Demografischer Winter
von Philippe Descamps
Japan könnte nach offiziellen Hochrechnungen in den nächsten 25 Jahren rund 20 Millionen Einwohner verlieren.1 Nachdem ihre Zahl zwischen 2005 und 2015 die Höchstmarke von 128 Millionen erreicht hatte, waren es 2024 nur noch 124 Millionen. Bis 2050 könnte die Einwohnerzahl auf 105 Millionen und bis 2070 auf 87 Millionen sinken. Das entspräche dem Stand von 1952.
Bezogen auf die Fläche des Landes bleibt Japan dennoch eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt, die Bevölkerungsdichte ist dreimal so hoch wie in Frankreich und anderthalbmal so hoch wie in Deutschland. Am größten ist die Bevölkerungskonzentration in der Bucht von Tokio, einem der bevölkerungsreichsten und am stärksten industrialisierten Gebiete der Erde. Der Großraum Tokio hat 38 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 13 500 Quadratkilometern, das entspricht ungefähr dem Territorium Kretas mit einer Bevölkerung wie in ganz Polen.
Die negative Dynamik kommt nicht, wie in Mitteleuropa, durch Auswanderung zustande, sondern durch die rückläufige Geburtenrate. Von der Meiji-Restauration (1868) bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bemühte sich Japan um Geburtenförderung, die im Januar 1941 durch einen „Plan der demografischen Expansion“ noch verstärkt wurde.

Doch mit der Aufnahme von 6 Millionen japanischen Staatsbürger:innen aus Übersee in das vom Krieg erschöpfte Land vollzog Japan im Juli 1948 mit dem sogenannten Eugenik-Schutzgesetz eine radikale Kehrtwende.2
Schwangerschaftsverhütung wurde legalisiert, ebenso Abtreibung „aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen“. Das Gesetz, das „die Zunahme der Zahl minderwertiger Menschen“ verhindern sollte, erlaubte auch Zwangssterilisationen bei erblicher Missbildung oder psychischen Erkrankungen.
Die Geburtenrate lag 1947 bei 4,5 Kindern pro Frau, nahm dann rasch ab und stagnierte vom Ende der 1950er Jahre bis zum Anfang der 1970er Jahre in Höhe des sogenannten Bestandserhaltungsniveaus (2,1 Kind pro Frau). Dann sank sie wieder langsam und lag 2023 bei 1,21 Kindern pro Frau, eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt (1,38 in der EU).3
Seit 2005 übersteigt die Zahl der Todesfälle jedes Jahr die der Geburten. Dabei sind die Japaner:innen Weltmeister in der Lebenserwartung: 2023 wurden Frauen 87,1 Jahre alt (84,0 in der EU), die Männer 81,1 Jahre (78,7 in der EU).
Die Alterspyramide zeigt für Japan eindrücklich die demografische Entwicklung als Archetyp der „alternden“ Länder (siehe Grafik).
Aktuelle Prognosen lassen vermuten, dass die Pyramide 2050 völlig auf dem Kopf stehen wird. Die größte Altersgruppe werden die um die 80-Jährigen sein. Bereits heute ist die Hälfte der Bevölkerung über 50 Jahre alt. Die Pyramide macht auch den kurzen Babyboom der Nachkriegszeit und seine Folgen eine Generation später sichtbar.
Die Alterung der Gesellschaft ist auch deshalb so stark, weil der Absturz der Geburtenrate mit einer wachsenden Lebenserwartung einhergeht. 1985 waren nur 10 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre. 2023 waren es 29,1 Prozent, also mehr als 36 Millionen Menschen. Auch das ist weltweit einmalig.
Für 2050 sagen die Demografen voraus, dass kaum mehr als die Hälfte der Altersgruppe zwischen 15 und 65 angehören wird (52 Prozent). 38 Prozent werden älter und nur 10 Prozent jünger sein. Noch mehr als in anderen Industriestaaten werden also Menschen im arbeitsfähigen Alter fehlen, zumal sich das Land weiterhin gegen Zuwanderung wehrt.
Die absehbaren makroökonomischen Folgen des Bevölkerungsschwunds – wie Defizite im Staatshaushalt und Rückgang der Produktion – zwangen die Regierung zum Handeln. Ein im Januar 2023 angekündigter Plan sieht eine Erhöhung der Familienbeihilfen und eine Einmalzahlung für jede Geburt vor. Gemessen an den Ausbildungskosten in Japan ist diese Hilfe jedoch sehr bescheiden, sie liegt bei gerade mal 3300 Euro. Das Doppelte erhält eine Familie, die für mindestens fünf Jahre aufs Land zieht.
Die Maßnahmen sind allerdings nicht geeignet, das Problem bei den Wurzeln zu packen. Umfragen zeigen, dass es weiterhin Kinderwunsch gibt, aber der Anspruch der Frauen, dass Familienarbeit besser aufgeteilt werden muss, wird von den Männern nicht erfüllt. Zudem macht der Druck im sozialen und beruflichen Umfeld es schwer, Beruf und Familie zu vereinbaren.
Die Stadtverwaltung von Tokio startete deshalb im April 2024 ein neuartiges Experiment: Sie führte für ihre Angestellten die Vier-Tage-Woche ein, um ihnen mehr Zeit für die Familie zu geben.
Wie in vielen anderen Ländern steigt das Heiratsalter und Frauen bekommen immer später ihr erstes Kind. Bemerkenswert in Japan ist vor allem der geringe Anteil unehelicher Geburten. 2020 waren es nur 2,4 Prozent, im Durchschnitt der OECD-Länder 49,1 und in Chile, wo die meisten unehelichen Kinder zu Welt kommen, sogar 75 Prozent.4
Zwei Drittel der 2021 befragten Japanerinnen halten die Ehe für „die Voraussetzung, um Kinder zu haben“, aber nur rund 15 Prozent der Däninnen oder Französinnen.5 Eine andere Umfrage zeigt, dass nur 46 Prozent der Japaner:innen zwischen 15 und 45 Jahren die Absicht haben, irgendwann zu heiraten, 33 Prozent wollen das nicht.6 Noch erstaunlicher: Nur 27 Prozent der Befragten halten es „für realistisch“, dass sie wirklich heiraten, 39 Prozent erklären das Gegenteil.
Als Hauptgründe erklären diejenigen, die nicht vorhaben zu heiraten, „Ich möchte lieber ledig bleiben“, „Ich sehe keinen Vorteil darin“ und „Ich möchte mich auf mein eigenes Leben konzentrieren“. Wer gern heiraten würde und „nicht richtig daran glaubt“, meint in erster Linie, er oder sie hätte „keine Chance, jemanden zu treffen“, würde „sich nicht mit dem anderen Geschlecht vertragen“ oder hätte „keine finanzielle Sicherheit“.
2020 waren 17,8 Prozent der 50-jährigen Frauen und 28,3 Prozent der Männer noch nie verheiratet gewesen. Fast vier von zehn Haushalten bestehen nur aus einer Person. Dieser Anteil hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt und wächst weiter.
⇥Philippe Descamps
3 Alle Vergleichszahlen zur EU laut Eurostat.
6 „Survey Indicates Japanese Giving Up on Getting Married After 35“, nippon.com, 16. Dezember 2024.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz