12.06.2025

Die Seele im Krieg

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Die Seele im Krieg

Posttraumatische Belastungsstörungen in der Ukraine und die überforderte Psychiatrie

von Caroline Thirion

Ukrainische Veteranen in einer Rehaklinik nahe Lwiw EVGENIY MALOLETKA/picture alliance/ap
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Ein Wäldchen inmitten der Steppe um Pokrowsk im ost­ukrai­nischen Oblast Donezk. Jemand hat zwischen den Bäumen ein Tarnnetz über ein paar Holzbänken aufgespannt, als Schattenspender. Darunter sitzen an einem Vormittag im Mai 2024 15 sichtlich erschöpfte Soldaten unterschiedlichen Alters und warten auf ihr Essen. Von irgendwoher hört man die Klänge einer Gitarre. Doch das ohrenbetäubende Artilleriefeuer und ein über uns hindonnernder Hubschrauber erinnern daran, dass die Front nur 20 Kilometer entfernt ist.

Oleksiy Churyga bereitet das Essen zu. Es ist ihm wichtig, nah bei den Soldaten zu sein, die gerade von einem Kampfeinsatz zurückgekehrt sind. Gemeinsam mit Dmytro und Tetiana1 kümmert er sich um die psychologische Betreuung der 47. Selbstständigen Mechanisierten Brigade „Magura“, eine der aktivsten Einheiten der ukrai­ni­schen Armee in dem Verteidigungskrieg gegen Russland seit dem 24. Februar 2022. „Hier können sich die Jungs entspannen, ihre Sachen waschen und duschen“, erklärt Dmytro und zeigt auf einen alten khakifarbenen Tankwagen, der zur mobilen Sauna umgebaut wurde. „Das ist wichtig für ihre Moral.“

Angstzustände, Anpassungs- und Verhaltensstörungen, Panikattacken und Schlaflosigkeit: Churyga beobachtet eine Zunahme posttraumatischer Symptome. Nicht nur die Furcht vor dem Tod und die Schockzustände nach einer Explosion belasten die Soldaten, erklärt der Psychologe im Offiziersrang. Hinzu kommt der Einsatz digitaler Technologien: „Durch die Drohnen fühlen sich die Männer permanent überwacht. Sie sind erschöpft. Es gibt zwar immer mehr Militärpsychologen, aber die Ausbildung hat sie nicht auf diesen Krieg vorbereitet.“

Nicht nur die Soldaten sind davon betroffen. Die psychische Gesundheit der gesamten Bevölkerung ist seit Kriegsbeginn zu einer immer größeren Herausforderung geworden: Zwar schätzt ein Drittel der befragten Ukrai­ner, dass ihre Probleme keiner Behandlung bedürfen, aber mehr als 90 Prozent leiden unter mindestens einem Angststörungssymptom und 60 Prozent könnten schwerwiegende Krankheitsbilder entwickeln.2 Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben die Angriffe auf zivile Ziele bei fast 3,9 Millionen Personen mittlere bis schwere Stresssymptome ausgelöst. Zudem wurden viele Einrichtungen zerstört, in denen sie behandelt werden könnten.3

Unter dem Motto „Ty jak?“ (Wie geht es dir?) hat Olena Selenska, die Ehefrau des Präsidenten, bereits 2023 zusammen mit der WHO und dem ukrai­nischen Gesundheitsministerium ein großes Programm zum sensiblen Umgang mit psychischen Erkrankungen aufgelegt.

Militärpsychiater gab es in der Ukraine und in Russland schon im Zarenreich. Der Russisch-Osmanische Krieg von 1877/78 war einer der ersten europäischen Kriege, in dem moderne Waffen wie Artillerie und Minen eingesetzt wurden. Die dadurch hervorgerufenen Psychosen, die Militärärzte bei manchen Soldaten beobachteten, bezeichneten sie zunächst als „Kontuzija“ (eigentlich Gehirnerschütterung). Rund 30 Jahre später führte Pjotr Michailowitsch Awtokratow (1856–1915), der Chefpsychiater der Russischen Armee im Fernen Osten, im Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) bereits eine Frontpsychiatrie ein, bei der mobile Teams aus Pflegern und Psychiatern am Rand des Kampfgeschehens Erste Hilfe leisteten.4

Vermutlich auf der Basis der Erfahrungen, die die russischen Psychiater in diesem Krieg gemacht hatten, entwickelte der deutsche Internist Georg Gabriel Honigmann (1863–1930), der in Wiesbaden eine Praxis für innere Medizin und Nervenheilkunde betrieb, damals das Krankheitsbild der Kriegsneurose.5

Nach dem Ersten Weltkrieg sprach man in der Psychoanalyse vom Kriegs­schock6 , der mit verschiedenen körperlichen und psychischen Krankheitserscheinungen einherging wie Zittern, Übelkeit, Lähmungserscheinungen, Verstummen (Mutismus), Gesichtskrämpfe (Rictus), Taubheit, Blindheit und Gedächtnisverlust (Amnesie). Oft wurden die Symptome jedoch als Ausdruck von Hysterie oder gar als Feigheit und Schwäche abgetan, insbesondere wenn der Patient keine äußerlich sichtbaren Verletzungen aufwies.

