Ein anderer Protektionismus ist möglich
von Benoît Breville

Seattle ist eine moderne, dynamische und weltoffene Stadt, die Wiege von Boeing, Microsoft und Starbucks, mit einem riesigen Hafen, der nach Asien ausgerichtet ist. Seattle mit seiner starken Gewerkschaftstradition war 1919 auch Schauplatz eines der größten Generalstreiks in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Daran hatte die Welthandelsorganisation (WTO) wohl nicht gedacht, als sie im Herbst 1999 ihre dritte Ministerkonferenz hier abhielt. Einige militante Gruppen hatten zu Demonstrationen aufgerufen, aber die würden „nicht länger als drei oder vier Stunden dauern“, versicherte der Bürgermeister. Dann aber eroberte eine bunte Menge von 50 000 Menschen vier Tage lang die Stadt und blockierte Kreuzungen und U-Bahn-Stationen.
Unterdessen liefen auch die Debatten im Kongresszentrum aus dem Ruder. Mehrere Länder des Südens lehnten die neuen vom Westen geforderten Sozial- und Umweltstandards kategorisch ab. Ägypten, Brasilien, Indien, Indonesien, Nigeria und andere sahen darin versteckten Protektionismus, der ihre Entwicklung bremsen würde.

Sie schimpften über die Heuchelei der reichen Länder, die den Freihandel preisen, während sie ihre eigene Landwirtschaft massiv subventionieren, und forderten einen gerechteren internationalen Handel. „Es wäre besser, eine Pause einzulegen“, gab die Konferenzvorsitzende zu, „als auf der Grundlage eines Konsenses voranzugehen, der nicht existiert.“ Die neoliberale Globalisierung erlebte einen historischen Rückschlag.1
Im medialen Gedächtnis geblieben sind vor allem die „schwarzen Blöcke“ in Schwaden von Tränengas, die sich der Polizei entgegenstellten. Dabei bestand das Gros des friedlichen Protests aus Mitgliedern von Gewerkschaften, Indigenen-Verbänden und Umweltschutz- sowie Menschenrechtsgruppen.
Neben Greenpeace und Friends of the Earth liefen die United Steelworkers (USW), die größte Industriegewerkschaft Nordamerikas, dazu die Hafengewerkschaft International Longshore and Warehouse Union (Ilwu), die zu diesem Anlass alle Häfen der Westküste blockierte, und die Fernfahrer der International Brotherhood of Teamsters (IBT), die gegen die angekündigte Öffnung des heimischen Markts für mexikanische Spediteure Sturm liefen.
In dieser beispiellosen Koalition von „Teamsters and Turtles“ (so bezeichnet wegen der als Meeresschildkröten verkleideten Umweltschützer)2 kämpften die einen für ihre Arbeitsplätze, die anderen für den Erhalt des Planeten. Einig waren sie sich in ihrer Kritik am Freihandel und in ihrer Forderung nach einem gerechteren Handelssystem, das nicht auf Profitgier und dem Recht des Stärkeren beruht, sondern auf dem Respekt vor der Umwelt und Sorge um die Lage der Arbeiter:innen.
„Diese Demonstration ist keine Demonstration der Vereinigten Staaten, sondern eine Demonstration der arbeitenden Menschen aus aller Welt: reiche Länder, arme Länder, weiße Länder, schwarze Länder, alle Länder“, rief LeRoy Trotman von der Barbados Workers Union bei einer Kundgebung im Memorial Stadium unter dem Jubel von 25 000 Menschen.3
Und auch eine dritte Gruppe kam nach Seattle, auch sie globalisierungskrititisch, aber aus ganz anderen Gründen. Sie kam auf Aufforderung von Patrick Buchanan, einer Galionsfigur der nationalistischen und protektionistischen Rechten. Buchanan, der das 1994 in Kraft getretene Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) vehement kritisierte, trat als Verteidiger der Arbeitsplätze in den USA auf, während er zugleich einen Abbau sozialer und gewerkschaftlicher Rechte forderte. „Es gibt etwas, das wichtiger ist als der Handel. Es heißt Heimat, und wir schließen uns dem Kampf in Seattle an, um sicherzustellen, dass jemand unsere Heimat verteidigt“, verkündete er kurz vor dem Gipfel.4
Heute – 25 Jahre später – besetzen Buchanans geistige Erben die höchsten Institutionen der USA, angefangen beim Weißen Haus. Dem Freihandel fügen sie schwere Schläge zu – und werden von Gewerkschaften unterstützt.
