Marx und Mao in Thabang
Eine Reise durch Nepal zwanzig Jahre nach dem Maoisten-Aufstand
von Pierre Daum

Mit dem Motorrad braucht man zwei Tage für die 400 Kilometer von Kathmandu ins Dorf Thabang im Westen des Landes. Mit dem Bus drei – wenn alles gut geht. Die Straßen sind eine Katastrophe. Am Mahendra Highway, der nach einem einstigen nepalesischen König benannt ist und als Hauptverkehrsachse des Landes gilt, finden gewaltige, offenbar nie endende Ausbauarbeiten statt. Der Verkehr kriecht mit 20 Stundenkilometern dahin, man wird ordentlich durchgerüttelt, die Luft ist voller Staub.
Aber das Schlimmste kommt noch: Verlässt man die Hauptroute Richtung Himalaja-Ausläufer, endet die asphaltierte Straße, und es geht weiter auf einer von Baggern in die Landschaft gefrästen Schotterpiste. Zur Monsunzeit, von Juni bis Anfang September, begraben regelmäßig Sturzbäche aus Schlamm und Steinen die schlecht befestigten Straßen.
Dann rücken erneut die Bagger an, um die Pisten wieder instand zu setzen – sehr zum Ärger der Trekkingtouristen, die aus der ganzen Welt nach Nepal reisen. „Für mich ist es mit der Annapurna-Tour vorbei“, schimpft ein Webdesigner aus Kalifornien. „Vor zehn Jahren lebten die Menschen hier noch abgeschieden von der Welt in ihren Bergdörfern. Das war wirklich authentisch. Jetzt wirst du ständig von Jeeps überholt, die dir Tonnen von Staub ins Gesicht schleudern.“
2023 besuchten über 1 Million Touristen Nepal, 53 Prozent davon kamen aus Asien (vor allem aus Indien, China und Korea). Damit erreichte der Tourismus wieder das Niveau aus der Zeit vor der Coronapandemie. 14 Prozent der Nepalreisenden kamen zum Bergsteigen ins Land, 500 von ihnen versuchten, den hoffnungslos überlaufenen Gipfel des Mount Everest zu erklimmen. Die Unannehmlichkeiten der Trekker – oder die Pseudoheldentaten des jungen französischen Youtubers Inoxtag, der über seine Tour zum Dach der Welt einen Film gedreht hat1 – haben jedoch herzlich wenig zu tun mit den Sorgen der nepalesischen Bevölkerung.
„Die Eröffnung der Straße hat unser Leben völlig verändert“, schwärmt Laxmi Pun Magar aus Thabang. Alle, die wir hier im Himalaja-Vorgebirge treffen, wo 45 Prozent der Landesbevölkerung leben, teilen diese Begeisterung.„Früher mussten wir drei Tage zu Fuß gehen, um in die Stadt zu kommen. Viele Frauen starben bei der Geburt, weil sie nicht ins Krankenhaus konnten. Und wir hatten keinen Strom.“
Bei der Ankunft ist Thabang schon von Weitem zu sehen. Das Dorf war eine Hochburg des nepalesischen Maoisten-Aufstands (1996–2006). Alte Steinhäuser mit blau angemalten Dächern schmiegen sich an die Bergflanke. Um das Dorf herum sind terrassenförmig Parzellen angelegt: Alle Familie bauen Weizen, Gerste und Hirse an. Hier und da sieht man Frauen oder junge Mädchen mit schweren Kiepen auf dem Rücken beim Schleppen von Holz, Reissäcken, Zement oder Steinen.
Die Reisfelder liegen weiter unten, am Ufer des Flusses, der von den eisigen Wassern des Himalajas gespeist wird. Der Fluss kann schnell zur Gefahr werden. Nepal ist eines der Länder, die am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind: Die Gletscher schmelzen immer schneller, und Moränen, die Gletscherseen zurückhalten, drohen zu brechen.
