10.04.2025

Wahlen in der Ukraine?

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Wahlen in der Ukraine?

von Sébastien Gobert

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Laut Oleksiy Kowjun, einem der bekanntesten ukrainischen Politikberater, gibt es „seit 2022 in der Ukraine keine Politiker mehr, und auch keine Wähler. Es gibt nur noch Bürger, die ihre Pflicht gegenüber dem Vaterland erfüllen oder nicht.“ Vor dem Krieg hat Kowjun Dutzende Kandidaten bei ihren Wahlkampagnen unterstützt.

In normalen Zeiten hätte er jetzt gut zu tun: Die Amtszeit von Wolodymyr Selenskyj hätte im Mai 2024 geendet, die der Abgeordneten der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, im Juli. Und diesen Herbst stünden Kommunal-, Bezirks- und Regionalwahlen an. Doch wegen des Kriegsrechts, das seit der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 gilt, wurden alle Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben.

Kowjun hält es für unangebracht, gegenwärtig über die Durchführung von Wahlen zu diskutieren: „Das würde die Einheit des Landes zerstören und den Widerstand gegen die russische Invasion schwächen.“ Diese Meinung teilen laut einer aktuellen Umfrage 62 Prozent der Ukrai­ne­r:in­nen in den von Kyjiw kontrollierten Terri­to­rien und im Ausland. 19 Prozent könnten sich Wahlen für den Fall eines Waffenstillstands vorstellen, 14 Prozent finden, es sollte „so bald wie möglich“ gewählt werden.1

Trotzdem ist das Thema Wahlen in aller Munde. In Washington wie in Moskau stellt man Selenskyjs Legitimität offen infrage und behauptet, ihm fehle das Mandat, ein Friedensabkommen zu schließen. In der Ukraine genießt der Staatschef hingegen breite Unterstützung. Nach der Demütigung durch Donald Trump am 28. Februar vor laufenden Kameras ist sie noch gestiegen.

Auch die wichtigsten Oppositionsparteien lehnen Wahlen unter dem Kriegsrecht ab. Und trotzdem bereiten sie sich seit Monaten aktiv darauf vor. Davon zeugen die häufigen Meinungsumfragen, mehr Posts in sozialen Netzen oder die diskrete Rekrutierung von Wahl­hel­fe­r:in­nen. Parallel zu ihren gewaltigen Kriegsanstrengungen macht sich die Ukraine also bereit, ihr politisches Leben wieder aufzunehmen, das bis 2022 ebenso dynamisch wie unvorhersehbar war.

Am 9. Mai muss das Parlament wieder darüber entscheiden, ob das Kriegsrechts verlängert wird, wie regelmäßig alle 90 Tage seit 2022. Die damit einhergehende Beschränkung individueller und bürgerlicher Freiheiten wurde von zahlreichen Juristen für rechtens erklärt und wird von einer breiten Mehrheit getragen. Auch weil eine Wahl mit Sicherheits- und Logistikproblemen verbunden wäre.

„Wer sofortige Wahlen fordert, begreift nicht, wie gefährlich die ständigen Bombardements sind oder was es bedeutet, dass viele Gebiete vermint sind“, erklärt der Politologe Dimitri Vasylev. Warteschlangen vor den Wahllokalen würde Wäh­le­r:in­nen und Wahlhelfer in Gefahr bringen. Unter diesen Umständen könnten online abgehaltene Wahlen eine Alternative darstellen.

Durch den Krieg zerstreute Wählerschaft

Befürworter dieser Option wurden allerdings durch eine Reihe von Cyberattacken zum Schweigen gebracht, etwa gegen den Mobilfunkanbieter Kyivstar mit 24 Millionen Abonnenten, dessen Dienste im Dezember 2023 für zwei Tage lahmgelegt wurden, oder gegen das Melderegister im Jahr darauf.

Der Krieg hat die Wählerschaft zudem weit verstreut. Rund 7 Millionen Ukrai­ne­r:in­nen sind ins Ausland geflohen, die meisten in europäische Länder.2 Es gibt fast 4 Millionen Binnenvertriebene, was die Erstellung von Wählerverzeichnissen erschwert.

Zwischen 2014 und 2022 blieben in der Werchowna Rada 26 der 450 Sitze unbesetzt, um den Verlust der Wahlkreise auf der Krim und im Donbass zu symbolisieren. So könnte man auch mit den Gebieten verfahren, die seit 2022 von Russland besetzt wurden. Doch bliebe eine zentrale Frage: Wie können die in diesen Gebieten oder in Russland lebende Ukrai­ne­r:in­nen am demokratischen Prozess teilnehmen?

