gestellt. Sie hatte die zur Unkenntlichkeit verbrannten Überreste ihrer Brüder begraben müssen und wurde seitdem bis in ihre Träume vom Zweifel gepeinigt, ob dies wirklich ihre Brüder waren.
Ghuta, das Wort bezeichnet von alters her den Ring fruchtbarer Oasen um Damaskus herum, das Land der Trauben und der Feigen. Daraus wurde „das Land der Trauben und des Bluts“. Die Vorstadtregionen wurden als Gebiete der Aufständischen über Jahre vom Regime belagert. Hier führte Baschar al-Assad offen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Allein zwischen 2012 und 2017 fielen in Syrien 70 000 mit Sprengstoff und Metallteilen bestückte Fassbomben auf jene Städte und Dörfer, die von der Opposition gehalten wurden.
Vom Stadtzentrum sind es kaum mehr als zehn Minuten Fahrt in östlicher Richtung, und man steht in einer Ruinenlandschaft wie in europäischen Städten am Ende des Zweiten Weltkriegs. In Jobar lebten 300 000 Menschen; kaum ein Haus ist mehr bewohnbar, niemand kehrte zurück. Jobar wurde so komplett zerstört, weil es die dem Stadtzentrum am nächsten gelegene Rebellenhochburg war. Sogar der Friedhof ist zerbombt, damit selbst die Erinnerung stirbt. Gemäß dem Slogan „Assad auf Ewigkeit“ sollte es in den aufständischen Regionen auf ewig kein Leben mehr geben.
Domizid ist ein Begriff, der jüngst für Gaza verwandt wurde, doch er traf schon vorher auf Syrien zu: die Auslöschung der materiellen und immateriellen Lebensgrundlagen. Das Gewohnheitsmäße der Folter, das Verschwindenlassen und der Domizid: Wegen seiner extremen, gar genozidalen Praktiken gegen das eigene Volk solle „Assadismus“ ein wissenschaftlicher Terminus werden, schlägt der syrische Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh vor.1
Auf die Trümmerlandschaft von Jobar folgt im Osten der Vorort Zamalka, Schauplatz eines Giftgasangriffs. Der neue Bürgermeister, selbst ein Überlebender, begleitet mich zu den Massengräbern der Sarinopfer. Bis zum 8. Dezember 2024 war das Areal abgesperrt, jedes Gedenken verboten. Die Befreiung von Assad bedeutete die Befreiung der Trauer: Nun stehen hier schlichte, ungelenk beschriftete Steintafeln mit den Namen der Toten und einer religiösen Formel. Die Angehörigen nahmen sich nicht die Zeit, einen Steinmetz zu beauftragen, zu lange hatten sie auf diesen Moment gewartet.
Mir wird ein Mann Anfang 40 vorgestellt, seine schwarze Lederjacke hat leere Ärmel. Er verlor fast seine ganze Familie, 34 Menschen, im Sarinmassaker; dann nahmen ihm Bomben des Regimes beide Arme. In diesem Zustand wurde er ins Gefängnis geworfen, kam nur gegen eine hohe Summe frei. Er spricht ohne ersichtlichen Zorn, berichtet in knappen Sätzen, was kaum zu berichten ist. Wie kann es für ihn je so etwas wie Gerechtigkeit geben? „Ich will Assad in diesem Land vor Gericht sehen. Nicht im Ausland. In Syrien.“ Er hat nicht einmal Prothesen.
Wer im Zentrum von Damaskus lebt mit den vom Krieg unberührten Shoppingmalls und Cafés, hat in die Ruinenlandschaften der östlichen Vororte bisher meist keinen Fuß gesetzt. An der äußeren Grenze der intakten Stadt steht ein Sportstudio; durch die großen Scheiben fällt der Blick auf eine Straße, die schnurgerade durch die Zone der Zerstörung führt. Wer früher in die östlichen Vororte musste, gab hier panisch Gas, denn es lauerten Scharfschützen des Regimes. Allen aus den einst oppositionellen Gebieten sitzt diese Erinnerung in den Knochen. Und den anderen eben nicht.
