Transatlantisches Zerwürfnis
In Trumps Welt ist Europa der Feind
von Serge Halimi

Einige Monate vor der Unterzeichnung des Bosnien-Friedensvertrags von Dayton am 21. November 1995 unterhielten sich CBS-Starmoderator Dan Rather und Bob Simon, der außenpolitische Korrespondent des Senders, über Washingtons Engagement in Jugoslawien. Sinngemäß fragte Rather, wieso man sich derart engagieren würde, wo es doch jahrelang geheißen habe, Bosnien als ein europäisches Problem müsse von den Europäern gelöst werden.
Simon antwortete: Das 20. Jahrhundert habe eben gelehrt, dass die Europäer nicht fähig seien, ihre Probleme selbst zu lösen. Deshalb hätten die USA in zwei Weltkriegen eingreifen müssen. Und jetzt wieder, zu Ende des Jahrhunderts, müssten sie den Europäern zu Hilfe eilen.
Wie steht es heute um Europas selbstständige Rolle als Problemlöser? Hört man den französischen Außenminister Barrot, überkommen einen Zweifel. Der erklärte allen Ernstes in einem nahezu komischen Anfall von Großspurigkeit, er werde einen Anruf seines Moskauer Amtskollegen nur entgegennehmen, wenn der ihm melde, „dass Russland echten Sicherheitsgarantien für die Ukraine oder sogar einem Nato-Beitritt des Landes zustimmt“.
Für Washington waren Macht, Geopolitik und strategische Führung nie die Domäne des Alten Kontinents, der lediglich als Handelsrivale und Urlaubsziel gesehen wurde. Die Hälfte des Westens, auf die es ankam, waren die USA. Auf dieser Ebene also im Westen nichts Neues.
Je mehr Europa an der Aufgabe scheitert, ein großes einendes Projekt zu formulieren, das mehr beinhaltet als freien Handel, und je länger es nur inhaltsleere Verlautbarungen produziert und sich abstrafen und zum Gehorsam zwingen lässt, umso stärker wird es als Nichtmacht wahrgenommen.
In Europa tun manche Politiker:innen angesichts der Anmaßungen Trumps überrascht und fordern panisch, man müsse in der Not zusammenrücken. Doch dessen diplomatische Verachtung und brutale Handelspolitik läuft den bisher üblichen transatlantischen Beziehungen gar nicht so sehr zuwider wie behauptet.
Vor 38 Jahren konstatierte die Politologin Marie-France Toinet: „Das Jahr 1986 endete mit einem regelrechten Kräftemessen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Ronald Reagan drohte, die Zölle auf Cognac, Weißwein, Gin, Oliven und Käse um 200 Prozent zu erhöhen, wenn die Gemeinschaft ihm keine Vorzugskonditionen für seine Mais- und Sojabohnenexporte auf die neuerdings dem EWG-Binnenmarkt zugehörige Iberische Halbinsel gewährt. Die EWG nahm einen offenen Verstoß gegen die Gemeinschaftspräferenz in Kauf und beugte sich im Januar 1987 den amerikanischen Forderungen.“1
Europa „beugt sich den amerikanischen Forderungen“ – das ist seit Langem die Grundmelodie der transatlantischen Beziehungen.
Dennoch ändert der Faktor Trump die Kräfteverhältnisse: Der kalte Dealmaker und Rächer hasst die liberalen Regierungen in Europa und Kanada fast so brennend wie die Demokratische Partei, die ihn angeblich juristisch und finanziell erledigen wollte. Diese Europäer haben sich an seinem Unglück ergötzt und auf seine Niederlage gehofft. Dafür sollen sie jetzt büßen.
Allerdings hat Trump die EU schon in seiner ersten Amtszeit als „Feind der Vereinigten Staaten“ gesehen (CBS, 15. Juli 2018). Das hat mindestens zwei Gründe: Erstens setzt Brüssel auf Freihandel – zum Missfallen Trumps, der tariff (Zoll) für „das schönste Wort im Wörterbuch“ hält (siehe den Artikel von Ulrike Herrmann auf Seite 11). Zweitens beanspruchten die Europäer den Schutz der Nato, für deren Kosten allein die USA aufkommen müssen.