Als Donald Trump die spektakuläre Erhöhung der Zölle für alle Länder der Welt als „Tag der Befreiung“ verkündete –, war die Ablehnung nahezu einhellig: Sein brutaler, inkohärenter Plan werde die Inflation anheizen, das weltweite Wachstum untergraben und die geopolitischen Spannungen erhöhen. Das Wall Street Journal nannte es die „dümmste Zollentscheidung in der Geschichte“, der Economist sagte „wirtschaftliches Chaos“ voraus.
Mehrere Gewerkschaften haben indes Trump ihrer Unterstützung versichert, weil sie jede protektionistische Initiative gut finden, möge sie noch so erratisch sein. „In den letzten 40 Jahren hat die Handelspolitik zu einer Abwanderung von Arbeitsplätzen in andere Länder geführt, wo Arbeiter ausgebeutet werden, um billige Produkte in die USA zu liefern“, sagte Teamsters-Sprecherin Kara Deniz. „Es muss etwas geschehen, und wir begrüßen diese Ankündigung.“5
Shawn Fain, Vorsitzender der United Auto Workers (UAW), der Trump für die Entlassung von Beamten und die Behinderung gewerkschaftlichen Organisierung kritisiert, erklärte dennoch: „28 Jahre lang habe ich bei Chrysler gearbeitet und war immer Mitglied der UAW. Ich habe miterlebt, wie eine Fabrik nach der anderen geschlossen wurde. Und ich bin immer noch wütend, wenn ich daran denke, wie wir betrogen wurden. Wenn also jemand wie Trump kommt und über Zölle und Handel redet, dann spricht das die Leute an.“6
25 Jahre nach Seattle trennen sich die Teamster also von den Schildkröten. Dabei galt noch Anfang der 2000er Jahre der Kampf gegen die neoliberale Globalisierung als linkes Projekt – mit Vorschlägen für eine Besteuerung von Finanztransaktionen und einen „solidarischen“ und „ökologischen“ Protektionismus. Das Freihandelsdogma schien in die Defensive geraten zu sein. Seit dem Debakel von 1999 gelang es der WTO nicht mehr, eine vollständige multilaterale Verhandlungsrunde abzuschließen. Der Traum vom großen globalen Abkommen zur einheitlichen Regelung des internationalen Handels erfüllte sich nicht.
Aber den Plan zur Ausweitung des Freihandels haben die WTO-Mitgliedstaaten nie aufgegeben. Sie förderten ihn durch bilaterale und regionale Abkommen, die im Lauf der Jahre zu Dutzenden unterzeichnet wurden.
Diese Politik der kleinen Schritte war viel weniger anfällig für Proteste: Die EU hat Freihandelsabkommen unter anderem mit Südkorea (2015 in Kraft getreten), Japan (2019), Vietnam (2020) und Neuseeland (2024) ausgehandelt, ohne größere Medienberichte oder politische Debatten. Selbst wenn nationale Parlamente solche Abkommen nicht ratifizieren, kann die EU-Kommission eine „vorläufige Anwendung“ anordnen.
Ende Januar 2025 waren weltweit 373 solcher Abkommen in Kraft, von denen die meisten zwischen 2000 und 2015 unterzeichnet wurden. Seit etwa zehn Jahren erlebt der Freihandel jedoch erste Rückschläge. Gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit beschloss Trump den Rückzug der USA aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) mit insgesamt 12 Staaten.
Er beendete auch die Verhandlungen über das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) mit der EU. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) verhandelte er neu, erhöhte die Zölle auf Aluminium und Stahl und verhängte gegen China zusätzliche Abgaben. Sein Nachfolger Biden nahm diese Maßnahmen nicht zurück, verfolgte allerdings einen komplexeren Protektionismus, weniger durch Zölle als durch gezielte Subventionen für bestimmte Branchen wie grüne Energie und Halbleiter.
Dieser politische Richtungswechsel geht auf Ereignisse wie die Finanzkrise von 2008 zurück, die die verheerenden Folgen der Deregulierung sichtbar machten: Die Deindustrialisierung in den westlichen Ländern beschleunigte sich und stürzte ganze Regionen ins Elend, während sich die Börsen schnell wieder erholten.
Seit Inkrafttreten des Nafta-Abkommens sind in den USA über 90 000 Fabriken verschwunden, fast acht pro Tag. Heute leben im Land 870 Milliardäre, mehr als je zuvor, aber 63 Prozent der Bevölkerung verfügen nicht über ausreichende Ersparnisse, um auch nur eine unvorhergesehene Ausgabe von 500 Dollar zu bewältigen.7 In den ehemaligen industriellen Zentren des Landes sinkt die Lebenserwartung, auch wegen der Opioid-Epidemie, die hunderttausende Menschenleben forderte.
