Die Ukraine und die Rote Armee
Das Gedenken an Sieger und Opfer im Zweiten Weltkrieg ist kompliziert geworden
von Éric Aunoble und Yurii Latysh

Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine befand sich das größte Schlachtfeld im Zweiten Weltkrieg. Gleich zweimal zogen zwischen 1941 und 1945 Millionen Soldaten durch das Land. Zwischen 8 und 10 Millionen Menschen kamen hier ums Leben, mehr als 5 Millionen waren Zivilisten, darunter 1,5 Millionen Juden, ein Viertel der Opfer der Schoah.
Vor allem in dem Teil der Republik Polen, der im September 1939 von der Roten Armee besetzt und der Ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen worden war, kam es nach Deutschlands Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zu Kollaborationen mit den deutschen Besatzern.
Am 28. April 1943 gründete Otto Wächter, Gouverneur der Distrikte Krakau und Galizien, die 14. Grenadierdivision der Waffen-SS („Galizien“), in der sich am Ende 22 000 Ukrainer und sogenannte Volksdeutsche am Genozid der jüdischen Bevölkerung beteiligten. Dieser SS-Division schlossen sich vor allem Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an.

Allerdings hatte sich die radikal antisemitische OUN schon 1940 gespalten: Während die OUN-M unter Andrej Melnyk mit den Deutschen kollaborierte, rief die OUN-B unter Stepan Bandera am 30. Juni 1941 einen ukrainischen Staat aus.1 Kurz darauf wurde Bandera verhaftet. Er saß bis 1944 als „Ehrenhäftling“ im KZ Sachsenhausen. Im Juli 1942 gründeten seine Anhänger die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die ab 1943 „zur ethnischen Säuberung“ Wolhyniens zahlreiche Massaker an polnischen Zivilisten beging.
Die meisten Ukrainer kämpften jedoch in der Anti-Hitler-Koalition: 6 Millionen ab 1941 in der Roten Armee und 120 000 in der polnischen Heimatarmee, die seit dem 1. September 1939 im Untergrund gegen die Wehrmacht kämpfte. Außerdem gab es tausende Soldaten ukrainischer Herkunft in den Armeen der USA, Kanadas, Großbritanniens und sogar in der französischen Résistance.
Präsident Selenskyj, aber auch viele westliche Journalisten und Politiker ziehen heute oft Parallelen zwischen der heutigen Ukraine und der Tschechoslowakei, die 1938 teilweise von Nazideutschland annektiert wurde – was die europäischen Mächte in dem berüchtigten Münchner Abkommen damals akzeptierten. So erklärte Selenskyj bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2025, München sei ein schlechter Ort, um ein Abkommen mit Russland zu unterzeichnen, und verlangte mehr Waffen. Auch der Kreml beruft sich auf das Münchner Abkommen und behauptet, damals wie heute stehe der Westen kollektiv aufseiten der Gegner Russlands.
Alexander Wolgarew, Vizevertreter der Russischen Föderation bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), sagte in einer Rede am 26. September 2024 vor dem Ständigen OSZE-Rat in Wien, dass die Westmächte heute die „Nazi“-Ukraine unterstützten, wie sie einst mit dem Münchner Abkommen Hitler freie Hand in Osteuropa gelassen hätten. Dabei stehe laut Wolgarew die „militärische Spezialoperation“ in der Kontinuität des „Großen Vaterländischen Kriegs“, wie der Krieg gegen Hitlerdeutschland bis heute in Russland heißt.
