07.05.2025

Von Partnern zu Rivalen

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Von Partnern zu Rivalen

von Ariane Bonzon

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Am 30. März erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan anlässlich des Zuckerfestes zum Ende des Ramadan: „Wir wissen und sehen, was in Palästina passiert. Gott verfluche das zionistische Israel.“ Israel reagierte postwendend. Außenminister Gideon Saar schrieb auf X: „Diktator Erdoğan hat sein antisemitisches Gesicht gezeigt. Er ist eine Gefahr für die Region und für sein eigenes Volk. Wir hoffen, dass die Nato-Mitgliedstaaten dies verstehen.“

Die Palästinafrage hat in der Vergangenheit immer wieder die türkisch-israelischen Beziehungen belastet. Und nun kommen sich die beiden Länder, die als große Gewinner des Sturzes von Baschar al-Assad im Dezember 2024 gelten, auch in Syrien ins Gehege.

„Solange das Militär die türkische Politik dominierte [also etwa bis 2007], war Ankara ein Verbündeter Tel Avivs“, erklärt der Militärexperte Gareth Jenkins. Die Türkei, wo zur Zeit der Gründung Israels eine große jüdische Gemeinschaft lebte, hatte den neuen Staat bereits 1949 anerkannt – früher als irgendein anderes Land mit muslimischer Mehrheit.

Als Vorposten des Westens während des Kalten Krieges und Nato-Mitglied seit 1952 versuchte die Türkei, dem arabischen und sowjetischen Einfluss im Nahen Osten entgegenzuwirken. Umgekehrt „verfolgte Israel in den 1950er und 1970er Jahren eine Politik der Umgehung der arabischen Länder und privilegierte die Türkei sowie die Kurden und Iran“, erklärt der Anthropologe Yoann Morvan vom französischen Forschungszentrum CNRS.

Besonders eng waren die Beziehungen zwischen den Militärs der beiden Länder in den 1990er Jahren. Ankara war damals auf die militärische Hilfe Tel Avivs angewiesen. Die türkische Regierung war in dieser Zeit nicht nur mit der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und dem Aufstieg des politischen Islam konfrontiert, sondern auch mit zwischenzeitlichen Waffenembargos europäischer Staaten.

Hinzu kam, dass die türkische Generalität die israelische Armee bewunderte. Jenkins verweist etwa auf die Begeisterung von General Doğan Bayazıt, dem damaligen Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Türkei, der von der „Nähe der israelischen Armee zum Volk“ und ihrer „führenden Rolle in der Gesellschaft“ schwärmte. Im Oktober 1995 unterzeichneten beide Seiten ein Militärabkommen. Und als 1996 der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan ins Amt kam, wurde er alsbald von der Militärführung gezwungen, mit Israel eine Vereinbarung über militärische Zusammenarbeit sowie ein Freihandelsabkommen zu unterzeichnen. Diese doppelte Annäherung war auch im Sinne Washingtons.

Als 2002 die AKP an die Macht kam, verschlechterten sich die Beziehungen. Die Hamas gehörte als palästinensischer Ableger der Muslimbruderschaft einer politischen Familie an, mit der sich auch Teile der AKP identifizierten. 2004 tötete Israel zudem die beiden Hamas-Mitbegründer Ahmed Yassin und Abdel Asis Rantisi.

Zwei Jahre später gewann die Hamas die Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat, was in Ankara als persönlicher Erfolg von Ministerpräsident Erdoğan interpretiert wurde. Weder die USA noch die EU erkannten das Wahlergebnis an, sodass sich die Türkei als Verteidigerin der Demokratie in der Region präsentieren konnte.

Als der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert im Dezember 2008 seinen türkischen Amtskollegen in Ankara besuchte, bereitete Israel bereits seine Operation „Gegossenes Blei“ vor. Diese Boden- und Luftoffensive gegen Gaza, die Ende Dezember 2008 begann, war eine Reaktion auf die Raketenangriffe der Hamas. Der dreiwöchige Krieg forderte 1400 Tote auf palästinensischer und 13 auf israelischer Seite.

„Wir wurden gedemütigt. Olmert hätte nicht kommen oder uns zumindest über ihre Pläne informieren sollen“, sagte ein türkischer Diplomat damals. Erdoğan verurteilte wenig später auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos die Militäroperation, griff den israelischen Präsidenten Schimon Peres verbal an und warf Israel vor, am Strand spielende Kinder zu töten. Wütend über die Unterbrechung durch den Moderator, stürmte er kurz danach von der Bühne. Der Vorfall in Davos, der vor laufenden Kameras stattfand, steigerte Erdoğans Popularität in der arabischen Welt.

In der Türkei verfestigte sich so die Auffassung, man müsse die antiisraelische und propalästinensische Karte ausspielen, um in der Regionen eine wichtige Rolle zu spielen. Allerdings war es nicht so sehr Erdoğan, sondern vor allem Ahmet Davutoğlu, der die türkische Außenpolitik ab 2007 neu ausrichtete – zunächst als Ideologe und Erfinder des Konzepts der „strategischen Tiefe“, später als Außen- und Premierminister.

Im Mai 2010 kam es zur Affäre um die „Mavi Marmara“. Auf Initiative Da­vut­oğlus versuchte das von der türkischen Stiftung für Humanitäre Hilfe (IHH) gecharterte Schiff die von Israel und Ägypten verhängte Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Er­do­ğan war davon nicht gerade begeistert. Nachdem die israelische Marine jedoch das Schiff geentert und dabei neun Aktivisten getötet hatte, beschuldigte der türkische Präsident Israel des „Staatsterrorismus“ und richtete einen Appell an die „internationale Gemeinschaft“.

Seine Rede vor dem türkischen Parlament wurde simultan ins Englische und – was außergewöhnlich war – ins Arabische übersetzt. Wochenlang versammelten sich daraufhin tausende Demonstrierende vor dem israelischen Konsulat in Istanbul, um gegen die Politik Tel Avivs zu protestieren.

Gleichwohl, so erinnert sich ein westlicher Wirtschaftsattaché, „war Israel damals mit dem größten Stand auf der Verteidigungsmesse in Istanbul vertreten“. Und auch der Handel zwischen den beiden Staaten schrumpfte nicht. „Die Realpolitik behielt die Oberhand“, resümiert Yoann Morvan.

Der wirtschaftliche Erfolg der Türkei – 2010 lag das BIP-Wachstum bei mehr als 8 Prozent1 – mehrte ihr Ansehen in der arabischen Welt und stand für eine erfolgreiche Verbindung von Islam und Demokratie. Als 2011 der Arabische Frühling ausbrach, versuchte Ankara diese Reputation zu nutzen, um den Nahen Osten in einer Allianz mit den in Ägypten regierenden Muslimbrüdern neu zu ordnen. Auch in Syrien hoffte die türkische Führung auf eine Machtübernahme durch die Muslimbruderschaft.

Im Oktober 2011 bot die Türkei an, einige hochrangige Hamas-Kader aufzunehmen, die damals im Austausch für den entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit freigelassen worden waren. „Ankara verschloss die Augen vor den Aktivitäten der Organisation: Geldwäsche und die Einfuhr von Waren aus Iran über die Türkei nach Gaza“, sagt Gallia Lindenstrauss, Forscherin am Institute for National Security Studies in Tel Aviv. „Die türkische Regierung stellte den Hamas-Führern Pässe aus und verlieh ihnen dann die Staatsbürgerschaft.“

Ähnlich sieht es der ehemalige is­rae­lische Diplomat Alon Liel: „Ankara hat der Hamas erlaubt, in der Türkei ihr Hauptquartier einzurichten und von dort ihren Kampf um das Westjordanland zu führen. So hat man die Organisation legitimiert.“

Angesichts der türkischen Kontakte zu Iran, zur ägyptischen Muslimbruderschaft und zur Hamas wurde das Land zu einem Schlüsselstaat für den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad, der dort nach Rekrutierungsmöglichkeiten suchte. Im Fokus standen „insbesondere Mitarbeiter der türkischen Regierung mit möglichen Kontakten zur Hamas“, so Jenkins. Der damalige Leiter des türkischen Geheimdienstes, Hakan Fidan, soll darüber so erbost gewesen sein, dass er die Namen von zehn Iranern, die für Is­rael spionierten hatten, an Teheran weitergab. Kurz darauf wurden sie in Iran hingerichtet.

