07.05.2025

Der wahre Justizskandal

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Der wahre Justizskandal

Der Prozess gegen Marine Le Pen offenbart Fehler im System – es sind andere, als der RN behauptet

von Lisa Giraud und Raphaël Kempf

Paris, 31. März 2025: Tag der Urteilsverkündung THOMAS HUBERT/picture alliance/sipa
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Nach dem Urteil gegen Ma­rine Le Pen wird nicht nur in Frankreich darüber debattiert, was gefährlicher ist für die Demokratie: das Strafmaß oder die Kritik an der Richterin, die das Urteil gefällt hat. Die Frage ist berechtigt, verlangt aber unbedingt eine nüchterne Analyse des Falls.

Am 31. März 2025 war die ehemalige Parteichefin des rechtsextremen Rassemblement National (RN) nach einem jahrelangen Prozess für schuldig befunden worden, EU-Gelder veruntreut zu haben. Dafür bekam sie vier Jahre Gefängnis (zwei Jahre auf Bewährung und zwei mit elektronischer Fußfessel) und eine Geldstrafe in Höhe von 100 000 Euro. Außerdem wurde ihr mit sofortiger Wirkung für fünf Jahre das passive Wahlrecht entzogen, weshalb sie bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2027 voraussichtlich nicht antreten kann.

Noch am selben Tag behauptete Le Pen im Fernsehsender TF1, das Gericht agiere wie in einem autoritären Regime. „Richterliche Tyrannei“, sekundierte am 1. April im Radiosender Europe 1 der RN-Vorsitzende Jordan Bardella. Der 29-Jährige hat sich mittlerweile öffentlich zum Ersatzkandidaten für 2027 erklärt, sollte Le Pens Berufung gegen das Urteil scheitern.

Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise stellte auf X das Urteil sogar grundsätzlich infrage: „Die Entscheidung, einen gewählten Volksvertreter seines Amts zu entheben, sollte beim Volk liegen.“ Selbst der französische Premier François Bayrou zeigte sich „irritiert“.

Andere Po­li­ti­ke­r:in­nen wie Marine Tondelier von den Grünen oder der Sozialist Boris Vallaud warfen wiederum Le Pen vor, sie missachte mit ihrer Infragestellung des Urteils „die elementaren Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechtsstaats“. Auch der Gerichtspräsident Christophe Soulard tadelte den Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz und sah damit „die Fundamente unserer Demokratie“ beschädigt (Le Monde, 2. April 2025).

Einen politischen Gegner verurteilt zu sehen, mag mit einer gewissen Genugtuung verbunden sein. Man wundert sich nur darüber, wie Linke plötzlich für eine Justiz in die Bresche springen, die sie ansonsten für ihre Härte gegenüber den Schwachen und ihre Nachsicht gegenüber den Mächtigen kritisieren. Zumal auch die Richterschaft nicht über Einflüsse erhaben ist, wie der Ökonom Arnaud Philippe an einem konkreten Beispiel gezeigt hat.

Philippe hat untersucht, wie sich die Abschaffung der Mindeststrafen etwa für Wiederholungstäter, die unter Präsident Nicholas Sarkozy 2007 eingeführt worden war, nach 2014 auf die Urteilsprechung ausgewirkt hat. Man hätte beispielsweise erwarten können, dass dadurch die Höhe der Gefängnisstrafen insgesamt sinkt. Tatsächlich verharrten sie aber auf dem gleichen hohen Niveau, an das sich die Gerichte nach der Einführung der Mindeststrafe offenbar gewöhnt hatten. Philippe schlussfolgert daraus, dass die Richterschaft „entgegen allen Beteuerungen wie der Rest der Bevölkerung vermutlich der Ansicht ist, dass die einzig ‚wahre Strafe‘ die Gefängnisstrafe ist“.1

Der Prozess gegen Marine Le Pen legt die Schwächen des Justizwesens offen, aber nicht aus den Gründen, die der RN anprangert. Die Verurteilung ihrer Galionsfigur ist nämlich alles andere als skandalös. Schließlich hat der Front National, wie der RN bis zu seiner Umbenennung 2018 hieß, zwischen Juli 2004 und Februar 2016 insgesamt 2,9 Millionen Euro veruntreut. Um die Parteiarbeit zu finanzieren, hat Le Pen ihren Status als EU-Abgeordnete zwischen 2004 bis 2017 ausgenutzt und jahrelang Scheinverträge mit dem EU-Parlament abgeschlossen.

Die Angeklagte macht sich zur Klägerin

Dass sie EU-Gelder in Anspruch genommen hat, bestreitet Marine Le Pen nicht. Sie sieht aber lediglich eine „verwaltungstechnische Meinungsverschiedenheit mit dem Europäischen Parlament“ und argumentiert, dass jedes gewählte Mitglied frei und nach eigenem Gutdünken über die Verwendung parlamentarischer Mittel entscheiden können sollte, solange dies im Rahmen politischen Handelns geschieht. Im Namen der Gewaltenteilung plädiert sie daher dafür, dass ihr Fall und der ihrer 20 Mitverurteilten (8 ehemalige EU-Abgeordnete und 12 parlamentarische Assistenten) „juristisch nicht verfolgbar“ sei.

Richter und Gesetze hart angehen, der Justiz den medialen Prozess machen, die Fakten zugeben und zugleich fordern, dafür nicht bestraft zu werden: Es ist eine klassische „défense de rupture“, eine Verteidigungsstrategie, bei der die Angeklagte zur Klägerin wird. Dass allerdings eine politische Führungsperson, die gewöhnlich an die Härte des Gesetzes und richterliche Strenge appelliert, wider alle Evidenz von einer solchen Strategie Gebrauch macht, entbehrt nicht einer gewissen Komik.