Auf der 2014 von Russland annektierten Krim und in den seit 2022 besetzten Gebieten leben Millionen Menschen, die eigentlich Wahlrecht in der Ukraine genießen. Würde man sie auffordern, ihre Stimme abzugeben, würde man sie russischen Repressionen aussetzen. Seit dem 1. Februar 2025 gelten alle, die sich weigern, einen russischen Pass anzunehmen, als Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung, die eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen. Wenn die Ukraine diese Bürger allerdings vom Wahlprozess ausschließt, käme das einer offiziellen Anerkennung der Annexionen gleich.

Auch die Teilnahme der mehr als 1 Million Sol­da­t:in­nen muss geregelt werden. Man könnte etwa Wahllokale nahe der Front einrichten oder mobile Wahlurnen einsetzen, aber das würde die Kosten in die Höhe treiben. Die Ukraine wird Mühe haben, diese Hindernisse innerhalb weniger Wochen zu überwinden, selbst wenn ein dauerhafter Waffenstillstand in Kraft treten sollte.

Politikberater Kowjun sorgt sich zudem, dass „die Propaganda- und Desinformationsmaschinerie der Russen – und seit der jüngsten ideologischen Wende auch die der Amerikaner – jede Gelegenheit nutzen würde, die Legitimität unserer Wahlen in Zweifel zu ziehen, sollte ihnen das Ergebnis nicht gefallen.“ Nach drei Jahren Krieg ist die Wahrscheinlichkeit für ein Ergebnis, das dem Kreml – und dem Weißen Haus – nicht gefallen würde, ziemlich groß. Die traumatisierte ukrainische Bevölkerung dürfte heute weit weniger empfänglich sein für Argumente zugunsten einer Versöhnung mit Russland als früher.

Nach der oben genannten Ipsos-Umfrage – deren Ergebnisse man mit Vorsicht betrachten sollte, weil keine Frontsoldaten befragt werden konnten – lehnen 46 Prozent der Befragten alle territorialen Zugeständnisse an Russland ab. Für 11 Prozent kommt ein solcher Schritt nur in Bezug auf die Krim infrage. 59 Prozent halten einen militärischen Sieg weiterhin für möglich, und 70 Prozent sind gegen die Einberufung von 18- bis 25-Jährigen.

Gegenwärtig liegen Selenskyis Zustimmungswerte bei 72 Prozent und er hätte gute Chancen auf eine Wiederwahl – vorausgesetzt er will kandidieren und seine Popularität wird nicht durch neue militärische oder diplomatische Rückschläge geschädigt. Und seine Chancen hängen natürlich auch von einem noch unklaren Feld von Mit­be­wer­be­r:in­nen ab.

Konkurrenz für Selenskyi

Bei einigen Oppostionspo­li­ti­ke­r:in­nen gilt die Kandidatur bereits als sicher, etwa bei Julia Timoschenko (Allukrainische Vereinigung Vaterland), dem Gesicht der „orangen Revolution“ von 2004, und beim früheren Staatspräsidenten Petro Poroschenko (Europäische Solidarität). Gerechnet wird auch mit der Kandidatur von Jurij Bojko. Unter dem Namen Plattform für Leben und Frieden führt er die Parlamentsfraktion derjenigen Kräfte, die traditionell für gute Beziehungen zu Russland eintreten und die sich im April 2022 nach der Flucht oder dem Ausschluss ihrer russlandfreundlichsten Mitglieder neu formiert haben. Anders als die elf politischen Parteien, aus denen die Plattform hervorging und die im März 2022 verboten wurden, besteht die Fraktion im Parlament fort.

Die große Unbekannte bei den Wahlen ist die Armee, die zweifellos die politische Zukunft der Ukraine beeinflussen wird. Walerij Saluschnyj, der beliebte frühere Oberkommandierende der Streitkräfte und seit März 2024 Botschafter in Großbritannien, dürfte den „lauten Forderungen aus dem Volk“ nachgeben und in die Politik einsteigen, erwartet der Politologe Vasylev. Unklar bleibt allerdings, ob er bei Präsidentschaftswahlen gegen Selenskyi antreten oder lediglich ein Abgeordnetenmandat anstreben würde.