Dieser Trump I forderte am 5. Juli 2018: „Wir werden uns die Reichtümer von den ausländischen Staaten zurückholen, die uns seit Jahren über den Tisch ziehen. Die USA waren das Sparschwein, das von allen geplündert wurde. Und ich sage Ihnen: Unsere Verbündeten waren vielfach schlimmer als unsere Feinde.“ Damals behauptete Trump, die USA würden 90 Prozent der Nato-Ausgaben übernehmen. Tatsächlich sind es 20 Prozent. Zudem schrumpft dieser Anteil seit zehn Jahren, wie es alle US-Präsidenten einschließlich Barack Obama und Joe Biden verlangt haben.
20 Prozent der laufenden Kosten tragen und 100 Prozent der Entscheidungen treffen – kein schlechter Deal. Doch es geht nicht nur ums Geld. Trumps Unilateralismus und seine America-First-Ideologie sind prinzipiell nicht mit Militärbündnissen und internationalen Abkommen vereinbar. Entsprechend neigt der US-Präsident dazu, solche Abkommen aufzukündigen. Erst recht, wenn nicht er, sondern – natürlich komplett unfähige – andere den Deal ausgehandelt haben.
Am 15. Januar lieferte der designierte Außenminister Marco Rubio den theoretischen Überbau zu diesem Kurswechsel: „Die Nachkriegsweltordnung ist nicht nur überholt, sondern hat sich zu einer Waffe entwickelt, die gegen uns eingesetzt wird. Wir stehen abermals vor der Aufgabe, aus dem Chaos eine freie Welt zu erschaffen. Das wird nur möglich sein mit einem starken und selbstbewussten Amerika, das seine eigenen Interessen wieder über alles andere stellt.“2 Das bekommen jetzt die EU, die Nato und die Ukraine zu spüren.

Trump kennt nur Schurken und Helden
In Trumps Welt ist das transatlantische Bündnis ein gegen Washington gerichtetes Erpressungssystem, von dem nur die europäischen Verbündeten profitieren. Was schert es ihn, dass diese Allianz auch ein imperiales Abhängigkeitsverhältnis darstellt – man denke nur an die Hegemonie des Dollar, den extraterritorialen Geltungsanspruch des US-Sanktionsregimes, die erpresserische Aneignung strategisch wichtiger Rohstoffe, die Industriespionage oder das Abhören europäischer Regierungschefs durch die NSA.
Einer der wichtigsten Trump-Berater im Weißen Haus, Stephen Miller, artikulierte am 2. März auf Fox News eine tief empfundene Verbitterung über Europa und die Ukraine, für deren Sache sich die Europäer voll engagieren. Miller tönte zwei Tage nach dem heftigen Disput zwischen seinem Boss und Wolodymyr Selenskyj, dass „Millionen amerikanischer Herzen höher schlugen“, weil sie voller Stolz erleben durften, „wie Präsident Trump Selenskyj in seine Schranken weist“. Dass der ukrainische Präsident „überhaupt ein Land hat und an der Macht ist“, sei allein der Tatsache zu verdanken, „dass die Amerikaner wirtschaftliche Opfer bringen, um seinen Krieg zu finanzieren“. Und weiter: Wenn Selenskyi behaupte, Europa leiste viel mehr als wir, „wofür braucht er uns dann? Wenn er Europa so großartig findet – warum kommt er dann zu uns und bettelt um Geld, Schutz und Garantien?“
Bei dem live übertragenen Disput im Weißen Haus hatte Vizepräsident JD Vance dem ukrainischen Gast vorgeworfen, dieser habe mit einem öffentlichen Auftritt in Pennsylvania einen Monat vor der US-Präsidentschaftswahl die gegnerische Seite unterstützt. Dieser Vorwurf macht deutlich, wie wütend entschlossen das Trump-Lager ist, die Feinde im eigenen Land und deren tatsächliche oder vermeintliche Unterstützer im Ausland abzustrafen.
Damit sind wir bei der parteipolitischen Dimension der transatlantischen Beziehungen. Tatsächlich wirkt der Bruch, den Trump in kürzester Zeit vollzogen hat, um so brutaler, als sich während der Amtszeit des Demokraten Joe Biden die USA und die EU in dem Willen einig waren, autoritäre Regime (China, Russland, Iran) zu bekämpfen. Und im Innern die liberale Demokratie gegen Populisten und Verschwörungstheoretiker zu verteidigen – also gegen Leute wie Trump oder Orbán. Bei diesem großen Unternehmen marschierten das demokratische Europa und die Demokratische Partei der USA in völligem Gleichschritt.