Selbst auf diesem engen geografischen Gebiet zeigt sich, was für ganz Syrien gilt: Die Gesellschaft durchziehen Spaltungen, weil die Erfahrungen der anderen nicht gekannt werden, ihr Schmerz nicht begriffen wird. Und es herrscht Gefühllosigkeit, eine lang eingeübte Taubheit des Empfindens: weil es ratsam war, sich nicht einzulassen, niemandem zu vertrauen. Araber gegen Kurden, Sunnitinnen gegen Alawitinnen – der Assadismus mobilisierte identitäre Gegensätze, um die Gesellschaft in einem Zustand der Zerrissenheit zu halten, während das kapillare Netzwerk der Geheimdienste fast jeden zum Komplizen machen konnte.2
Ein syrisches Modell der Gerechtigkeit muss einem Regime Rechnung tragen, das Hunderttausende in Einrichtungen beschäftigte, die für Folter und Mord verantwortlich waren.
Dass Entscheidungsträger angeklagt werden müssen, ist Konsens. Doch wer zählt dazu? Organisationen der Zivilgesellschaft fordern neben der strafrechtlichen Ahndung Kommissionen zur Wahrheitsfindung und eine Kultur der Entschuldigung.
Wie für eine Täterschaft fehlen einvernehmliche Kriterien bisher auch für das Opfersein. Wer kann Klage erheben, wer hat Anspruch auf Entschädigung? Weil offizielle Antworten fehlen, bahnen sich Schmerz und Trauma eigene Wege. Selbstjustiz: Jede Woche werden Dutzende mörderische Racheakte gezählt. Fake News schüren Hass und Verwirrung. Und viele Alawit:innen leben in Furcht, selbst wenn sie als Oppositionelle inhaftiert waren, weil ihre Minderheit zum Sündenbock für Assads Verbrechen gemacht wird. Doch daneben, unbeachtet und viel weiter gestreut, erlebt man das stille individuelle Ringen mit Trauer und Verwundung.
Weil so viele Entsetzliches erlebt haben, bilden sich Hierarchien des Leids heraus. Sie werden nicht verordnet, folgen keinen Regeln; es sind subjektive Abstufungen durch Vergleich.
Sinan Alaraschi spricht nur zögerlich über seine 13 Jahre im Gefängnis: weil andere viel Schlimmeres durchgemacht hätten. Er wurde als 21-jähriger Aktivist verhaftet. Nachdem Angehörige und Freunde viel Geld aufgebracht hatten, kam er in ein Zivilgefängnis; dort waren die Chancen zu überleben größer. Im Laufe der Jahre war er in fünf Gefängnissen und sah mehr als hundert Freunde und Mithäftlinge sterben. Sein Schmerz, sagt Sinan, sei der des Beobachters gewesen, der Zeuge des Horrors ist und nichts tun kann. „Du blickst in das Gesicht eines Kameraden, und ihr beide wisst, dass er am nächsten Tag hingerichtet wird.“
Ich frage ihn nicht, ob er Überlebensschuld empfindet; es ist zu offensichtlich. Sich zum Leid anderer in Beziehung setzen und bescheiden dahinter zurücktreten, das drückt einen Geist der Solidarität aus, den die zivilen Revolutionär:innen von 2011 als ethisches Prinzip bewahren möchten.
Aber da ist noch etwas. Die Masse an Verbrechen hat die Maßstäbe für das Schreckliche verschoben; Gräuel werden minimiert. Ein Journalist lässt beim Abendessen beiläufig fallen, dass er fast ein Jahr lang in einer winzigen Isolationszelle war, allein mit sich und dem Loch des Aborts. Er deutet mit dem Finger auf dem Tischtuch das Quadrat der Zelle an, ein Meter mal ein Meter. Kein Wort der Klage. Unter Assad riskierte er als citizen journalist sein Leben. Nun hat sich das Selbstbewusstsein, zum Sturz des Diktators beigetragen zu haben, lindernd über die Spätfolgen der Isolationshaft gelegt.