Am Ortseingang empfängt uns ein Wandgemälde mit den Porträts von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Wir schlendern durch die Gassen des Dorfs. An die Häuserwände gemalte Sätze wecken unsere Neugier. „Ein langes Leben für die immerwährende Revolution des Volkes“, übersetzt uns Uday Gharti Magar, Lehrer an der hiesigen Oberschule. Daneben steht: „Unsere tapferen Märtyrer – sie mögen sich eines ewigen Lebens erfreuen!“
Im Zentrum des Dorfs spielen Dutzende junge Männer und Frauen Badminton. Keine Spur findet sich von den dramatischen Ereignissen, die sich hier abspielten und noch immer die Gemüter bewegen. Am 12. April 2002 marschierte die Königlich-Nepalesische Armee in Thabang ein, brannte ein Dutzend Häuser nieder und tötete deren Bewohner:innen. „Wie viele hier im Dorf komme ich aus einer maoistischen Familie“, erklärt uns Uday. „Mein Vater, mein Bruder, meine Schwester, alle haben bei der Rebellion mitgemacht.“

Badminton auf der Dorfstraße
Als die Kommunistische Partei Nepals (maoistisch) (KPN-M) 1996 die Revolution ausrief, gehörten die Menschen in der Gegend um Thabang zu den ersten, die sich dem Aufstand anschlossen. Ziel der Revolutionäre war es, die Monarchie zu stürzen, die Demokratie einzuführen, die Diskriminierung der Dalit (siehe den nebenstehenden Kasten) und der indigenen Volksgruppen zu beenden sowie die Armut zu bekämpfen.
Der Aufstand wurde von den Streitkräften des Königs brutal niedergeschlagen. Unterstützt wurden sie dabei von den beiden damals zugelassenen politischen Parteien: der Nepalesischen Kongresspartei (NC) und der Kommunistischen Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten, KPN-UML); Letztere hatte seit Langem jeden Gedanken an einen Sturz der Monarchie aufgegeben.
Der Aufstand erfasste nach und nach das ganze Land und entwickelte sich zu einem Bürgerkrieg. In den Dörfern war es nicht möglich, neutral zu bleiben. Man war entweder Maoist, NC oder UML. Der zehnjährige Konflikt forderte nach Angaben der Schweizer NGO Trial International mehr als 17 000 Tote, 1300 Menschen werden bis heute vermisst. Laut Trial waren 80 Prozent der Opfer Zivilisten.
2006 wurde ein Friedensabkommen unterzeichnet, zwei Jahre später die Monarchie abgeschafft und eine verfassunggebende Versammlung gewählt.2 Die Maoisten erhielten 29 Prozent der Stimmen und 220 der 575 Sitze. Bei den verarmten Massen weckte das große Hoffnungen, sogar bei Familien, die dem NC oder den UML nahestanden.
„Die Erwartungen waren gewaltig“, erinnert sich Deepak Thapa, Leiter des einflussreichen Forschungszentrums Social Science Baha in Kathmandu. Viele hätten erwartet, die Maoisten würden ein neues Nepal errichten. „Aber uns wurde schnell klar, dass die Maoisten sich genauso verhielten wie die anderen, dass sie nur nach Macht und Geld trachteten – und zu allem bereit waren, um ihre Gier zu befriedigen.“
In Nepal liegt die Exekutivgewalt beim Premierminister; die KPN-M war immer nur kurz an der Macht: Nach der Wahl 2008 waren es keine 300 Tage, zwischen 2011 und 2013 gut anderthalb Jahre, ab Sommer 2016 noch mal gut 300 Tage und schließlich ab 2022 etwas mehr als 18 Monate. Aber der Bruch mit der Bevölkerung hatte begonnen: Alle Leute, mit denen wir sprachen, erwähnten unabhängig von ihrer politischen Einstellung die Veruntreuung von Geldern und den Nepotismus seitens der großen Anführer der „Revolution“.
Der jüngste Skandal betraf den ehemaligen Außenminister (2017) und Präsidenten des Repräsentantenhauses (2018/19), Krishna Bahadur Mahara, der wegen illegalen Goldhandels verhaftet wurde. Darin verwickelt waren auch die Kinder des ehemaligen Vizepräsidenten der Republik, Namda Bahadur Pun, der während des Bürgerkriegs die maoistischen Truppen als Oberbefehlshaber angeführt hatte.
