Was Rumänen von Europa halten
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 4. Mai errang George Simion von der rechtsnationalistischen Partei AUR einen deutlichen Sieg. Die starke Zustimmung hat auch mit weit verbreiteter EU-Skepsis zu tun.
von Florentin Cassonnet

Bevor die Donau ins Schwarze Meer mündet, durchfließt sie ausgedehntes Schwemmland und bildet ein mäanderndes Delta. Bei Tulcea, im Osten Rumäniens, teilt sie sich in drei Arme. Der nördliche, der Kilijaarm, bildet die Grenze zur Ukraine. Auf einem Hügel, von dem der Blick sich in der Weite verliert, steht ein Denkmal für die „Tapferkeit des rumänischen Volkes im Befreiungskrieg gegen die türkische Herrschaft“, also im russisch-türkischen Krieg von 1877/78, der dem Land die Unabhängigkeit brachte.
Am Horizont qualmt weißer Rauch aus den Schloten einer Fabrik – eine der wenigen, die noch nicht dichtgemacht wurden. Graue Schwaden ziehen von einer Brachfläche herüber, wo Leute Abfälle verbrennen. Und jenseits der Grenze hängen noch dunklere Wolken. Der Krieg ist nicht weit: Schon öfter sind Trümmerteile von Drohnen auf rumänisches Territorium gefallen. Mehrmals in der Woche weckt eine Sirene die Bewohner von Tulcea mitten in der Nacht. Über Handy bekommen sie Warnungen vor „vom Himmel fallenden Gegenständen“.
„Das stresst“, gesteht Marius Tudorie, ein 49-jähriger Ingenieur mit akkurat gestutztem Bart, der seit 17 Jahren bei der örtlichen Werft arbeitet. Er ist Vizevorsitzender der rechtsextremen Partei Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR) im Ort und einer von sechs neu gewählten Abgeordneten der Partei im Regionalrat.
Vorher war er bei der Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE) aktiv; 2020 trat er in die Partei des Rechtspopulisten George Simion ein, die bei den damaligen Wahlen 33 der 330 Sitze Parlamentssitze eroberte. Bei den Parlamentswahlen letzten Dezember gewann die tendenziell faschistische Partei 63 Sitze, konnte die Zahl ihrer Abgeordneten also fast verdoppeln.
Aber sie teilt sich die parlamentarische Bühne jetzt mit zwei weiteren rechtsextremen Parteien: S.O.S. Rumänien unter Diana Iovanovici-Șoșoacă (27 Sitze) und die Partei der Jungen Menschen (POT) unter Anamaria Gavrilă (23 Sitze), die bei der später annullierten Präsidentschaftswahl vom Dezember 2024 den parteilosen Kandidaten Călin Georgescu unterstützt hatte.
Die Erfolgswelle der Ultrarechten hat neben anderen Faktoren mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. „Russland kann nicht besiegt werden, Rumänien sollte sich nicht in diesen Krieg einmischen“, sagt Marius Tudorie. „Wir haben ein Haushaltsdefizit, uns werden Sparmaßnahmen abverlangt. Das Geld für den Krieg sollte lieber in die Entwicklung des Landes gehen.“ Die Solidarität mit den Geflüchteten von 2022 ist inzwischen verblasst. Der Lebensstandard in Rumänien ist einer der niedrigsten im europäischen Vergleich. Die Inflation lag laut Eurostat im Jahr 2024 bei 5,8 Prozent (nach 12 Prozent 2022 und 9,7 Prozent 2023).
Tudorie wünscht sich eine „neutrale Ukraine, als Puffer zwischen der Europäischen Union und Russland“. Dass der große Nachbar in sein Land einmarschieren könnte, ist für ihn unvorstellbar. Er fürchtet einen Atomkrieg. Aber derzeit gilt seine größte Sorge der Werft: „25 Prozent der Wirtschaft und der Arbeitsplätze in der Stadt sind von ihr abhängig. Wenn der Krieg weitergeht und sich ausweitet, könnte das für uns kritisch werden. Ein einziger Drohnentreffer und die Kosten für Versicherungen würden explodieren.“
Tudorie wettert gegen die „kulturelle Gleichmacherei“ der EU und die „Gefahr durch den Zustrom der Migranten“. Aber der Verbleib in Nato und Europäischer Union liege im nationalen Interesse, so sehen es neun von zehn Rumänen. Und wie 40 Prozent seiner Landsleute findet er, Brüssel lege der nationalen Souveränität Fesseln an; das Land solle günstigere Bedingungen mit der EU aushandeln.
Die Werft von Tulcea gehörte nach ihrer Privatisierung im Jahr 2000 einem norwegischen Konzern, der Versorgungsschiffe für Bohrinseln baute; heute ist sie im Besitz eines auf Kreuzfahrtschiffe spezialisierten italienischen Konsortiums. Dass die Werft wirtschaftlich so bedeutsam ist, liegt auch daran, dass andere Wirtschaftszweige darben: Der Krieg hat dem Tourismus schwer geschadet, die Landwirtschaft leidet nach dem Wegfall der Zollbeschränkungen durch Brüssel unter der Konkurrenz des ukrainischen Weizens.