Während eines Besuchs in Israel im März 2013 forderte US-Präsident Barack Obama eine Wiederannäherung zwischen Tel Aviv und Ankara. Israels Premier Benjamin Netanjahu entschuldigte sich endlich telefonisch bei Er­­doğan für den Angriff auf die „Mavi Marmara“ und verpflichtete sich, den Opfern hohe Entschädigungen zu zahlen – ein Erfolg, der Erdoğans Ansehen zu Hause weiter festigte.

Zuvor hatte die türkische Seite sich jedoch auf zwei weitreichende Zugeständnisse eingelassen. Zum einen akzeptierte sie die Darstellung Tel Avivs, dass die Todesfälle auf operative Fehler der israelischen Armee zurückzuführen seien, und ließ den Vorwurf fallen, dass sie vorsätzlich herbeigeführt wurden. Zum anderen, so der Analyst Kadri Gürsel, „verzichtete die AKP-Regierung darauf, eine Aufhebung der Gaza-Blockade zu fordern“, obwohl genau dies der Grund für die Expedition der „Mavi Marmara“ im Mai 2010 gewesen war.

2018 kamen bei der Niederschlagung von Protesten gegen den Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem dutzende Palästinenser ums Leben. Dadurch nahmen die Spannungen zwischen Ankara und Tel Aviv erneut zu. 2019 riefen Israel, Zypern, Ägypten und Griechenland außerdem das Eastern Mediterranean Gas Forum ins Leben, eine gemeinsame Plattform für Gaslieferanten, Transitländer und Käufer im östlichen Mittelmeerraum.

Im Präsidentenpalast in Ankara war man schockiert: Die Aussicht, ein Energie-Hub zu werden, rückte in weite Ferne. „Zu diesem Zeitpunkt realisierte die türkische Regierung, wie isoliert sie war“, erklärt Evren Balta, Professorin für internationale Beziehungen an der Özyegin-Universität in Istanbul. „Um zu verhindern, dass auch Libyen sich der Gruppe anschloss, unterzeichnete Ankara mit Tripolis Abkommen über die militärische Zusammenarbeit und die Grenzen ihrer maritimen Wirtschaftszonen.“

Auf dem sogenannten Negev-Gipfel im israelischen Sde Boker im März 2022, mit dem Tel Aviv versuchte, ein regionales Bündnis gegen Iran zu schmieden, wehten die Flaggen Bahrains, Ägyptens, der Vereinigten Arabischen Emirate, der USA, Marokkos und Israels Seite an Seite. Saudi-­Ara­bien und die VAE nahmen ihre Beziehungen zu Katar – einem Verbündeten der Türkei – wieder auf. Ein neuer Naher Osten begann sich abzuzeichnen, in dem die Türkei ins Abseits zu geraten drohte.

Erdoğan, seit 2014 türkischer Präsident, „ergriff die Initiative für eine Normalisierung“, so Liel. Die Abraham-Abkommen von 2020 hätten Erdoğans Sicht verändert: „Er verstand, dass sie Israels Position im Nahen Osten deutlich verbesserten.“ Im September 2023 trafen sich Erdoğan und Netanjahu am Rande der UN-Generalversammlung erstmals persönlich; sogar ein Besuch des israelischen Premiers in Ankara wurde angedacht. Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 fiel also in eine Zeit, in der sich die Türkei anschickte, ihre Beziehungen zu Israel zu normalisieren.

Dennoch verurteilte der türkische Staatsoberhaupt den Überfall nicht. Er lehnte die Bezeichnung „terroristisch“ für die Hamas ab und nannte sie eine „Gruppe von Freiheitskämpfern, die ihr Land schützen wollen“.2 In der Hoffnung, dennoch als Vermittler zwischen den Konfliktparteien zu fungieren, legte er einen Plan für die Beendigung des Konflikts vor, bei dem verschiedene Staaten – unter anderem die Türkei – als Sicherheitsgaranten auftreten sollten. Der Vorschlag wurde jedoch ignoriert, allen voran von den USA. Diese Abfuhr kam in Ankara nicht gut an und erklärt die darauffolgende Verschärfung des Tonfalls.

Viele Beobachter erkannten in der türkischen Position gegenüber Israel allerdings eine gewisse Doppelzügigkeit: Einerseits redete Ankara Klartext, machte aber andererseits weiter Geschäfte mit Israel.