Versuche der Selbstheilung gibt es in vielen Varianten. Sinan Alaraschi, der 13 Jahre lang den Horror beobachten musste, widmet sich der Sorge für andere Häftlinge, die wie er selbst erst im Dezember freikamen. Die Organisation heißt No-Photo-Zone in Anspielung auf alles, was unter Assad nicht abgebildet werden durfte; doch gemeint ist auch das nicht Zugängliche, das Verborgene der menschlichen Erfahrung. Manche ehemalige Häftlinge lehnen das Angebot therapeutischer Hilfe ab: weil die ein Stigma trägt oder weil sie die Erinnerung in sich verschließen wollen.
Religiöse Menschen verweisen auf Linderung durch Gebet. Wer Allahu akbar sage, lasse alles zurück, zumindest für diesen Moment. Ein Mann, dessen Bruder erschossen wurde – er hieß Mahmoud –, hofft, er werde bald einen Sohn haben (gegenwärtig ist er nicht einmal verheiratet), den er Mahmoud nennen will, damit er selbst nach arabischer Sitte dann Abu Mahmoud, Vater des Mahmoud, heißt. So werde sein Bruder immer bei ihm sein.
Eine andere Variante vom Zurechtkommen mit dem Schrecklichen ist die Burschikosität den eigenen Gefühlen gegenüber. Ein 18-Jähriger, der lange glaubte, sein vermisster Vater werde wieder auftauchen, postete nach dem 8. Dezember auf Facebook den Totenschein seines Vaters, den er auf einer Website der Regierung gefunden hatte. Als sei er selbst nur ein Medium des Schocks.
Der Angestellte eines Forschungszentrums erzählt, er sei als 17-Jähriger zehn Tage in einem unterirdischen Gefängnis gewesen. „Ich habe gesehen, wie andere getötet und gefoltert wurden. Ich konnte darüber lange nicht sprechen.“ Während er dies sagt, beben seine Lippen. Später resümiert er: „Im Widerstand zu sein, war unser Alltag, wir haben uns daran gewöhnt. Vielleicht können wir Syrer deshalb so viel aushalten.“
Weil jeder Tag in Syrien so viele Zeugnisse von Leid bereithält, ändern sich unweigerlich meine eigenen Maßstäbe als Beobachterin. In Khan Sheikhoun, einer Kleinstadt an der Straße nach Aleppo, vom Regime zerbombt und mit Giftgas angegriffen, bringt mich ein Mann zum Friedhof. Auf zwei Grabsteinen mit identischen Blumenmustern sind seine 25 getöteten Verwandten aufgelistet. Meine erste Reaktion: Immerhin kein anonymes Massengrab. Ich tröste mich nun nach Hierarchien, die ich vorher nicht kannte.
Die Schrift auf den Steinen ist durch Syriens unerbittliche Sonne sieben Jahre nach dem Verbrechen verblichen, so wie andernorts die Fotos der Vermissten. Doch für diesen scheuen, wortkargen Mann in Khan Sheikhoun ist nichts vergangen, nichts verblasst, nichts repariert. „Möchten Sie mein zerstörtes Haus sehen?“ In seiner Frage liegt eine Bitte um Aufmerksamkeit, die mich beschämt.
Zu den charakteristischen Zügen des Assadismus gehörte, dass er ein Schweigen erzwingen konnte, das im Nachhinein unfassbar wirkt. Und nirgendwo währte das Verstummen so lange wie in Hama. Im Februar 1982, unter der Regentschaft von Hafis al-Assad, bestraften Armee und Luftwaffe die Stadt kollektiv für einen Aufstand. Die Opfer werden auf mehr als 40 000 geschätzt. Männer mussten sich in Warteschlangen aufstellen, um dann von Panzern überrollt zu werden.