Warnung vor vom Himmel fallenden Gegenständen
„Rumänien hat keinen eigenen Kompass, es ist eine Kolonie“, behauptet Tudorie. Er hätte lieber einen Staatschef, der die nationalen Interessen zu verteidigen weiß, einen wie Donald Trump oder Viktor Orbán, statt eines Präsidenten wie Klaus Iohannis, der sich der EU unterordne. „Kuschen vor Brüssel und Washington“ nennt es Tudorie.
Mit derartigen politischen Analysen im Rücken, die sich in Rumänien rasant verbreitet haben, hat George Simion bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 4. Mai über 40 Prozent der Wählerstimmen eingefahren. Die Präsidentschaftswahl vom Dezember 2024 war abgebrochen worden, nachdem die Behörden aufgrund geheimdienstlicher Unterlagen den kometenhaften Aufstieg von Călin Georgescu auf die „Einmischung eines staatlichen Akteurs“ – gemeint ist Russland – zurückführten, vor allem durch 27 000 falsche Tiktok-Accounts.
Auch für die Wiederholungswahl galt Georgescu als Favorit. Doch das Verfassungsgericht untersagte ihm die Kandidatur, weil er „gegen die Verfassung verstoßen hat, indem er die im Wahlrecht formulierten Gesetze zur Wahlkampffinanzierung nicht respektiert und manipulativ Computertechnologie eingesetzt hat“.
Aus Sicht vieler dient die Behauptung der „russischen Einflussnahme“ aber vor allem dazu, die Schwächen der rumänischen Demokratie zu verschleiern. „Dreißig Jahre lang haben die rumänischen Eliten die Fehlschläge und die Gewalt während des Übergangs zur Demokratie den ‚Kommunisten‘ angelastet, selbst wo es sich um Auswüchse des kapitalistischen Systems handelte. Nun ist der Verweis auf ‚die Russen‘ zur bequemsten Entschuldigung geworden“, resümiert Florin Poenaru, Soziologe an der Universität von Bukarest.
Richtig ist, dass Georgescu zumindest einmal den ultranationalistischen russischen Ideologen Alexander Dugin getroffen hat und dass sein Aufstieg durch Russland gefördert, nicht aber initiiert wurde. Georgescu ist ein Produkt des rumänischen Staats und seiner Clans, die sich auf die verschiedenen Sicherheitsorgane, staatlichen Institutionen und politischen Parteien verteilen.
Einer seiner „Paten“ war Mircea Malița (1927–2018), Diplomat des Ceaușescu-Regimes und Mitglied der prestigeträchtigen Rumänischen Akademie. Laut einer investigativen Recherche fand der Fiskus zudem heraus, dass die Nationalliberale Partei (PNL) Georgescus Wahlkampagne indirekt über soziale Netzwerke finanziert hat, in der Hoffnung, er werde ihrem Rivalen von der Sozialdemokratischen Partei (PSD) Stimmen entziehen.1
„2007 wollten wir alle in die EU, aus Verzweiflung. Es wurde schlecht verhandelt und das Land verkauft“, sagt Cătălin. Der 36-Jährige, dessen Name geändert wurde, lebt in Tulcea und arbeitet im Bereich IT-Sicherheit. Er ist ein glühender Anhänger von Georgescu und dessen nationalem Mystizismus, der an die „Legion des Erzengels Michael“ erinnert. Diese in den 1930er Jahren entstandene faschistische Bewegung saß von 1940 bis 1944 in der Regierung von Marschall Antonescu, dem mit den Nazis verbündeten Conducător.
Cătălins Wut gilt dem „System“ in Gestalt der Sozialdemokratischen Partei (PSD) und der Nationalliberalen Partei (PNL), die bislang die Macht und entsprechende finanzielle Vorteile unter sich aufgeteilt haben. Beide Parteien haben die Einführung einer Steuerprogression verhindert und das Land durch eine auf 16 Prozent begrenzte Körperschaftssteuer (gegenüber dem europäischen Durchschnitt von 21 Prozent) in ein Steuerparadies für Unternehmen verwandelt. Die Korruptionsbekämpfung durch die Justiz wurde zurückgefahren, stattdessen setzte man auf einen populistischen „Krieg gegen Drogen“ und die Verfolgung von Kleinkriminellen.
Die etablierten Parteien stehen mittlerweile für Vetternwirtschaft, Konservativismus und ideologische Leere, kaschiert durch proeuropäische Lippenbekenntnisse. „Deregulierte Kapitalströme, ungleiche Entwicklung, Ausdehnung des Kapitals in Billiglohnzonen und gleichzeitiger Export vulnerabler Arbeitskräfte in Länder des entwickelten Kapitalismus“, so fasst die Soziologin Enikö Vincze die Situation zusammen.