Der türkische Journalist Metin Cihan, der in Berlin im Exil lebt, landete kurz vor den Kommunalwahlen im April 2024 einen Scoop mit einer Recherche zu den türkisch-israelischen Handelsbeziehungen, die er nach und nach auf X veröffentlichte. „Die Quellen sind offen, nichts ist geheim, man muss nur danach suchen“, erklärt er. „Er macht die Arbeit für uns“, räumen Ak­ti­vis­t:in­nen ein, die die „Heuchelei“ der türkischen Regierung anprangern. Ein Großteil der türkischen Öffentlichkeit forderte denn auch ein Ende der Handelsbeziehungen mit Israel. Dazu passt, dass 45 Prozent der Tür­k:in­nen der Hamas positiv gegenüberstehen.3

Die Neue Wohlstandspartei (YRP) unter der Führung von Fatih Erbakan, dem Sohn von Erdoğans einstigem Mentor, fordert nicht nur Sanktionen gegen Tel Aviv, sondern auch die Schließung der von Israel genutzten US-Radarstation Kürecik und sogar die Entsendung von türkischen Truppen in den Gazastreifen. Mit diesen Forderungen findet sie auch in den Reihen der AKP Gehör. Ein Bündnis mit der YRP lehnt Erdoğan jedoch ab. Ihm missfällt die Popularität des ­islamistischen Rivalen, dessen ­Partei bei den Kommunalwahlen im März 2024 fast 7 Prozent der Stimmen erhielt und die AKP in zwei bis dahin von ihr regierten Städten um die Macht brachte.

Einige Tage nach den Wahlen kündigte Ankara an, die Ausfuhr von 54 Produkten nach Israel zu stoppen. Und im Mai 2024 setzte die türkische Regierung offiziell die Handelsbeziehungen aus. Diese Sanktionen kamen die Türkei teuer zu stehen, denn ihre Exporte nach Israel beliefen sich bis dahin auf gut 5 Milliarden US-Dollar pro Jahr.4 Zur selben Zeit begrüßte Erdoğan eine von Ismael Hanijeh angeführte Hamas-Delegation und sagte seine geplante Reise nach Washington ab. Wenige Monate später schloss sich die Türkei der Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) an.

Der 6. Oktober 2024 war ein sonniger Tag in Istanbul. Im Stadtbezirk Üsküdar im asiatischen Teil der Metropole hatte sich eine kleine Menschenmenge von einigen hundert Demonstrierenden versammelt, über ihren Köpfen ein großformatiges Porträt von Jihia Sinwars, dem Hamas-Chef in Gaza, mit einem Kind und einer Maschinenpistole im Arm. Die Menge – die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite – bejubelten das Bild als Symbol des „Widerstands gegen den zionistischen Feind“ und schwenkten palästinensische und Hamas-Flaggen.

Ebenfalls zu sehen war das Konterfei von Ismael Hanijeh, den Erdoğan als seinen „Bruder“ bezeichnet hatte. Für den gut zwei Monate zuvor von den Israelis in Teheran getöteten Hamas-Chef hatte Erdoğan einen Staatstrauertag ausgerufen. Mit gen Himmel gerecktem Zeigefinger stimmten die Demonstrierenden in die Predigt eines Imams ein. Auf Plakaten wurde die Nato verspottet und der „Völkermord“ in Gaza angeprangert.

Lautstarke Kritik an der Nato wurde am selben Wochenende auch auf der europäischen Seite des Bosporus laut. Eine von Gewerkschaften und linken Gruppen organisierte Demonstration zog gegen „den amerikanischen Imperialismus und den Zionismus“ durch das Taksim-Viertel. Die Demonstrierenden forderten einen Einheitsstaat „from the river to the sea“. Doch statt Bildern von Sinwar und Hanija hielten sie Porträts von Leila Khaled in die Höhe. Khaled ist ein führendes Mitglied der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und war 1969 an der Entführung eines TWA-Flugzeugs beteiligt, das auf dem Weg nach Tel Aviv nach Damaskus umgeleitet wurde.