Der Mathematiklehrer Yaser Tirkawi war damals Schüler. In seiner Wohnung am Stadtrand von Hama spricht er von dem, was mehr als vier Jahrzehnte lang nicht ausgesprochen werden konnte. Die Angst, die damals von ihm Besitz nahm, verließ ihn viele Jahre nicht. „Alle hatten die Gräuel gesehen, und niemand sprach darüber, selbst zu Hause nicht. Wir Kinder wussten, wenn wir sprächen, dann wären wir verantwortlich dafür, dass unseren Familien Furchtbares zustoßen würde.“ Die Fotos der getöteten Verwandten wurden nie mehr hervorgeholt.
Der Schweigezwang hatte eine obszöne Kehrseite: Wer sich aus Hama später für eine Stelle im Staatsdienst bewarb, wurde nach der Zahl der familiären Opfer gefragt. Jemand mit vielen Toten wurde nicht genommen, er kam als Lehrer nur an einer Privatschule unter. Die Zahl der Toten war ein Makel, ein Beweis der Unzuverlässigkeit.
„Wo gingen die verschwiegenen Erinnerungen hin?“, frage ich Tirkawi. „Sie gingen nie weg. Als Kind weinte ich viel; manchmal tue ich es auch heute noch. Aber ich akzeptiere die Erinnerungen in mir. Es gibt zwei Wege: entweder die Gefühle annehmen oder sie zurückweisen und ewig von ihnen gequält werden. Ich habe sie akzeptiert.“
Gefängnisakten retten als Art zu trauern
Was aber, außer Angst, hielt eine totalitäre Familienherrschaft so lange am Leben, was war der Nährboden der Gewaltkultur des Assadismus? Wie lassen sich Extreme des Bösen erklären, wenn etwa im Tishreen-Militärkrankenhaus Häftlinge gezwungen wurden, einander mit Spritzen umzubringen? Einzelne Intellektuelle und Künstlerinnen haben begonnen, mit diesen Fragen zu ringen, mit der dunklen Seite einer Gesellschaft, die Fremde immer durch Herzlichkeit zu beeindrucken verstand. Für die erste Ausstellung moderner Kunst hat eine junge Frau das Thema Identität so bearbeitet: ein Zelt aus weißen Tüchern, innen grell beleuchtet. Die Stoffbahnen sind bedeckt mit hunderten Polaroid-Bildern, sie zeigen Leere, weiße Fläche, nicht erkennbare Gegenstände, Reste von Verbranntem.
Verbreiteter als die schwierige Examination des Eigenen ist die kollektive Aneignung des Siegs über Assad, den viele für sich reklamieren, darunter Wendehälse, die gestern den Führer priesen und heute sagen: Wie konnte er nur …
Überzeugend wirkt die Aneignung des Siegs dort, wo sie sich in Tatkraft für den Wiederaufbau äußert. So ist es im Stadtteil Jarmuk im südlichen Damaskus, wo einst 200 000 Palästinenser:innen lebten. Auch hier fielen Bomben, und daran waren, was ungern gesagt wird, regimenahe palästinensische Fraktionen beteiligt. Von Jarmuks einst stattlichen Wohnblocks stehen nur Gerippe mit bedrohlich heraushängenden Treppenhäusern. Das große Krankenhaus: ein Haufen Steine. Hier war der Gemüsemarkt, sagt jemand, hier das Fußballfeld; ich sehe nur Trümmer und Schutt. Doch es gibt Zurückkehrende, schon mehrere tausend, und sie sehen vor ihren inneren Augen ein wiederauferstehendes Jarmuk.