Das internationale Handelssystem verschärft zudem die Klimakrise. Dass in der Nordsee gefangene Krabben vorgekocht, zum Schälen nach Marokko transportiert, zum Verpacken in die Niederlande geschickt und in Deutschland verkauft werden und dabei in 13 Tagen 6500 Kilometer zurücklegen, lässt sich nicht rechtfertigen. Solche Lieferketten sind nicht nur ökologischer Wahnsinn, sondern auch sehr störungsanfällig: In der Coronapandemie sahen sich die von Importen abhängigen westlichen Länder außerstande, die benötigten Masken, Beatmungsgeräte und Medikamente bereitzustellen.
Und die russische Invasion in der Ukraine und damit der teilweise Ausfall zweier großer Rohstoffexporteure destabilisierte die Weltmärkte und führte zu Nahrungsmittelknappheit insbesondere in Afrika und im Nahen Osten. Das Prinzip der „Souveränität“ in Bezug auf Gesundheit, Ernährung, Militär und Energie kommt langsam wieder in Mode.
Diese Diskreditierung des Freihandels bot der Rechten die ideale Gelegenheit, um ihre nationalistische und imperialistische Version des Protektionismus durchzusetzen. In den USA ist sie nichts anderes als eine Form der Erpressung auf Grundlage der bestehenden Machtverhältnisse, um dem Aufstieg Chinas entgegenzuwirken und die eigene Vorherrschaft zu sichern.
Trump, der an der Spitze des größten Markts der Welt steht, setzt Zölle nicht etwa für soziale Gerechtigkeit ein, sondern als außenpolitisches Machtinstrument. Der US-Präsident kann mit einem einzigen Tweet die Weltmärkte bewegen, um diejenigen zu bestrafen, die sich ihm widersetzen, und seine Vasallen zu belohnen. „Anstatt unsere Bürger zu besteuern, um andere Länder reicher zu machen, werden wir fremde Länder besteuern, um unsere Bürger reicher zu machen“, versprach er in seiner Antrittsrede am 20.Januar.
Von Umverteilung, fairem Handel, Multilateralismus und Umweltschutz keine Spur. Von den Zielvorstellungen von Seattle ist dieses Programm weit entfernt. Es diskreditiert sich darüber hinaus selbst durch Trumps ständige Richtungswechsel und die absurden Berechnungen der jeweiligen Zollsätze.
Angesichts eines derart aggressiven und chaotischen Protektionismus gewinnen die Verfechter des Freihandels auf einmal wieder Oberwasser und holen ihre Marktöffnungsprogramme aus den 1990er Jahren hervor. So drängt etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen darauf, mit Indien „das größte Freihandelsabkommen aller Zeiten“ abzuschließen.
Politiker:innen und Journalist:innen auf beiden Seiten des Atlantiks, die keineswegs dem neoliberalen Spektrum zuzuordnen sind, raufen sich nun die Haare wegen der fallenden Aktienkurse und schlagen wegen der Inflations- und Wachstumsprognosen Alarm. Und setzten genau die Waffen gegen Trump ein, die sonst gegen sie gerichtet wurden.
Dessen ungeachtet bleibt es aber eine demokratische, soziale und ökologische Notwendigkeit, die Orte der Produktion und des Konsums einander anzunähern. Warum soll ein toxisches System aufrechterhalten werden, das den Planeten unter Massen von nutzlosen Wegwerfprodukten begräbt und völlig ungeeignet ist, die elementaren Bedürfnisse der ärmeren Bevölkerungsschichten zu decken?
Es gibt gute Gründe für Teamster und Schildkröten, der mafiösen Trump-Version von Protektionismus eine altruistische entgegenzusetzen: die, zu der die globalisierungskritische Bewegung vor einem Vierteljahrhundert aufgerufen hat. Die globale Gefahr, die noch bedrohlicher ist als Trump und seine Unterstützer, entspringt den wirtschaftlichen Ursachen, die ihn an die Macht gebracht haben, namentlich dem deregulierten Handel.
Im Grunde ist das allen klar, aber so manche setzen aus Opportunismus andere Prioritäten. „Die absurde Zollsaga des Präsidenten treibt zu viele Linke dazu, mit der Wall Street ins Bett zu hüpfen und auf das alte, katastrophale und unternehmenszentrierte Denken zurückzugreifen“, schrieb der demokratische Ex-Senator Sherrod Brown in einem Gastkommentar für die New York Times am 20. April. Er war 1999 in Seattle mitmarschiert. Die Demonstrierenden von damals kämpften gegen den Freihandel, ohne sich vor der Reaktion der Märkte zu fürchten.
4 Zitiert in „The new trade war“, The Economist, 2. Dezember 1999.
6 „UAW president Shawn Fain on why he supports tariffs“, Jacobin, 10. April 2025.
7 Vgl. Lori Wallach, „The trade policy we need“, The American Prospect, 28. März 2025.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Benoît Bréville ist Chefredakteur von LMd, Paris.