Der mehrmalige Premier Pushpa Kamal Dahal, der vor allem unter seinem Kampfnamen „Prachanda“ bekannt ist, wird verdächtigt, der großen nepalesischen Telekommunikationsgesellschaft Ncell dabei geholfen zu haben, Steuern zu vermeiden.3 Er soll zudem im Zusammenhang mit dem geplanten Bau eines Wasserkraftwerks chinesische Bestechungsgelder angenommen haben.4 Sein Bruder Narayan Prasad Dahal ist Präsident der Nationalversammlung und seine Tochter Renu Dahal Bürgermeisterin der Großstadt Bharatpur.
„Als die Maoisten an die Macht kamen, trugen sie Sandalen, jetzt sind sie Multimillionäre mit großen Autos und Luxusvillen“, sagt Padmini Pradhananga, Vorsitzende des nepalesischen Ablegers von Transparency International. Lada Strelkova, die für Nepal zuständige Regionaldirektorin der Weltbank, betont jedoch, es gebe keine eindeutigen Beweise dafür, dass Nepal „stärker unter Korruption leide als andere Länder“.
Pradhananga bestreitet das. Für sie ist klar, dass es „an der Korruption liegt, wenn die großen, von internationalen Geldgebern unterstützten Infrastrukturprojekte wie Straßen oder Wasserkraftwerke nie fertiggestellt werden“. Denn bei jeder Verzögerung und jeder Kostensteigerung könne „der nächste Minister seinen Umschlag entgegennehmen“.
Zurück in Thabang. Nachdem wir den „Garten der Märtyrer“ besucht haben, in dem 34 Shuhada (das arabische Wort für Märtyrer wird auch auf Nepali verwendet) begraben sind, bleibt Uday Gharti Magar vor einem weißen Rohbau stehen. „Das wird unser Krankenhaus. Die Gesundheitsversorgung ist für Bergdörfer wie unseres ein sehr wichtiges Themen. Sie zu verbessern war auch eines der großen Versprechen unserer politischen Anführer während des Bürgerkriegs.“
Das Krankenhausprojekt habe der vorige Bürgermeister, ein Mitglied der maoistischen Partei, angestoßen, erzählt Uday. „Er hat seine eigene Baufirma – die allerdings auf den Namen seiner Frau eingetragen ist – mit der Durchführung beauftragt. Die veranschlagte Summe lag dann weit über den realen Kosten.“
Udays Freund Ajay stößt zu uns. Sein Vater war einer der ruhmreichen Märtyrer von Thabang. Ajay verlor im Kampf seinen rechten Arm und trägt seitdem eine Holzprothese: „Demnächst werden wieder einige hohe Angestellte im Ministerium abkassieren, wenn die Bestellung des medizinischen Geräts für das Krankenhauses ansteht.“ Mit heiserer Stimme fügt er hinzu: „Die Revolution hat mir meinen Vater genommen und sie hat mich einen Arm gekostet. Ich hege heute keinen Hass mehr auf die königstreuen Soldaten, die auf uns geschossen haben. Aber sehr wohl auf unsere damaligen politischen Führer, die uns aus reiner Habgier verraten haben.“
Nicht weniger korrupt ist auch das Führungspersonal der beiden anderen großen politischen Parteien, NC und KPN-UML, die sich seit fast 20 Jahren mit den Maoisten beim Regieren abwechseln. Das verbittert viele Nepalesinnen und Nepalesen, deren Lage nach wie vor desolat ist – auch wenn es in den letzten zwei Jahrzehnten einige Verbesserungen gab.