Sie rühren Zement an, stellen ein Holzgerüst auf, ein Solarpanel, und hier und dort leuchtet der Farbfleck eines neuen Wellblechtors aus dem Trümmergrau. Auf einer Ruine flattert von einer Leine Wäsche im Wind wie eine Erinnerung an Zivilität und Häuslichkeit.
Ahmad Schehadeh empfängt mich in einem Schmuckstück von frisch renoviertem Zuhause: blütenweiße Wände, auf einem Sims ein Kupferteller und ein Arafat-Bild. Er hat mit anderen die Gruppe Beit Falestin gegründet, „Haus Palästina“, wieder eine Metapher, inmitten von Ruinen. „Jarmuk muss ein Zeichen setzen, gerade heute, ein Zeichen für den Fortbestand palästinensischen Lebens. Wenn Jarmuk existiert, wird Palästina existieren.“ Einer Gedenkveranstaltung für die Toten von Jarmuk gab er das Leitmotiv: „Wir wagten es zu träumen, und wir werden unsere Würde nicht bereuen.“
Auch mein Dolmetscher Wissam Shahleh wagte zu träumen. Er ist kein Palästinenser, sondern zog als Aktivist aus einem von der Regierung kontrollierten Stadtteil ins oppositionelle Jarmuk und überlebte dort die monatelange Hungerblockade, als das Regime den Oppositionellen sagte: Kniet nieder oder verhungert.
In dem Viertel, wo er damals wohnte, überwältigen ihn Bilder von damals: wie sie verlassene Häuser nach einem Krümel Essbarem durchsuchten; wie sich ein Freund in der gemeinsamen Wohnung das Leben nahm. Er zeigt mir, wo sie das Gras pflückten, das sie aßen. Die Straße nahebei trennte die Hungerzone der Oppositionellen von der Regimewelt der Essenden, bewacht von Assads Scharfschützen. „Ich sah so viele hier sterben, und wir kamen an ihre Leichen nicht heran. Tag für Tag sahen wir zu, wie sie verwesten, und konnten nichts tun.“
Beim ersten Besuch in Jarmuk nach Assads Sturz musste er diese Grenze mehrfach überqueren, musste vor und zurück laufen, um seinen Körper spüren zu lassen: Die Blockade ist wirklich zu Ende. Danach schrieb er eine vergleichende Studie über das Hungern in Jarmuk und das Hungern in Gaza. Forschung, sagt er, sei seine Art der Selbstheilung.
Ein unbeleuchteter Treppenaufgang, kein Türschild. Die Anwälte und Anwältinnen vom Syrian Center for Legal Studies and Research wussten, wo in Sednaya die wichtigsten Akten lagerten, und sicherten davon so viele, wie sie konnten, in Dutzenden schwarzen Plastiksäcken. Einige stehen in diesem Büro, doch das meiste befindet sich an einem geheimen Ort außerhalb von Damaskus und wird aus Sicherheitsgründen nur in kleinen Mengen transportiert.
In Assads Gefängnissystem wurde unendlich viel auf Papier festgehalten – selbst der letzte Wunsch eines Häftlings vor der Exekution. Dadurch weiß man, dass der Betreffende kurz darauf hingerichtet wurde; die Hinrichtung aber verschweigt die Akte.
Die Papierberge zu bewältigen, ist die Arbeit von geschulten und zum Schweigen verpflichteten Freiwilligen. Sie heben aus einem Plastiksack zerknitterte Blätter auf einen Schreibtisch. Was lesbar ist, wird gescannt und bekommt eine Seriennummer – der erste Schritt, um einen verwertbaren Aktenbestand aufzubauen. Bis daraus Klageschriften entstehen, werden Jahre vergehen. „Es müssen beweiskräftige Klagen sein, wir wollen keine Schauprozesse.“ Nasrin, eine Bankangestellte, zu ihrem Schutz ohne vollen Namen, zieht für einen Moment die Schutzhandschuhe aus. „Diese Arbeit ist meine Art zu trauern“, sagt sie. Ihre engsten Gefährten wurden zu Tode gefoltert. Eine Freundin erkannte sie, furchtbar zugerichtet, auf den Fotos der Caesar-Files.3 „Ihr Bild verlässt mich nicht.“
Ein Land hinter einem Vorhang aus Schmerz.