Die wenigen verschleierten Frauen unter den Demonstrierenden identifizierten sich nicht mit den Islamisten auf der anderen Seite des Bosporus. Sie liefen im Block der linken Gruppe „Youth for Palestine“ und bezeichneten sich als „Musliminnen gegen Erdoğan“. Sie protestierten auch gegen die Verhaftung ihrer „Schwester“ Beyza Bengisu Akyüz wenige Monate zuvor. Die junge Frau hatte im Zentrum Istanbuls für Sanktionen gegen Israel demonstriert, bevor sie von der Polizei in Handschellen abgeführt wurde. Ihr Vater war bei der Erstürmung der „Mavi Marmara“ von israelischen Kommandos getötet worden.

Wäh­le­r:in­nen der CHP waren unter den Demonstrierenden in Taksim nicht zu finden. Warum, erklärt der Politikwissenschaftler Aurélien Denizeau: „Die CHP ist eine Partei, die das Existenzrecht Israels anerkennt, in der Hamas keinen Gesprächspartner sieht und Sanktionen ablehnt.“

Am 28. April 2024 hatte Ekrem İmamoğlu, der mittlerweile inhaftierte CHP-Bürgermeister Istanbuls (siehe den nebenstehenden Kasten), auf CNN erklärt: „Natürlich hat die Hamas einen Angriff auf Israel durchgeführt. Dieser entsetzt uns, und wir betrachten jede organisierte Struktur, die Terroranschläge verübt und massenhaft Menschen tötet, als Terror­organisa­tion.“ Fast 50 Prozent der CHP-Anhängerschaft sprechen sich für eine neutrale Haltung der türkischen Regierung im Palästina-Konflikt aus, während es bei der AKP nur knapp 25 Prozent sind.

Ein weiterer wichtiger Akteur, der sich zurückhält, ist die kurdische Autonomiebewegung. Ihre Ak­ti­vis­t:in­nen haben sich in den letzten Jahren von der palästinensischen Sache distanziert. „Am 7. Oktober zogen sie zwangsläufig Parallelen zwischen der Vorgehensweise der Hamas und jener des Islamischen Staats, gegen den sie 10 000 Männer verloren haben“, erklärt der Journalist İrfan Aktan. Als Selahattin Demirtaş, ehemaliger Co-Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP), nach der Ermordung Hanijehs im Juli 2024 von seiner Zelle im Edirne-Gefängnis aus auf X seine Solidarität mit den Palästinensern bekundete, brachte ihm das eine Flut von Beleidigungen von kurdischer Seite ein.

Im Präsidentenpalast in Ankara weiß man, dass Tel Aviv indirekt zum Erfolg der Offensive der – von der Türkei unterstützten – islamistischen HTS-Miliz und damit zum Sturz von Assad beigetragen hat. Israel hat mit seinen Bombardements im Libanon die Hisbollah und Iran geschwächt. Beide waren Unterstützer des Regimes in Damaskus.

In Ankara bedauert auch niemand das Schicksal der schiitischen Organisation, die gegen die von der Türkei geförderten oppositionellen – teils auch dschihadistischen – Kräfte in Syrien gekämpft hat. „Im Grunde befinden sich Israel und die Türkei in Syrien in einer vergleichbaren Situation“, sagt Henri Barkey, emeritierter Professor für internationale Beziehungen an der Lehigh University (Pennsylvania). „Beide halten bedeutende Teile Syriens besetzt. Sie stehen vor ähnlichen sicherheitspolitischen Herausforderungen: Für die Türkei sind das die Kurden und für Israel die Hisbollah und andere Gruppen. Und beide wollen nicht, dass die Iraner zurückkehren, auch wenn dies wenig wahrscheinlich ist.“

Ist es vor diesem Hintergrund denkbar, dass die Türkei und Israel strategische Verbündete werden? Beide bewaffneten Aserbaidschan und unterstützten es militärisch im zweiten Bergkarabach-Krieg 2020, der mit der Niederlage Armeniens endete. „Vor dem 7. Oktober hatte Aserbaidschan übrigens versucht, eine Annäherung zwischen der Türkei und Israel herbeizuführen“, erinnert sich Rusif Hussei­now, der Direktor des in Baku ansässigen Toptschubaschow-Zentrums. „Und bis heute hält Aser­baidschan sowohl an seinem Bündnis mit der Türkei als auch an seiner ­strategischen Partnerschaft mit Israel fest.“

Dass Ankara dem Flugzeug des is­rae­lischen Präsidenten Isaac Herzog bei seinem Besuch in Baku im November 2024 den Überflug über türkisches Hoheitsgebiet untersagte, war vor allem als Geste zur Beruhigung türkischer Ak­ti­vis­t:in­nen gedacht, die sich dagegen wehren, dass weiterhin Öl aus Aserbaidschan über den südtürkischen Hafen Ceyhan nach Israel transportiert wird. Pläne für weitere türkisch-israelische Energieinfrastrukturprojekte schlummern derweil noch in den Schubladen.