Die Kritiker verbeißen sich insbesondere am Entzug des passiven Wahlrechts mit sofortiger Wirkung. Dabei ist diese Maßnahme gar nicht so außergewöhnlich, wenn das Gericht dafür triftige Gründe angeben kann. In diesem Fall hat es ein erhöhtes Rückfallrisiko geltend gemacht, weil die Angeklagte nicht nur ein Schuldbekenntnis vermissen ließ, sondern sogar „totale und absolute Straffreiheit“ forderte und sich dabei auf „eine zumindest abenteuerliche Version“ der Wahrheit berief.

Des Weiteren sah das Gericht eine „erhebliche Störung der demokratischen Ordnung“, wenn eine Person für die französische Präsidentschaft kandidieren oder gewählt werden könnte, die in erster Instanz wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder verurteilt wurde. Dieses Risiko bewertete das Gericht als gewichtiger als den einstweiligen Entzug des passiven Wahlrechts, selbst wenn Le Pen dadurch die Wahl 2027 verpassen und die Entscheidung im Berufungsverfahren nicht bestätigt werden sollte. Einen Tag nach dem Urteilsspruch hat sich das Pariser Berufungsgericht dazu verpflichtet, den Fall vor Sommer 2026 zu verhandeln, nachdem Marine Le Pen angemahnt hatte, das Gericht solle sich gefälligst beeilen.

Le Pen bekommt also auch noch ein schnelles Berufungsverfahren, nachdem die RN-Angeklagten schon im gesamten Prozess eine privilegierte Behandlung genossen haben, von der gewöhnliche Delinquenten nur träumen können. In dem jahrelangen Verfahren konnten Le Pen und ihre Mitangeklagten ihre Verteidigung minutiös planen und öffentlich ausschlachten. So erfuhr man etwa Anfang 2017 aus den Me­dien, dass sich Marine Le Pen einer Vorladung der örtlichen Kriminalpolizei erfolgreich widersetzt hatte. Dagegen werden Taschendiebe oder kleine Cannabisdealer nicht selten unter Anwendung von brutaler Gewalt festgenommen und sofort in Untersuchungshaft gesteckt.

In Schnellverfahren werden die Angeklagten wie am Fließband abgefertigt und weggesperrt. Bei diesen Schnellverfahren lag die Quote der einstweilig – also sofort – vollstreckten Haftstrafen im Jahr 2023 bei 87 Prozent2; gegenüber 66 Prozent nach Untersuchungsverfahren, wie Marine Le Pen eines zuteil wurde, die übrigens immer noch keine elektronische Fußfessel tragen muss.

Im Rahmen der Ausnahmeregelungen, die für Schnellverfahren gelten, haben die Verurteilten zwar formell das Recht auf Revision, aber das nehmen sie, vor allem bei kurzen Haftstrafen, meist nicht in Anspruch. Denn erstens sind die Wartezeiten für ein Berufungsverfahren – mindestens vier Monate bei Inhaftierten – viel zu lang, und zweitens besteht das Risiko, dass sich durch die Revision das Strafmaß verschärft.

Und wenn Marine Le Pen über mangelnden Rechtsschutz klagt, kann sie sich an die eigene Nase fassen: Am 3. April 2024 hat der RN für das Gesetzesvorhaben der konservativen Partei Horizons gestimmt, die erst 2021 von dem Ex-Premier Édouard Philippe gegründet wurde. Seitdem können Gerichte zum Beispiel wieder Gefängnisstrafen von unter einem Monat verhängen, und die Rich­te­r:in­nen sind bei Strafen unter einem Jahr nicht dazu verpflichtet, über alternative Maßnahmen anstelle des Freiheitsentzugs nachzudenken.

Manche haben sich auch darüber aufgeregt, dass Le Pens Weigerung, ihr Fehlverhalten einzugestehen, angeblich strafverschärfend gewirkt habe. „Sie hätte also ein Schuldgeständnis ablegen müssen, um auf ein mildes Urteil hoffen zu dürfen? In welcher Welt leben wir denn?“, ereiferte sich etwa der Publizist Alain Finkielkraut am 3. April im Wochenmagazin Le Point.

Dabei ist es vollkommen üblich, Untersuchungshaft oder härtere Strafen zu verhängen, wenn Angeklagte ihre offensichtlichen Taten nicht zugeben wollen. Genauso wie allgemein bekannt sein dürfte, dass in unserem Rechtssystem die Strafmilderung grundsätzlich möglich ist, wenn ein Geständnis vorliegt.

Es steht zu befürchten, dass so man­che:r, der oder die das Urteil gegen Le Pen verteidigt, übers Ziel hinausschießt und sich jede Kritik an fragwürdigen Gesetzen oder am Justizwesen versagt. Eine nüchterne Analyse dieses Urteils sollte daher vielmehr zum Anlass genommen werden, ohne Ansehen der Person und grundsätzlich für alle eine ebenso wohlwollende Behandlung vor Gericht einzufordern, wie sie Marine Le Pen zuteil wurde. In jedem Fall sollte man die viel zu strengen Urteile in den Schnellverfahren, wie sie an französischen Gerichten praktiziert werden, scharf kritisieren.

1 Siehe Arnaud Philippe, „La fabrique des jugements. Comment sont déterminées les sanctions pénales“, Paris (La Découverte) 2022.

2 Siehe Französisches Justizministerium, Réference statistique justice 2024, Paris, 19. Dezember 2024, zuletzt aktualisiert am 14. Februar 2025.

Aus dem Französischen von Christian Hansen

Lisa Giraud ist Anwältin in Paris; Raphaël Kempf ist Anwalt und Autor von „Violences judiciaires. La justice et la répression de l‘action politique“, Paris (La Découverte) 2022.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2025, von Lisa Giraud und Raphaël Kempf