Die neuen Straßen haben den Zugang zu den Konsumgütern des Weltmarkts eröffnet. Aber dadurch sind auch neue, immer kostspieligere Bedürfnisse entstanden. Ein Mobiltelefon etwa besitzt mittlerweile praktisch jeder Nepalese und jede Nepalesin, auch in den entlegensten Dörfern. Laut der Regierung leben 20 Prozent der Bevölkerung unterhalb der staatlich definierten Armutsgrenze. Sie verfügen also nicht einmal über die 200 Rupien pro Tag und Person (1,35 Euro, 41 Euro im Monat), die für eine Existenz in Würde nötig sind.5
In Nepal bezieht ein Lehrer der Sekundarstufe ein Monatsgehalt von rund 25 000 Rupien (169 Euro), ebenso wie ein diplomierter Beamter. Aber solche Einkommen sind selten. Die meisten Nepalesen verdingen sich tageweise als Feld- oder Bauarbeiter oder als Hilfskraft in einem Hotel oder Restaurant und verdienen um die 700 Rupien (4,74 Euro) pro Tag. Weil es sich um extrem prekäre Beschäftigungsverhältnisse handelt, lässt sich diese Summe allerdings schlecht in ein Monatsgehalt umrechnen.
60 Prozent der Bevölkerung sind Bauern, aber in der Trekkingsaison arbeiten viele von ihnen als Träger für die Wanderer und schleppen für einen Tageslohn von 2000 Rupien (13,55 Euro) acht bis zehn Stunden täglich etwa 40 Kilogramm auf dem Rücken. „Diese Bezahlung mag skandalös erscheinen“, gesteht Pranil Kumar Upadhaya, der über die Tourismuswirtschaft Nepals forscht und selbst Trekkingtouren organisiert. „Aber es ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Diese Männer brauchen das Geld zum Leben. Und die Touristen kommen auch deswegen nach Nepal, weil sie hier preisgünstige Träger finden.“
Im Norden wird Nepal durch die riesige Bergkette des Himalaja begrenzt; das Land liegt eingeklemmt zwischen Indien und China, ohne Zugang zum Meer. In Nepal gibt es quasi keine Industrie. Das Land exportiert neben ein paar landwirtschaftlichen und Handwerksprodukten nur ein bisschen Strom aus den Wasserkraftwerken – von denen sich die größten allerdings noch in der Planungsphase befinden – und importiert alles von seinen mächtigen Nachbarn, insbesondere Indien.
„Über den Grenzübergang Birganj im Süden kommen täglich 100 indische Lastwagen nach Nepal“, erzählt Dharma Swarnakar, Ökonom beim UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) in Kathmandu. „90 davon fahren leer wieder zurück.“ Das Einzige, was Nepal erfolgreich exportiere: „menschliche Arbeitskraft“.
In Nepal hat jeder einen Verwandten, die oder der im Ausland arbeitet oder mit dem Gedanken spielt, wegzugehen. „Das ist ein altes Phänomen, aber es hat während des Bürgerkriegs zugenommen, als die jungen Leuten in den Dörfern sich weigerten, sich von der Guerilla rekrutieren zu lassen“, erklärt der junge Journalist Pranaya Rana, der den erfolgreichen Blog Kalam Weekly betreibt. „Heute betrifft das alle sozialen Klassen. Jeder sucht sich sein Ziel entsprechend seiner finanziellen Möglichkeiten.“
Die Reichen gingen nach Australien, Kanada oder in die USA, sagt Rana, die mit weniger Geld nach Südkorea, Rumänien oder Portugal. „Dann kommen Malaysia oder die Golfstaaten. Und ganz unten steht Indien.“
Die Weltbank schätzt, dass nepalesische Arbeitsmigrat:innen jedes Jahr über 10 Milliarden US-Dollar nach Hause schicken, was einem des Bruttoinlandprodukts entspricht. Im Vergleich dazu sind die 800 Millionen Dollar jährlich, die der Tourismus einbringt, fast zu vernachlässigen. „Selbst wir, die in der internationalen Entwicklungshilfe arbeiten, holen jährlich nur etwa 1,4 Milliarden Dollar ins Land“, sagt Ayshanie Medagangoda-Labé, Vertreterin des UNDP in Nepal. „Mit anderen Worten, die Wirtschaft Nepals und das Leben seiner Einwohner sind im Wesentlichen von den Arbeitsmigranten abhängig.“
