Gaza – das lange Versagen des Westens
Die israelische Kriegsführung in Gaza ist nicht nur für die palästinensische Bevölkerung eine Katastrophe. Wenn der Westen die dortigen Völkerrechtsverbrechen, die nach Expertenmeinungen die Merkmale eines Genozids tragen, weiter tatenlos hinnimmt, geht damit auch die internationale Rechtsordnung zu Bruch.
von Gilbert Achcar

Seit dem 7. Oktober 2023 macht das palästinensische Volk die schlimmste Phase seiner langen Leidensgeschichte durch – schlimmer als die Nakba von 1948. Das arabische Wort bedeutet Katastrophe und meint das, was heute allgemein als „ethnische Säuberung“ bezeichnet wird. Dem Leid, das die Menschen in Gaza gegenwärtig erleben, wird nur das noch stärkere Wort karitha gerecht. Tatsächlich trägt die Katastrophe, die sich vor unseren Augen vollzieht, die Merkmale eines Genozids.1
Doch parallel zum Morden im Gazastreifen betreibt Israel auch eine ethnische Säuberung, und zwar im Westjordanland wie in der Enklave am Mittelmeer. Am 5. Mai kündigte der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich in der israelischen Siedlung Ofra an, man werde die Bevölkerung von Gaza in einem kleinen Gebiet im Süden „konzentrieren“. Von dort würden die Menschen dann „in großer Zahl in Drittländer auswandern“.2
Donald Trump dürfte bei diesem Drohszenario die Chance wittern, die arabischen Verbündeten der USA für eine aktualisierte Fassung seines „Deals des Jahrhunderts“ zu gewinnen, den diese 2020 noch abgelehnt hatten. Denn im Vergleich zur Perspektive einer ethnischen Säuberung erscheint dieser Plan, der die Schaffung eines Rumpfstaats namens Palästina vorsieht, wie das kleinere Übel.
Saudi-Arabien würde nach diesem Szenario dem Beispiel Bahrains, Marokkos und der Vereinigten Arabischen Emirate folgen, die ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben – wie schon Ägypten und Jordanien. Für den US-Präsidenten und den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu wäre dies ein Erfolg. Tatsächlich blieben die Probleme jedoch ungelöst. Die Zukunft des Nahen Ostens sieht also düster aus – so düster wie das gesamte Panorama der internationalen Beziehungen.

Bedingungslose Unterstützung für einen Krieg ohne Ende
Nun sind die internationalen Beziehungen nicht erst seit Trumps Wiedereinzug ins Weiße Haus getrübt. „Schon bevor Trump ins Amt kam, war die ‚regelbasierte internationale Ordnung‘ zutiefst zerrüttet, was zu einem großen Teil daran lag, dass Biden sich zum Komplizen der Zerstörung von Gaza machte“, schreibt die New York Times-Kolumnistin Michelle Goldberg.3 Und der Sozialwissenschaftler Yagil Levy konstatierte: „Tel Aviv hätte wie in der Vergangenheit von einer Bodenoffensive im Gazastreifen abgesehen, hätte man der Regierung nicht vorab auf internationaler Ebene die Legitimität ihres Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung der Enklave bescheinigt.“4
Mit „international“ sind natürlich die Länder gemeint, die den größten Einfluss auf Israel haben. Das ist allen voran das Land, das seit Ende der 1960er Jahre Israels wichtigster Unterstützer ist. Aber in Washington hat man gar nicht versucht, mäßigend auf den Verbündeten einzuwirken. Im Gegenteil, man beteiligte sich, zumindest über mehrere Monate, begeistert an einem Krieg, der tatsächlich erstmals ein amerikanischer und israelischer war, auch wenn die US-Armee nicht direkt an der Bombardierung von Gaza mitgewirkt hat.5
Für Joe Bidens beflissene Unterstützung von Netanjahus Israel gibt es keine „materialistische“ oder „realistische“ Erklärung. Der einzig plausible Grund ist ideologischer Natur. Mit seiner distanzlos proisraelischen Haltung übertrumpfte Biden sogar Donald Trump, der in seiner ersten Amtszeit schon weit über den parteiübergreifenden Konsens in den USA hinausgegangen war. Ursprünglich hatte der demokratische Präsident zwar angedeutet, er werde einige der Zusagen seines republikanischen Amtsvorgängers rückgängig machen. Doch dann hat er mit seiner bedingungslosen Unterstützung einer Open-End-Offensive gegen Gaza die Politik Trumps nicht nur fortgeführt, sondern noch überboten.
Eine Überraschung war das nicht. Schon 2020 hatte der Journalist Peter Beinart anlässlich der Vorwahlen der US-Demokraten auf „Joe Bidens alarmierende Bilanz beim Thema Israel“ hingewiesen. In einem langen, gut recherchierten Artikel in Jewish Currents enthüllte Beinart folgende Geschichte:
Im Frühjahr 2009 wollte Präsident Barack Obama, der gerade ins Weiße Haus eingezogen war, Druck auf Netanjahu ausüben, um die Perspektive eines palästinensischen Staats am Leben zu erhalten. Damals hat sein Vize den israelischen Premierminister wild entschlossen verteidigt. Laut Beinart hatte Netanjahu im US-Establishment nie einen engagierteren Fürsprecher als Joe Biden.