Im Juni 2021 gestand der deutsche Außenminister Heiko Maas bei einer Diskussion in Gegenwart seines Amtskollegen Antony Blinken: „Seit wir nach Tonys Amtsantritt zum ersten Mal miteinander telefoniert haben, musste ich mich erst mal daran gewöhnen, dass ich mit dem amerikanischen Außenminister sprechen kann und immer der gleichen Meinung bin.“3 Nach Russlands Angriff auf die Ukraine wurde das innige Verhältnis noch inniger. Ein Schurke, ein Held – fehlte nur noch ein Sieg im Krieg.
Doch dann folgte das große Entsetzen. Am 14. Januar 2025 kanzelte Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Europäer ab. Die EU sei unfähig, die wahren Gefahren zu erkennen: „Die Bedrohung ist nicht Russland und auch nicht China.“ Dann beschwor er eine eigentümliche Art von innerer Bedrohung, etwa Restriktionen gegen militante Abtreibungsgegner und die extreme Rechte, die er als „Verlust an Freiheit“ beklagte.
Die Münchener Organisatoren waren alarmiert: Washington gestattet seinen zu Feinden gewordenen Verbündeten nicht mehr, Regeln über den Handel oder den Wettbewerb oder über „Hassreden“ aufzustellen. Das Vorrecht gebührt nur den USA, und die handeln nach dem Motto „America First“. Für dieses Amerika hat der Stellvertreterkrieg gegen Russland – anders als für die Demokraten und die Mainstreammedien – keine Priorität mehr.
Moskau hat schnell begriffen, wie die Verachtung der neuen US-Regierung für die neoliberale Globalisierung, für eine liberale Rechtsordnung und eine liberale Gesellschaft zum eigenen Vorteil nutzbar ist. Neuerdings ist eine Annäherung zwischen Russland und Trumps USA vorstellbar, die durchaus ein realistisches Fundament hat: außenpolitisch die Respektierung der Großmachtinteressen, innenpolitisch ein reaktionäres Wertesystem, basierend auf der traditionellen Familie und konventionellen sexuellen Identitäten und einer idealisierten Sicht der Nationalgeschichte.
Am 12. März machte der russische Außenminister Sergei Lawrow im Gespräch mit drei US-Bloggern aus dem Dunstkreis Trumps die Gender-Identität zum großen Thema. Er betonte den Riss, der durch die USA gehe, seit sich die Führung der Demokraten von den christlichen Werten abgewendet und die LGBTQ-Agenda forciert habe: „Dass so fanatisch auf diese Werte gepocht wurde, hat sicher einen Teil der Bevölkerung dazu bewogen, Donald Trump zu unterstützen.“
Lawrow sieht in der Niederlage der „progressistischen“ Demokraten eine „Rückkehr zur Normalität, wie wir sie als orthodoxe Christen verstehen“. Allerdings muss er jetzt den von ihm umworbenen Antiimperialisten in Afrika und Lateinamerika erklären, wie man den „Globalen Westen“ weiterhin geißeln und sich zugleich an dessen mächtigste Hälfte annähern kann.
Die andere Hälfte – Europa – wirkt isoliert und wird diese Isolation auch durch respektvolle Beziehungen zum Globalen Süden und nach China kaum überwinden können. Solange der protektionistische Furor Trumps nicht durch einen Börsencrash gebremst wird, bleibt Europa nur die Hoffnung, dass die Demokraten schnell wieder an die Macht kommen.
Vorerst jedoch hadert die EU mit dem neuen US-Präsidenten und dem ehemaligen Verbündeten USA, wird aber dennoch bemüht bleiben, beide dadurch zu besänftigen, dass sie ihnen noch mehr Waffen und Erdgas abkauft. Erneut hören wir die Sprüche über ein „mächtiges Europa“, das sich freilich nie gegen den Dollar, die Nato oder die hegemoniale Stellung der US-Konzerne stellen wird. Und das die strategische Allianz mit Washington niemals anzweifeln wird: weder im Nahen Osten noch in Lateinamerika und auch nicht im Südchinesischen Meer.
Nach dem Irakkrieg, bei dem sechs EU-Staaten – und die Ukraine – in einer „Koalition der Willigen“ mitkämpften, ließ sich Frankreich von den USA bereitwillig für seine Nichtteilnahme „bestrafen“, obwohl es historisch recht behalten hat.4 Man darf schon jetzt darauf wetten, dass nicht einmal das Desaster des Ukrainekriegs Europa dazu bringen wird, ein dauerhaftes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
2 Am 15. Januar 2025 vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats.
4 Siehe „Bush, Chirac und die Irak-Lüge“, LMd, Mai 2023.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Serge Halimi ist Berater des Direktoriums von LMd, Paris.