Eines dieser Projekte betrifft den Bau einer Pipeline zwischen dem is­rae­lischen Offshore-Gasfeld Leviathan und Ceyhan. Daran ist auch Europa interessiert, das seine Abhängigkeit gegenüber Russland verringern will. Wegen des Kriegs in Gaza sind die Gespräche über das Projekt ausgesetzt worden. Doch Ankara schließt nicht aus, die Verhandlungen nach einem Waffenstillstand wieder aufzunehmen.

Trotz der teils konvergierenden Interessen in Syrien nehmen die Spannungen zwischen der Türkei und Israel seit dem Sturz Assads zu. „Syrien entwickelt sich zu einer neuen Quelle der Zwietracht zwischen den beiden Ländern“, meint Barkey. Israel misstraut dem türkischen Einfluss auf die neuen Machthaber in Damaskus und wünscht sich ein schwaches, de­zen­tra­li­sier­tes Syrien. Es hält die Golanhöhen weit über die nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 eingerichtete Pufferzone hinaus besetzt und hat verkündet, man sei bereit, die Drusen in Syrien „zu verteidigen“.

Die Kurden bezeichnete der israelische Außenminister Israel Katz im November 2024 als „natürliche Verbündeten“ seines Landes. Für Ankara wäre ein unabhängiges Rojava – die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten Syriens – jedoch ein Albtraum. Denn dieses könnte sich nach Einschätzung des Politologen Halil Karaveli zu einem „zuverlässigen Verbündeten Israels am strategischen Knotenpunkt zwischen Anatolien, Mesopotamien und der Levante“ entwickeln.

„Nach dem Libanon wird Israel seine Augen als Nächstes auf unser Heimatland richten“, warnte Erdoğan bei der Eröffnungssitzung des türkischen Parlaments am 1. Oktober 2024. Viele Beobachter vor allem aus Israel vermuten zwar, dass Tel Aviv nicht die nötigen Mittel besitzt, um eine weitere Front gegen Ankara zu eröffnen, und dass Netanjahu derzeit eher auf eine Konfrontation mit Iran fixiert ist.

Ein Beteiligter an den aktuellen Verhandlungen in Syrien schließt aber einen bewaffneten Konflikt mit der Türkei nicht aus: „Aus Netanjahus Sicht ist die Türkei jetzt der nächste Feind. Wenn Ankara eine Flugverbotszone im Norden Syriens fordert oder die Kon­trolle des Luftraums übernimmt, wäre das ein Casus Belli für den israelischen Premierminister. Netanjahu will sich alle Überflugmöglichkeiten erhalten, um in Syrien oder in Iran Luftschläge durchführen zu können.“

Ist also eine bewaffnete Konfrontation zwischen den beiden großen Militärmächten der Region zu befürchten, mit einem der engsten Verbündeten der USA auf der einen und einem Nato-Mitglied auf der anderen Seite? Spätestens dann müssten die türkischen Diplomaten umdenken, für die stets das Motto galt: „Mit Israel wäre alles in Ordnung, gäbe es die Palästinenser­frage nicht.“

1 Zahlen laut IWF.

2 Gabriel Gavin, „Mediator no more: Erdoğan takes aim at Israel, backing Hamas,freedom‘ fighters“, Politico, 25. Oktober 2023.

3 Lena Argiri, „Greece makes strides in global fight against antisemitism, study finds“, Kathimerini, 15. Januar 2025.

4 Killian Cogan, „La Turquie met fin au commerce bilatéral avec Israël“, Les Échos, 3. Mai 2024.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Ariane Bonzon ist Journalistin.