Jeder in Nepal kennt den Dollarkurs und kann angeben, wie viel die Vermittlungsagenturen für ein Flugticket, ein Visum und eine Arbeitsstelle im Ausland verlangen. „Für einen Golfstaat muss man 2 Lakh bezahlen“, also etwa 1350 Euro, erklärt die 22-jährige Puspa Kumai, die einen Koreanischkurs in einer Sprachschule in Ghorahi, Verwaltungssitz des Distrikts Dang Deukhuri, besucht (1 Lakh entspricht 100 000 nepalesischen Rupien). „Für Malaysia sind es 3,5 Lakh (2370 Euro), für Polen, Rumänien, Portugal oder Kroatien 8 Lakh (5420 Euro).“
Puspa stammt aus einem Bergdorf zwei Busstunden von Ghorahi entfernt. Ihre Familie hat sich 3 Lakh (2030 Euro) zu einem Wucherzins von 36 Prozent pro Jahr geliehen, um sie nach Südkorea schicken zu können. „Es ist hart. Ich muss mindestens fünf Jahre bleiben und darf zwischendurch nur einmal meine Familie besuchen. Aber ich habe keine andere Wahl, sie brauchen mich zum Überleben.“
Puspa wird in der Landwirtschaft oder in einer Textilfabrik arbeiten. Für eine Sechstagewoche und zehn Stunden Arbeit täglich hofft sie, 2,5 Lakh (1690 Euro) im Jahr zu verdienen, die sie in Gänze zu ihren Eltern nach Hause schicken will; Kost und Logis sind im Gehalt inbegriffen.
Die Rückkehr zum Frieden 2008 hat an der Arbeitsmigration nichts geändert. „Heute geht man davon aus, dass 2,6 Millionen Nepalesinnen und Nepalesen im Ausland arbeiten“, sagt der Soziologe Arjun Kharel vom Forschungszentrum Social Sciences Baha. „Und dabei sind diejenigen noch nicht mitgerechnet, die sich in Indien als Saisonarbeiter verdingen. Das würde die Zahl fast verdoppeln.“
Korrupte Eliten und eine massive Emigration: Die Situation des Landes mag düster erscheinen. Die materielle Lage der nepalesischen Bevölkerung hat sich – abgesehen vom Ausbau des Straßennetzes, von dem alle profitieren – tatsächlich kaum verbessert. Aber es gibt auch positive Entwicklungen, etwa beim Ausbau der Grundrechte. Der erste und wichtigste Aspekt ist jedoch die verbesserte Sicherheitslage: 20 Jahre nach dem Friedensabkommen ist der Krieg wirklich beendet und die Nepalesinnen und Nepalesen scheinen so harmonisch zusammenzuleben, dass man sich fragt, wie es damals zu einem solchen Ausbruch der Gewalt kommen konnte.
Nabin Lochan Magar ist Journalist in Livang, der Hauptstadt des Distrikts Rolpa, eine Tagesreise von Thabang entfernt. Er hat in der maoistischen Volksbefreiungsarmee (PLA) gekämpft und zeigt uns Fotos, auf denen er mit einem Gewehr vor der Brust posiert. „Ich komme aus Pachhabang, zwei Stunden entfernt von hier. Damals war das Dorf tief gespalten. Es gab vier Tote, drei wurden von den königlichen Streitkräften umgebracht, einer von uns.“ Heute herrsche Frieden, betont Nabin, „die Kinder der ehemals verfeindeten Familien heiraten sogar untereinander“.
Alle Zeitzeugen erzählen das Gleiche: Der Frieden ist in die Dörfer zurückgekehrt, ohne dass der Staat eingegriffen hätte. Am Ende richtete die Regierung zwar eine Wahrheits- und Versöhnungskommission sowie eine Untersuchungskommission für die Verschwundenen ein, aber die haben nie wirklich funktioniert. „Die ehemals verfeindeten Parteien haben die einflussreichen Posten unter sich aufgeteilt, und sie taten alles, um zu verhindern, dass die Kommissionen die Verantwortlichen für die Übergriffe benannten“, kritisiert der Gründer der Nepali Times und renommierte nepalesische Intellektuelle Kunda Dixit.