Am 9. Mai 2022, zum Tag des Sieges, erklärte Putin in seiner Ansprache in Moskau den russischen Soldaten, dass sie „für dieselbe Sache wie ihre Väter und Großväter“ kämpften, nämlich für ihr Vaterland und die Zerschlagung des Nationalsozialismus. Im Februar 2025 errichteten die russischen Behörden im Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Kriegs in Moskau eine „Mauer der Erinnerung“ für die „Opfer der Nato“ bei der „militärischen Spezialoperation“.2
In der Ukraine wird häufig der Begriff „Raschismus“ verwendet, um die Ideologie des russischen Staats zu bezeichnen, ein Kofferwort aus Faschismus und „Russia“ auf Englisch. Laut der ukrainischen Historikerin Larissa Jakubowa kombiniere der „Raschismus“ Elemente des russischen Imperialismus, des sowjetischen Kommunismus und des deutschen Nationalsozialismus.3 Das russische Regime mache sich nicht nur durch die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine und schwere Kriegsverbrechen strafbar. Es entgleise auch in einen genozidalen Totalitarismus, der mit dem Stalinismus und dem Nationalsozialismus vergleichbar sei.
Nach der russischen Invasion im Februar 2022 hatte die Ukraine zunächst das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg beschworen, um den Patriotismus zu fördern. Am 9. Mai 2022 erklärte Selenskyj feierlich: „Unser Feind träumt davon, wir würden den 9. Mai und den Sieg über den Nationalsozialismus nicht würdigen“, aber „wir lassen nicht zu, dass dieser Sieg annektiert und vereinnahmt wird“. Der ukrainische Präsident verlieh zehn Orten, die besonders unter der russischen Armee gelitten hatten, den sowjetischen Ehrentitel „Heldenstadt“; darunter Butscha, wo russische Soldaten im Frühjahr 2022 Massaker an ukrainischen Zivilisten begangen hatten.
Doch seit einigen Jahren wird die Sowjetarmee, gegen die die UPA bis in die Mitte der 1950er Jahre einen Guerillakrieg führte, auch als Besatzungsarmee bezeichnet. Im Oktober 2014 etwa sagte der Journalist und Schriftsteller Andriy Kokotukha im ukrainischsprachigen Sender der BBC, dass in der Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg eine Besatzung die andere abgelöst habe. Askold Lozynskyj, US-amerikanischer Staatsbürger und ehemaliger Präsident des Weltkongresses der Ukrainer in der Diaspora, bezeichnet die Ukrainer in der Roten Armee sogar als „Stalins Kanonenfutter“. Die wahren Helden der Ukraine hätten laut Lozynskyj ohnehin in der UPA gedient.4 Im Januar 2025 verlieh ihm die angesehene Taras-Schewtschenko-Universität in Kyiw die Ehrendoktorwürde.
Und mit dem 2023 erlassenen Gesetz zur „Dekolonialisierung“ wurde der Namensschutz für Ortsbezeichnungen aufgehoben, die mit dem Kampf gegen die Nazibesatzung in der Ukraine in Verbindung stehen. Im Dezember 2024 wurden in Kyjiw im Park des Ewigen Ruhms die Büsten der Partisanenführer Sydir Kowpak und Oleksyi Fedorow, des jüngsten Generals der Roten Armee Iwan Danilowitsch Tschernjachowski und des zum Marschall beförderten Panzerfahrers Pawlo Rybalko entfernt. Die Denkmäler waren allerdings nicht zu Sowjetzeiten aufgestellt worden, sondern nach der Wende 1991 in der unabhängigen Ukraine.
Ende Januar 2024 verkündete die Regionalregierung von Lwiw, sie habe die Ehrengräber von 312 Sowjetsoldaten aufgelöst. Deren Gebeine wurden zwar im Beisein eines Priesters umgebettet, jedoch ohne zuvor die Angehörigen zu informieren. Viele Soldaten der Roten Armee hätten sich vermutlich kein religiöses Begräbnis gewünscht.