İmamoğlu und Öcalan

von Ariane Bonzon

Zwei Themen prägen derzeit die türkische Innenpolitik: die Inhaftierung des populären Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu und die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der kurdischen PKK. Seit İmamoğlu am 19. März festgenommen wurde, ist das Land in Aufruhr. Die gesamte Opposition, ebenso wie Stu­den­t:in­nen und Schüler:innen, protestieren fast täglich für die Freilassung İmamoğlus und gegen den Demokratieabbau durch die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Die Vorwürfe gegen İmamoğlu und etliche andere Po­li­ti­ke­r der größten Oppositionspartei CHP sind wenig substanziell. Kritik am Vorgehen von Staatsanwaltschaft und Polizei beantwortet die Staatsanwaltschaft mit neuen Anklagen wegen angeblicher Beleidigung der Justiz. Allein gegen İmamoğlu laufen mittlerweile sechs Verfahren; jedes könnte mit hohen Haftstrafen und einem Politikverbot für ihn enden.

Die Opposition und vor allem auch der überwiegende Teil der jungen Tür­k:in­nen betrachten das Vorgehen des „Regimes“ gegen İmamoğlu als Teil einer Kampagne, mit der die Demokratie endgültig ausgehebelt und Erdoğan durch eine Verfassungsänderung zum Präsidenten auf Lebenszeit erklärt werden soll.

Wegen dieser Befürchtung sind die Protestierenden auch so hartnäckig. Zehn Tage lang wurde nach der Festnahme İmamoğlus jeden Tag vor dem Istanbuler Rathaus demonstriert, danach organisierte die CHP jedes Wochenende eine große Protestveranstaltung in einer anderen Stadt, zu der jeweils zehntausende Teilnehmer kamen. Außerdem findet jeden Mittwoch in einem anderen Bezirk in Istanbul eine Kundgebung statt. Neben İmamoğlu sind etliche weitere Bezirksbürgermeister oder deren Stell­ver­tre­te­r:in­nen festgenommen worden, in einigen Bezirken wurde ein staatlicher Zwangsverwalter eingesetzt.

Bisher hat die Protestbewegung verhindern können, dass auch die Metropole Istanbul insgesamt unter Zwangsverwaltung gestellt wird. Allerdings wird die Funktionsfähigkeit der Stadtverwaltung durch immer neue Verhaftungen beeinträchtigt. Erst am 26. April wurden 50 wichtige Angestellte der Stadt verhaftet, darunter der Chef der Istanbuler Wasserwerke; ein sensibler Posten in der unter chronischem Wassermangel leidenden 18-Millionen-Einwohner-Stadt.

In ihren Kampf für die Freilassung İmam­oğlus und vorgezogene Neuwahlen wird die CHP von allen Oppositionsparteien unterstützt, selbst rechte Parteien kritisieren die Inhaftierung İmamoğlus scharf.

Auch die prokurdische DEM-Partei unterstützt die Kampagne für İmamoğlu, ist bei den Demonstrationen aber nur mit wenigen Leuten vertreten. Das hat zwei Gründe: Während ein Teil der DEM-Mitglieder sich mit der übrigen Opposition gegen den Demokratieabbau stemmen wollen, sind andere der Meinung, die CHP hätte zu wenig getan, als Bür­ger­meis­te­r:in­nen ihrer Partei abgesetzt und eingesperrt wurden. In den letzten Jahren hatte Erdoğan immer wieder insbesondere kurdische Bürgermeister unter dem Vorwand, sie würden die PKK unterstützen, ihres Amtes enthoben.

Der zweite Grund für die Zurückhaltung der DEM ist der sogenannte Friedensprozess zwischen der Regierung und der PKK. Im Herbst 2024 hatte ausgerechnet der Vorsitzende der rechtsradikalen MHP, Devlet Bahçeli, eine Freilassung von PKK-Gründer Abdullah Öcalan ins Spiel gebracht, wenn dieser die PKK auffordern würde, sich aufzulösen und ihre Waffen niederzulegen.

Mittlerweile hat Öcalan genau dies getan, doch seitdem ist zumindest öffentlich wenig passiert. Die Regierung will keine Zugeständnisse machen, bevor die PKK sich nicht entwaffnet hat, und die PKK besteht darauf, Öcalan müsse erst freigelassen werden, damit er den Prozess der Auflösung der PKK selbst leiten kann. ⇥Jürgen Gottschlich

Jürgen Gottschlich ist taz-Korrespondent in Istan­bul.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2025, von Ariane Bonzon