Das Schlimmste aber sei, „dass nichts unternommen wurde, damit unsere Kinder von dieser Seite unserer Geschichte erfahren“, so Dixit. Als „vollen Erfolg“ bezeichnet er indes, dass von den 9000 maoistischen Kämpfern von damals 1500 in die reguläre Armee eingegliedert wurden, und die restlichen mit einer Abfindung zu ihren Familien zurückkehrte.
Die Verfassung, die sich Nepal gegeben hat, ist mittlerweile zehn Jahre alt, und die wesentlichen Bedingungen für ein demokratisches Leben scheinen installiert – ein weiterer großer Fortschritt im Land. „Seit der Abschaffung der Monarchie leben wir in der offensten Gesellschaft ganz Asiens, und die Presse ist vollkommen frei“, meint Kunda Dixit.
In der Tat muss keine Journalistin und kein Blogger Repressalien befürchten, wenn er oder sie kritisch über Verantwortliche in Politik oder Wirtschaft berichtet. Wir waren selbst überrascht, mit welcher Offenheit hohe Amtsträger auf unsere Fragen antworteten und bereitwillig Irrtümer und Fehlverhalten ihres Ministeriums kritisierten, ohne anonym bleiben zu wollen.
Die Aura der Maoisten, die die Demokratisierung erkämpft haben, hat jedoch seit Langem ihre Strahlkraft verloren. Bei den Wahlen im November 2022 erzielten sie lediglich 11 Prozent der Stimmen, hinter den Marxisten-Leninisten von der KPN-UML mit 27 und der Kongresspartei NC mit 25,5 Prozent. Was den Maoisten Prachanda nicht daran hinderte, sich durch geschickt geschmiedete Bündnisse zwischenzeitlich wieder das Amt des Premierministers zu sichern, bevor er im Juli 2024 durch ein Misstrauensvotum abgesetzt wurde.
Trotz der Fortschritte, die der maoistische Aufstand und die Abschaffung der Monarchie dem Land bescherten, schwächt das traurige Schauspiel der Machthaber die noch junge Republik. „Mich widern diese Parteien alle an“, sagt die sechsfache Mutter Hikmati, die zwischen Shivaraj und Daukhuri ein kleines Lokal an der Autobahn betreibt. „Ich will, dass der König zurückkommt.“
„Es stimmt, dass immer mehr Menschen das fordern“, erklärt die Journalistin Pranaya Rana. „Aber ich denke, dahinter steckt eher die Ablehnung der etablierten Parteien als ein echter Wunsch nach einer Rückkehr zur Monarchie.“ Eine kleine royalistische Partei, die Rastriya Prajatantra Party (RPP, Partei der nationalen Demokratie), versucht, diese Stimmung zu nutzen, aber einstweilen ohne großen Erfolg. Bei den Wahlen von 2022 erreichte sie 5,6 Prozent.
In Nepal hat die Wahl einer Partei manchmal weniger mit ideologischer Zustimmung als mit einer Art familiärem Zugehörigkeitsgefühl zu tun. „Ich bin seit 25 Jahren Maoist, meine ganze Familie ist maoistisch, das ist meine Geschichte. Ich kann daran nichts ändern“, sagt etwa Gobin Bishwa Karma, ein Dalit aus Thabang. Kurz zuvor hatte er uns noch erklärt, wie sehr er die maoistischen Politiker „verabscheut“, die „alle korrupt sind“.
Andere geben ihre Stimme einer Partei aus pragmatischen Erwägungen heraus. „Ich bin in der Kongresspartei aktiv, aber nur weil die über ein mächtiges Netzwerk verfügt“, erklärt der Akademiker Sanjaya Chaudari, der im Distrikt Chitwan westlich von Kathmandu mit einem großen Nationalpark, politisch engagiert ist. „Hier musst du einer der drei großen Parteien angehören, wenn du in der Gemeindeverwaltung, in einer Forstkooperative oder im Wasserwirtschaftsamt etwas erreichen willst.“ Ob man auf irgendeinen Posten berufen werde, hänge ausschließlich von Verbindungen zu den lokalen Politgrößen ab.