1973 machte Richard Nixon mitten im Jom-Kippur-Krieg im privaten Kreis gegenüber dem jüdisch-amerikanischen Geschäftsmann Leonard Garment die viel zitierte Bemerkung: „Ich bin Zionist. Um Zionist zu sein, muss man kein Jude sein.“ Dasselbe Bekenntnis hat auch der Präsident Joe Biden mehrmals öffentlich abgelegt. Ein Jahr nach dem Angriff vom 7. Oktober 2023 – als wichtige Menschenrechtsorganisationen mit Blick auf die Offensive in Gaza bereits von Genozid sprachen7 –, bekannte er stolz: „Keine Regierung hat Israel mehr geholfen als meine. Keine. Keine. Keine.“8
Die traumatische Wirkung, die der Angriff der Hamas hatte, ließ die Parteilichkeit Bidens noch einseitiger werden. In weiten Teilen des Westens, der besonders sensibel reagiert, wenn ein Unheil seinen Verbündeten widerfährt, lösten die Bilder von dem Hamas-Anschlag das aus, was man ein narzisstisches Mitgefühl nennen könnte.
Dies führte im Zusammenwirken mit dem Schuldgefühl in den Ländern, die den NS-Genozid an den Juden begangen oder zugelassen hatten – etwa in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien – zu einer beispiellosen bedingungslosen Solidarität mit Israel. Und das in einer Situation, in der das Land von Leuten regiert wird, die sich in Vernichtungsfantasien gegenüber den Palästinensern ergehen und die keinen Zweifel daran ließen, dass ein Massaker von genozidalem Ausmaß bevorstand.
Diese scheinbare Paradoxie rührt von einem Interpretationsansatz her, der die Lehren aus der Vernichtung der europäischen Juden durch das NS-Regime nicht im humanistisch-universalistischen Sinne zieht, sondern aus ethnozentrischer partikularistischer Sicht. Und das, obwohl die Niederwerfung des NS-Regimes und des Faschismus durch die Alliierten eine neue Ära einleiten sollte, eine neue internationale Ordnung auf der Basis der 1945 beschlossenen UN-Charta.
In dieser Richtung wurden auch wichtige Fortschritte erzielt. Dazu gehörten die Gründung des Internationalen Gerichtshofs (IGH), der den 1922 vom damaligen Völkerbund gegründeten Ständigen Internationalen Gerichtshof ablöste, und die Stärkung des humanitären Völkerrechts durch die 1949 verabschiedete Neufassung der Genfer Konvention, die das „ius in bello“ auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausweitet.
Doch die geschaffene Ordnung wurde sehr bald entwertet. Der Kalte Krieg – vom „Westen“ als Kampf gegen den Kommunismus, vom „Osten“ als Kampf gegen den US-Imperialismus geführt – wurde mehr und mehr zum Vorwand für eine generelle Missachtung der UN-Charta, wobei die USA voranschritten.
Der Neoliberalismus atlantischer Prägung galt bald als einzig akzeptierte Form des Liberalismus überhaupt. Als in den 1990er Jahren der sowjetische Machtblock auseinanderfiel, sah man das im gegnerischen Lager als großen ideologischen Sieg, der die radikale Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse besiegelte.
In dieser kurzen unipolaren Phase gab es bei der Transformation der „neuen Weltordnung“ in eine „kosmopolitische Demokratie“ ein paar wichtige Fortschritte, bei denen Washington allerdings nicht immer mitmachte. 2002 wurde der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) gegründet. Dieses internationale, aber nicht zur UN-Organisation gehörige Gericht ist speziell für die Strafverfolgung von Einzelpersonen zuständig, denen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder das Verbrechen der Aggression vorgeworfen wird.
Die UN hatten aber schon 1993 den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) eingerichtet. Der hat in seinem 2017 ergangenen Urteil das Massaker von Srebrenica, bei dem bosnische Serben 1995 etwa 8000 Bosniaken umgebracht hatten, als Völkermord bewertet. Beim heutigen Massensterben in Gaza ist die Zahl der Opfer weitaus größer.
Im Oktober 2005 erkannte die Vollversammlung der Vereinten Nationen das Prinzip der „Schutzverantwortung“ (responsibility to protect, kurz R2P) an, mit dem das Prinzip der Souveränität von Staaten relativiert wird. Demnach ist es erlaubt, „im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Regionalorganisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig darin versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen“. Allerdings hatten die USA schon vor 2005 „humanitäre Interventionen“ durchgeführt, etwa am Horn von Afrika und später im ehemaligen Jugoslawien.9
Kampf gegen Kommunismus als Blankovollmacht
Es war der Auftakt zu einem beispiellosen militärischen Interventionismus. Die „neue Weltordnung“ erwies sich als schnell vergänglich, denn 1999 begingen die USA mit ihren Verbündeten die erste essenzielle Völkerrechtsverletzung seit dem Ende des Kalten Kriegs. Der Kosovokrieg begann ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats, um ein Veto Russlands und Chinas zu umgehen.