Am letzten Tag, zwischen den grünen Hügeln der Provinz Idlib, sehe ich die ländliche Seite eines Domizids. Die Häuser von Menschen, die vor Assads Bomben flohen, wurden bis auf die Grundfesten geplündert, ihre Mauern eingeschlagen, um die Stahlverstrebungen darin zu Geld zu machen. Die Plünderer handelten im Auftrag regimenaher Firmen.
In einem Flüchtlingslager, das „Watan“ (Heimat) heißt, leben mehrere tausend Vertriebene seit Jahren in der Nichtheimat betagter UN-Zelte. Eine Familie lädt zum Tee; aus einem Haufen Decken wird ein Bündel hervorgeholt, ein Baby, 28 Tage alt, Kajal um die Augen. „Möge es ohne Bomben leben“, sagt die Mutter. „Wir haben den ganzen hohen Preis nur für die Zukunft unserer Kinder bezahlt.“
Manche Vertriebene kehren nun zurück, auf der Ladefläche des Pick-ups ein Wassertank, ein Solarmodul, ein paar Säcke. Manche nehmen das Zelt aus dem Camp mit, um es neben der Ruine ihres Hauses aufzustellen. In einem Dorf ist die Erde rings um ein Rückkehrerzelt mit weißen Papieren übersät –Aktenblätter mit Stempeln und Unterschriften. Der Wind hat sie durch die hohlen Fenster einer verlassenen militärischen Kommandostation über Straße und Feld geweht. Die Familie im Zelt ist zu erschöpft, um sich für die papiernen Überreste des Regimes zu interessieren.
1 Yassin al-Haj Saleh, „What Was It That Came to an End in Syria?“, yassinhs.com, 13. März 2025.
2 Sascha Ruppert-Karakas, „Der steinige Weg aus der Gewaltherrschaft“, Zenith, 14. Februar 2025.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Von ihr erschien: „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Berlin (Propyläen) 2022.
© LMd, Berlin
Die Zerstörung in Zahlen
Von den 23 Millionen Einwohner:innen Syriens wurden 11 Millionen aus ihren Häusern vertrieben, flüchteten in andere Regionen des Landes oder ins Ausland. Mehr als 2 Millionen Wohnungen und 9600 Schulen (jede zweite) wurden zerstört. Schätzungsweise 300 000 Menschen wurden seit Beginn der Revolution 2011 verhaftet. Über die Gesamtzeit der Assad-Herrschaft sollen 800 000 Menschen gefoltert worden sein. In Sednaya wurden laut Amnesty International allein in den ersten Revolutionsjahren 13 000 Häftlinge exekutiert.
Laut dem Syrian Network for Human Rights wurden 136 000 Verschwundene registriert, die Dunkelziffer ist weit höher. Für die überwältigende Mehrzahl der Fälle trägt das Assad-Regime die Verantwortung, so Mazin al-Balkhi, Programmdirektor für Syrien bei der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP). Menschen verschwanden aber auch in den Händen des „Islamischen Staats“, bei Operationen der Syrischen Demokratischen Kräfte, der Freien Syrischen Armee, der Syrischen Nationalen Armee und der Hay’at Tahrir al-Scham. Syrische Menschenrechtsorganisationen fordern, die Verbrechen aller Seiten aufzuarbeiten, auch die jüngsten Massaker an Alawiten in der Küstenregion. Eine Mitte Mai durch präsidiales Dekret beschlossene National Transitional Justice Commission soll sich jedoch nur den Verbrechen des Regimes widmen. Zeitgleich wurde eine Kommission für die Vermissten eingesetzt.