Kein Kandidat wird ein anderes di­plo­ma­tisches Vorgehen vorschlagen, als das des gegenwärtigen Präsidenten. Alle sind sich darüber einig, weiterhin bei den USA um Unterstützung zu werben um die transatlantische Solidarität zu sichern, und zugleich territoriale Zugeständnisse ebenso abzulehnen wie eine Friedenslösung ohne westliche Sicherheitsgarantien.

Seit 2022 beschränkt die Opposi­tion ihre Kritik auf die Art und Weise der Mobilisierung, die Rotationsregeln für Frontsoldaten, den Kampf gegen die Korruption, die Wirtschaftsreformen und in jüngster Zeit die Aushandlung des US–ukrainischen „Deals“ über die Ausbeutung der ukrainischen Bodenschätze. Diese Meinungsverschiedenheiten könnten demnächst wieder in den Vordergrund rücken.

Das zeigt der Fall Poroschenko: Mitte Februar verhängte Selenskyj Sanktionen gegen seinen Amtsvorgänger, gegen den seit seiner Wahlniederlage 2019 diverse Gerichtsverfahren liefen. Das bedeutet zwar nicht, dass Poroschenko nicht zur Wahl antreten darf, untersagt ihm jedoch den Zugriff auf sein Vermögen und lähmt die wirtschaftliche Tätigkeit seiner Unternehmen. Dieses Vorgehen deutet darauf hin, dass sich die Exekutive auf Wahlen vorbereitet und die Justiz erneut ins­tru­men­ta­li­siert, um gegen politische Gegner vorzugehen.

Poroschenko reagierte darauf, indem er in einem Interview mit der Bild-Zeitung vom 18. März Selenskyj beschuldigte, dieser würde „Freiheit und Demokratie angreifen“ und das Land „in Richtung Diktatur“ bewegen. Er schmeichelt Trump und fordert einen militärischen Strategiewechsel, um die Zahl der Opfer zu minimieren. Die öffentliche Kritik Poroschenkos an seinem Rivalen ist ebenfalls ein Zeichen dafür, dass der Wahlkampf bereits eröffnet ist.

1 „Survey of Ukranian Citizens“, Ipsos, 13. März 2025.

2 „Ukraine Emergency“, USA for UNHCR, Februar 2025.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Sébastien Gobert ist Journalist.

Das demografische Problem

von Sébastien Gobert

Zwischen der Unabhängigkeit 1991 und der russischen Invasion 2022 war die Einwohnerzahl der Ukraine bereits um mehr als 10 Millionen zurückgegangen. Der Krieg hat die Entvölkerung des Landes weiter beschleunigt.

1992/93 erreichte die Bevölkerungszahl mit 52 Millionen einen Höchststand. In den folgenden Jahren ging die Geburtenrate jedoch stark zurück und lag 2019 bei nur noch 1,14 Kindern pro Frau. Die Ukraine hat europaweit eine der geringsten Lebenserwartungen bei Geburt (68,4 Jahre bei den Männern; 78,3 bei den Frauen; Stand 2019). Hinzu kam eine starke Emi­gra­tion. Anfang 2022 hatte die Ukraine nur noch 41 Millionen Einwohner:innen, die 2 Millionen auf der annektierten Krim nicht mitgezählt. Laut UN ist die Einwohnerzahl seither um weitere 10 Millionen geschrumpft.

Noch kann man damit rechnen, dass ein Teil der 6,7 Millionen ins Ausland Geflüchteten nach dem Kriegsende zurückkehrt. Aber wegen der vielen Kriegstoten und der Bevölkerungsbewegungen wird es neue geburtenschwache Jahrgänge geben. Solche Überlegungen spielen sicher auch eine Rolle bei der Entscheidung, Männer unter 25 nicht an die Front zu schicken.

Meist wird der Verlust der östlichen Gebiete an der Fläche gemessen, noch schwerer wiegt er aber im Hinblick auf Bodenschätze und Menschen. Vor Februar 2022 lebten 11 Millionen Menschen in den Oblasten Cherson, Saporischschja, Donezk, Luhansk, Sewastopol und Krim. Die drei Letzteren sind gegenwärtig vollständig unter russischer Kontrolle, die anderen drei teilweise. In dem von Kyjiw kontrollierten Gebiet leben wohl höchstens noch 30 Millionen Menschen.

⇥Philippe Descamps

Le Monde diplomatique vom 10.04.2025, von Sébastien Gobert