Das änderte sich erst im Zweiten Weltkrieg und vor allem gegen Ende des Vietnamkriegs (1955–1975), als unter US-Präsident Lyndon B. Johnson die Gewalt der US-Bodentruppen und -Luftstreitkräfte gegen die Zivilbevölkerung und nordvietnamesische Kriegsgefangene eskalierte. Die meisten US-Soldaten kehrten schwer traumatisiert aus diesem „schmutzigen Krieg“ zurück.

Gewalt, die sich auf die Gesellschaft überträgt

Ihre Symptome fassten US-Psychiater in den 1970er Jahren unter einem neuen Begriff zusammen: post-­traumatic stress disorder (PTSD, posttraumatische Belastungsstörung), der dann 1980 durch die American Psy­chia­tric Association in das Handbuch zur Klassifikation psychischer Krankheiten „­Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-III) aufgenommen wurde. Inzwischen wird die Diagnose PTSD auch auf Zi­vi­lper­so­nen sowie im Zusammenhang mit anderen traumatisierenden Gewalterfahrungen angewendet.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurden vor allem in russischen Fachzeitschriften Kriegstraumata von Soldaten erörtert. Dabei ging es um die psychischen Folgen ihrer Einsätze in den Invasionskriegen in Afghanistan (1979–1989) und Tschetschenien (1994–1996). Damals war man in Russland noch offen war für die Zusammenarbeit mit westlichen Experten, und da die Af­gha­nis­tanveteranen unter den ­gleichen Symptomen litten wie die Viet­nam­rück­kehrer, übernahmen die russischen Psychiater den Begriff PTSD zur Klassifizierung der psychischen Erkrankung. Von den 620 000 am Afghanistankrieg beteiligten sowjetischen Soldaten kamen übrigens 150 000 aus der ukrainischen Sowjetrepublik, 3000 von ihnen wurden getötet.7

Im aktuellen Krieg in der heutigen Ukraine schauen sich die Wissenschaftler auch an, wie sich die Traumata der Soldaten auf ihre Familien auswirken.8 Nach zwei Jahren an der Front weiß der Militärarzt Andriy Zholob, dass er an PTSD leidet. Seine Frau Irena erinnert sich an seine schrecklichen Albträume, seine plötzlich auftretende Aggressivität und sein Gefühl, inmitten scheinbar sorgloser Zivilisten sehr weit weg zu sein. Der 40-jährige Zholob engagiert sich in Lwiw mittlerweile in einem Veteranenverein. „Ein Ex-Soldat, der an einer starken PTSD leidet, kann zur Gefahr werden. Ich höre von Veteranen, die gleich zum Messer greifen, wenn es Streit gibt – wir müssen handeln!“, warnt er. Sonst werde sich die Gewaltbereitschaft noch auf die ganze Gesellschaft übertragen.

„Zunächst hatten wir keine Vorstellung davon, wie man Personen behandeln soll, die an PTSD oder massiven Kopfverletzungen leiden“, erinnert sich Professor Oleh Bereziuk, der den Psy­chia­tri­schen Dienst im Städtischen Krankenhaus Lwiw leitet. In den komplett neu eingerichteten Räumen sieht man lauter junge Männer an Krücken oder in Rollstühlen, mit Prothesen oder dicken Kopfverbänden. Um den plötzlichen Ansturm von polytraumatisierten Patienten bewältigen zu können, haben Professor Bereziuk und sein Team Fortbildungen im Ausland gemacht, bei Militärärzten der Nato, US-amerikanischen und israelischen Wis­sen­schaft­le­r:in­nen sowie Experten des Pariser Centre Primo Levi, das auf die Behandlung von Folteropfern spezialisiert ist.

Heute werden auf der Station in Lwiw, die sich zu 20 Prozent durch Spenden aus dem Ausland finanziert, viele innovative Therapieformen angewandt wie EMDR (eye movement ­desensitization and reprocessing: Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen), Kunst- und Körpertherapien oder transkranielle Magnetstimulation (TMS), eine relativ neue nichtinvasive Behandlung mit Magnet­im­pul­sen, die bei Depressionen alternativ zu Antidepressiva und Psychotherapien angewandt wird. 2024 wurden mehr als 15 000 Soldaten und Zivilpersonen von Bereziuks Team behandelt.