Zu den Toten, die nun offiziell nicht mehr geehrt werden sollen, gehört auch Antonina Wereschtschagina, eine junge Funkerin, die damals mit dem Fallschirm hinter den feindlichen Linien abgesprungen war, gefangen genommen und gefoltert wurde. Sie wurde 1944 im Alter von 21 Jahren in Sadjava (Region Iwano-Frankiwsk) erschossen. Heute wird Wereschtschagina von den örtlichen Behörden als „sowjetische Spionin“ bezeichnet, ebenso wie die Krankenpflegerinnen Nadjeschda Gusewa und Nadeschda Kliujewa in Kalusch und 93 andere Sowjetsoldaten in den Dörfern Schidnytsja und Podbuj (Region Lwiw).5
Oft sind „Aktivisten des Gedenkens“ an unerlaubten Zerstörungen oder Schändungen von Denkmälern beteiligt. Sie setzen die lokalen Behörden mit dem Argument unter Druck, sie würden die historische Wahrheit wiederherstellen. Einer von ihnen ist Vadym Pozdniakow. Der Sprecher des Projekts „Dekolonialisierung. Ukraine“, das 2017 gegründet wurde, leitete die örtliche nationalistische Jugendorganisation Sokil (Falke) und betätigte sich später in der rechtsextremen Partei Prawyj Sektor.
In Charkiw, der zweitgrößten ukrainischen Stadt, die täglich von russischen Raketen und Drohnen angegriffen wird, wurden im Februar 2025 ein Dutzend Gedenktafeln für Kämpfer des Zweiten Weltkriegs entfernt.
Die Gruppe Valknut – benannt nach dem dreieckigen Wotansknoten, einem bei Rechtsextremen beliebten heidnischen Symbol – bekannte sich zu den Taten, doch die Polizei reagierte nicht darauf. Es wird gemunkelt, dass Valknut zu einer Spezialeinheit der Militäraufklärung gehört.
Nach ihrer Aktion verbreitete Valknut auf Telegram Fotos von der kaputten Büste von Galina Nikitina. Die 25-jährige Lehrerin war 1942 von der Gestapo ermordet worden. Zerstört wurden auch die Gedenktafeln für Oberstleutnant Rafail Milner, Jude und Wahl-Charkiwer, der 1941 die Militärakademie verlassen hatte, um zu kämpfen, und des Piloten Anatolyi Nefedow, der aus Poltawa in der Zentralukraine stammte.
Manchmal widersetzen sich die Anwohner der Schleifung von Denkmälern. Witalyi Lewitsky, der Bürgermeister des Dorfs Smykiw (Region Lwiw), verweigerte etwa seine Zustimmung zum Abriss einer Statue und erklärte den Dekolonisierungsaktivisten: „Ihr seid gekommen, um das Gedenken an Menschen zu zerstören, das Gedenken an jene, die im Kampf gegen den Faschismus gestorben sind.“ Um die Zerstörung zu verhindern, kletterte er auf das Monument, auf dem auch der Name seines Großvaters eingraviert war.6 Vergeblich: Der Bürgermeister wurde seines Amts enthoben, das Denkmal ist verschwunden.
Während Moskau das Gedenken an den Kampf gegen den Nationalsozialismus vereinnahmt, tragen die Aktionen der ukrainischen „Dekolonisatoren“ noch dazu bei, dass Russland sich allein den Sieg über Hitlerdeutschland anheften kann und dass der Beitrag der Ukrainer in der Roten Armee ausgelöscht werden kann. Die nationalistische Position, die Antisemiten wie Stepan Bandera und die umstrittene UPA glorifiziert, übertönt inzwischen eine Wahrheit, die im Ausland sehr viel präsenter ist: dass die Ukraine an der Anti-Hitler-Koalition beteiligt war und zur „freien Welt“ gehört.
Man möchte Selenskyj vorschlagen, dass er zum 80. Gedenktag des Sieges am 8. Mai keine Demonstration der militärischen Stärke organisiert, wie sie in Moskau stattfinden wird, sondern ein Erinnern an alle Opfer des Nationalsozialismus und an all jene, die ihn bekämpft haben.
1 „Kollaboration mit den NS-Besatzern“, LMd, August 2007.
4 Newsletter, Ukrainian World Congress, Bd. 7, Nr. 2, Toronto 2006.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Éric Aunoble ist Historiker und Dozent an der Universität Genf, Yurii Latysh ist Historiker und Gastprofessor an der Staatlichen Universität Londrina (Brasilien).