Ein Jahr zuvor hatten die USA und Israel – mit fünf weiteren Staaten – auf der Konferenz von Rom gegen die Verabschiedung des IStGH-Statuts gestimmt. Das wurde zwar im Dezember von Präsident Clinton – an dessen letztem Amtstag – unterschrieben, aber die Bush-Regierung machte den Beitritt im Mai 2002 – zusammen mit Israel – wieder rückgängig.
Zehn Monate später begingen die USA mit der Invasion im Irak ihre zweite bedeutende Völkerrechtsverletzung. Israel hatte schon seit 2001 bei der Niederschlagung der zweiten Intifada mehrfach gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen.
Der „Krieg gegen den Terror“ war das gemeinsame Banner, unter dem George W. Bush wie Ariel Scharon ihre Offensiven begannen. Es ersetzte den „Kampf gegen den Kommunismus“ als Blankovollmacht für die flagrante Missachtung der Prinzipien, auf denen die internationale Ordnung beruht.
Das Prinzip der Schutzverantwortung wurde dann 2011 bemüht, um die von den USA und Frankreich angeführte Intervention in Libyen zu legitimieren. Diese Operation ging rasch über das Mandat des UN-Sicherheitsrats hinaus, das die ständigen Mitglieder Russland und China mit ihrer Enthaltung ermöglicht hatten. Dieser Präzedenzfall brachte das Instrument in Misskredit. Wohl deshalb wurde eine „Schutzverantwortung“ im Hinblick auf Massaker wie in Syrien nicht mehr postuliert.
Auch im Hinblick auf den aktuellen Genozid in Gaza haben die westlichen Staaten dieses Prinzip über Bord geworfen. Vom gesamten Gebäude der internationalen Ordnung bleibt offenbar nicht mehr viel übrig. Die Missachtung vieler westlicher Staaten der IGH- und IStGH-Urteile gegen Israel und seine politische Führung haben den liberalen Anspruch dieser Ordnung nachhaltig diskreditiert. Denn auf den IStGH-Haftbefehl gegen Wladimir Putin vom März 2023 hatten diese Staaten noch völlig anders reagiert als auf den Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu, den derselbe Gerichtshof am 21. November 2024 erlassen hat.
Eine weitere Wirkung kommt hinzu: Indem die Regierungen und politischen Parteien, aber auch viele Intellektuelle des Westens die Straftaten der amtierenden israelischen Regierung tatenlos hinnehmen, tragen sie zur Verharmlosung ihrer eigenen Rechtsextremisten bei, deren Judenhass seit Jahren durch die Politik Netanjahus genährt wird.10 Der „neue Antisemitismus“, der pauschal den Muslimen und all jenen unterstellt wird, die sie verteidigen oder die Israel kritisieren, ist eine Kategorie, mit der sich die rechtsradikalen Kräfte in Europa und den USA vom tatsächlichen Judenhass exkulpieren. Und mit genau diesen Kräften wird dann gemeinsame Front gemacht.
Die Rede vom „neuen Antisemitismus“ fördert zudem die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Palästinenser und die Leugnung des aktuellen Genozids. Wenn die progressiven Kreise der westlichen Länder dabei mitmachen, missachten sie ihre eigenen politischen Traditionen.
Innerhalb des transatlantischen Bündnisses sind die Kräfte der extremen Rechten überall auf dem Vormarsch – auch in den beiden Ländern, die sich im Zweiten Weltkrieg standhaft gegen die Achsenmächte behauptet hatten: in den USA und in Großbritannien.
Der Versuch, der internationalen regelbasierten Ordnung nach dem Kalten Krieg neues Leben einzuhauchen, ist kläglich gescheitert. Das liegt nicht am Erstarken der extremen Rechten, die im Grunde erst aufblühte, nachdem der Versuch bereits gescheitert war. Es liegt vielmehr an der Inkonsequenz, der Heuchelei und der hegemonialen Arroganz derjenigen, die sich stets als Verteidiger des Liberalismus geben.
Wenn der Westen dem Völkermord in Gaza teilnahmslos zusieht, ist das Ende dieser Ordnung besiegelt. Dann ist das Versprechen eines regelbasierten internationalen Systems, das der Westen 1945 abgegeben und 1990 erneuert hat, unwiederbringlich dahin.
5 Siehe Gilbert Achcar, „Die USA als Kriegspartei“, LMd, Februar 2024.
6 Peter Beinart, „Joe Biden’s alarming record on Israel“, Jewish Currents, 27. Januar 2020.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Gilbert Achcar ist Autor des Buchs „Gaza, génocide annoncé. Un tournant dans l’histoire mondiale“, das 2025 bei La Dispute, Paris, erschien. Der Text wurde diesem Buch entnommen und adaptiert.