Dieses Vorzeigeprojekt ist allerdings eine Ausnahme im ukrainischen Therapiesystem, um das es schon vor dem Krieg schlecht bestellt war. 2016 betrugen die Gesundheitsausgaben in der Ukraine weniger als 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (der EU-Durchschnitt lag hier bei 10,4 Prozent) – davon wurden 2 bis 5 Prozent für die psychische Gesundheitsversorgung aus­ge­ge­ben.9 Seit 2022 wurden die Gesundheitsausgaben wegen der kriegsbedingten Haushaltskrise noch mehr gekürzt.

Die meisten traumatisierten Soldaten und Zivilisten kommen, wenn sie überhaupt psychiatrisch behandelt werden, in veraltete oder von russischen Bomben beschädigte Einrichtungen, wo meist ein unzureichend ausgebildetes Pflegepersonal mit sehr begrenzten Mitteln arbeitet und die Behandlung sich auf die Verabreichung von Medikamenten reduziert.

Wladislaw, ein 28-jähriger früherer Bergarbeiter, liegt seit mehreren Monaten im alten psychiatrischen Krankenhaus von Charkiw, weil er eines Nachts inmitten seiner Kameraden das Feuer auf seine „Gespenster“ eröffnet hatte. Das Krankenhaus wurde erst kürzlich bei einem russischen Angriff beschädigt, bei dem die durch die Gewalt des Kriegs bereits traumatisierten Patienten evakuiert werden mussten. Trotz der schlechten Ausstattung wird hier alles getan, um ihnen zu helfen.

Wladislaw verbringt seine Zeit mit der Hündin seiner Psychotherapeutin Iryna: eine Art Tiertherapie. Trotz seines psychisch labilen Zustands kann er jederzeit zurück an die Front geschickt werden. Im vierten Kriegsjahr braucht die Ukraine verzweifelt Soldaten.

„In den letzten 50 Jahren war kein konventioneller Konflikt so intensiv, das heißt so brutal, so umfassend, so lang“, sagt Professor Bereziuk. Die Zahl der Toten und Verletzten auf beiden Seiten der Front wird mittlerweile auf 1,5 Millionen geschätzt.10 „Die posttraumatische Belastungsstörung wird gewöhnlich durch eine einzige Traumatisierung ausgelöst“, erklärt der Psy­chia­ter. „Aber was geschieht, wenn ein Mensch nacheinander fünf-, zehn- oder 50-mal traumatisiert wird?“

1 Die nur mit Vornamen genannten Personen möchten anonym bleiben.

2 „How are you? As part of Olena Zelenska’s initia­tive, Ukrai­nians will be told about the ­importance of taking care of mental health“, 24. März 2023, www.president.gov.ua.

3 „Ukraine is not alone“, in: The Lancet Psychiatry, Bd. 11, Nr. 11, London, November 2024.

4 Frédéric Joli, „Les secouristes et le syndrome du stress post-traumatique“, Internationales Rotes Kreuz (IKRK), 10. Februar 2023, blogs.icrc.org.

5 Siehe Jean-Jacques Arzalier, „Combat Trauma and Fatigue“, in: „The Sage Encyclopedia of War: Social Science Perspectives“, New York, 2016.

6 Siehe Ernest Jones, „Die Kriegsneurosen und die Freudsche Theorie“, in: Karl Abraham, Sandor Ferenczi, Sigmund Freud, Ernest Jones und Ernst Simmel, „Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen“, Leipzig/Wien (Internationaler Psychoanalytischer Verlag) 1919, S. 65.

7 Jean-Pierre Filiu, „L’histoire troublée des vétérans ukrainiens d’Afghanistan“, Le Monde, 23. Juli 2023.

8 Siehe Iryna Frankova und andere, „Mental Health and Psychosocial Support in Ukraine: Coping, Help-seeking and Health Systems Strengthening in Times of War“, Diemen-Amsterdam (Vrije Universiteit Amsterdam) Februar 2024.

9 Marisa Casanova Dias und andere, „The Lancet ­Psychiatry Commission on mental health in Ukraine“, in: The Lancet Psychiatry, siehe Anmerkung 3.

10 Christian Edwards,„Russia nears 1 million war ­casualties in Ukraine, study finds“, CNN, 4. Juni 2025.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Caroline Thirion ist Journalistin. Die Reportage, in Zusammenarbeit mit Arnaud Bertrand, wurde vom belgischen Journalismusfonds gefördert.

Le Monde diplomatique vom 12.06.2025, von Caroline Thirion