Rückkehr des autochthonen Faschismus
Cătălin „verabscheut“ Brüssel und seine Bürokraten, wie er sagt. Er sieht, wie die Mieten steigen, und schiebt es auf den Zustrom von Ausländern. Alle gut Ausgebildeten seien in den Westen gegangen. Der letzten Volkszählung im Jahr 2021 zufolge zählt Rumänien nur noch 19 Millionen Einwohner, 4 Millionen weniger als 1992. Ministerpräsident Marcel Ciolacu bezeichnete die rumänische Diaspora mit 6,5 Millionen (vorwiegend in Moldau, Italien, Spanien und Deutschland) als die wichtigste Europas. Der Exodus zwang Rumänien, Arbeitskräfte vor allem aus Vietnam, Indien oder Nepal ins Land zu holen.
Dina Bumbac, 71, ist eine der Millionen Rumäninnen und Rumänen, die zum Arbeiten in den Westen gegangen sind. Zu Beginn der Pandemie kehrte sie aus Italien zurück, wo sie erst auf den Tomatenfeldern, dann als private Altenpflegerin gearbeitet hatte, während Mann und Sohn in Rumänien blieben. Die häusliche Pflege von Demenzkranken war „ein Gefängnisleben“, sagt sie, im Haus der Arbeitgeber ohne Vertrag und soziale Absicherung. Vom italienischen Staat erhält sie keine Rente, in Rumänien lediglich 200 Euro. „Die EU hat mir gar nichts gebracht“, sagt sie.
Die Arbeitsteilung in Europa beruht auf struktureller Ausbeutung billiger Arbeitskräfte. Durch Arbeitsmigration sind hunderttausende Familien zerrissen worden, zahllose Kinder ohne ihre Eltern aufgewachsen.2 „Der Traum von Europa weicht gerade der Ernüchterung“, analysiert der Soziologe Poenaru. Die rumänische Diaspora hat großes politisches Gewicht und stimmt mehrheitlich für „souveränistische“ Kandidaten.
Costi Rogozanu ist ein ehemaliger Journalist, der inzwischen in seiner Heimatregion Vrancea im Osten Rumäniens als Grundschullehrer arbeitet. „Heute muss eine Familie schon über Rücklagen verfügen, damit die Kinder eine Ausbildung bekommen. Sonst bleibt dir nichts anderes übrig, als dich hier, in Frankreich oder in Deutschland mit Scheißjobs über Wasser zu halten“, sagt er. „In Rumänien kennen die Leute kaum noch etwas anderes als informelle Arbeitsverhältnisse mit 200 Lei [40 Euro] pro Tag.“ Eine „Tagelöhnermentalität“ habe sich breitgemacht, die Konkurrenz der Arbeiter untereinander jegliche Solidarität zerstört. Das einzige staatliche Programm zur Armutsbekämpfung sei die Förderung von Selbstständigkeit. „Aber auch da ist ein Startkapital die Voraussetzung.“ Sowohl auf dem Land wie in Stadtrandgebieten gebe es „ghettoähnliche Gebiete, in denen man nur noch bei Polizei, Feuerwehr, Behörden oder im Drogenhandel und Prostitution Arbeit findet.“
Zweifellos hat Rumänien von seinem Beitritt zur EU 2007 finanziell und wirtschaftlich profitiert. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich inflationsbereinigt nahezu verdreifacht. Aber das Land hat es versäumt, einen auf Umverteilung der Gewinne gegründeten Wohlfahrtsstaat aufzubauen. Für Millionen Rumänen sei die EU zum Synonym für Verarmung geworden, meint Rogozanu. Die gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung habe Millionen Menschen zu Antieuropäern gemacht, die mit ihrer Stimme für Georgescu nichts anderes ausdrücken wollten als ihren eigenen Kummer.
Einen dritten Weg scheint es nicht zu geben. „Zwei Formen von Autoritarismus prallen hier aufeinander: der Autoritarismus à la Trump und ein neoliberaler Autoritarismus. Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht mehr für sein Überleben“, befindet Peonaru.
Die Zeit nach 1989 war von wirtschaftlichen Schocktherapien geprägt. Bei diesem „lupenreinen Kapitalismus“, analysiert der rumänische Linguist Nicolas Trifon, „mussten sich die neuen Herren keine Rücksichten mehr auferlegen, wie in den kommunistischen Regimen und bis heute in den sozial- und christdemokratischen Ländern“.
Jede linke Forderung wurde als Relikt einer vergangenen Epoche im Keim erstickt. Der antikommunistische Reflex bot außerdem die Möglichkeit, den autochthonen Faschismus zu rehabilitieren, namentlich die faschistischen „Legionäre des Erzengels Michael“, die bis 1989 im Gefängnis saßen und als „heilige Märtyrer der orthodoxen Kirche“ gefeiert wurden. Heute gedeiht die nationalpopulistische Bewegung in Rumänien wegen des Mangels an Alternativen. Und sie erntet die Früchte dessen, was seit 1990 gesät wurde.
2 Vgl. Keno Verseck, „Die Kinder der Erdbeerpflücker“, LMd, September 2008
Aus dem Französischen von Christian Hansen
Florentin Cassonnet ist Jounalist.