In Thabang leuchten die Porträts von Marx, Engels und Co. im Licht der Abendsonne. Die Gassen leeren sich, die Frauen bereiten zu Hause den Dal Bhat vor, jenes Gericht aus Reis, Linsen und Gemüse, das zu jeder Mahlzeit serviert wird. „Letztlich ist das eigentliche Erbe dieses Krieges, dass er uns zu Bürgern gemacht hat, die sich ihrer Rechte bewusst sind und für sie eintreten“, sagt zum Schluss Gris Pun vom Gemeinderat in Thabang und schaut in den glutroten Abendhimmel. Und diese Errungenschaft werden die Nepalesinnen und Nepalesen nicht so leicht wieder aufgeben.
1 Inoxtag, „Kaizen: 1 an pour gravir l’Everest!“ (IDZ Prod, 2024), verfügbar auf Youtube.
2 Siehe Philippe Descamps, „Die braven Maoisten von Nepal“, LMd, März 2012.
5 „Nepal living standards survey IV 2022–23“, Central Bureau of Statistics, Kathmandu, Februar 2024.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Pierre Daum ist Journalist.
Die Macht der Bahun
Bahun, Chhetri, Newar, Dalit: Die nepalesische Gesellschaft besteht aus einem für Außenstehende undurchschaubaren Mosaik aus Kasten und Ethnien, das im Laufe der Jahrhunderte aus der Begegnung von autochthonen Ethnien (Janajati) und Bevölkerungsgruppen aus Indien entstand. Letztere setzten ihre Sprache – Nepali ist dem Hindi sehr ähnlich – sowie die religiös fundierte Hierarchisierung der Gesellschaft durch. Offiziell wurde das Kastensystem bereits 1963 abgeschafft, auch die Verfassung von 2015 verbietet es. Die gesellschaftliche Diskriminierung der Dalit besteht jedoch weiterhin, etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder bei der Bildung.
An der Spitze der Hierarchie stehen die Bahun (Brahmanen), die heute 11 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Dann kommen die Chhetri (16 Prozent) und ganz unten, von allen verachtet, die Dalit (14 Prozent). Diese gelten den Angehörigen der höheren Kasten als unrein, sodass sie nicht an deren Tisch sitzen, deren Essen berühren und schon gar nicht einen Fuß in deren Küche setzen sollen.
Zwischen den Chhetri und den Dalit rangieren die Janajati (Newar, Tharu, Magar, Tamang, Gurung, Rai, Limbu, Ghurka und andere): 35 Prozent der Bevölkerung gehören einer der rund 100 verschiedenen Ethnien an, die die Ausgrenzung der Dalit aus der hinduistischen Tradition übernommen haben. Und als sei das Tableau damit nicht komplex genug, gibt es auch noch die Madheshi (20 Prozent der Bevölkerung), eine gemischte, im Flachland lebende Volksgruppe, sowie die im ganzen Land verstreut lebenden Muslime (5 Prozent).
Beim Aufstand der Maoisten waren alle Anführer Bahun, aber auch viele Dalit und Janajati kämpften in der Volksbefreiungsarmee (PLA) für eine gerechtere Gesellschaft. Die Kommunistische Partei Nepals (maoistisch) (KPN-M) räumte in ihren Analysen der Identitätsfrage einen zentralen Platz ein und ging dabei über den einfachen Verweis auf Klassengräben hinaus. Während der zehn Kriegsjahre hatte man tatsächlich viele Erfahrungen gesammelt mit einem Leben als Gemeinschaft jenseits von Klassen und Ethnien – auch wenn die Parteiführer nach wie vor Bahun waren.
Die Verfassung von 2015 sollte „inklusiver“ sein und schreibt vor, dass das Parlament „die gesellschaftlichen Zusammensetzung widerspiegeln“ müsse. „Leider haben wir keine Quoten eingeführt, wie das für die Frauen der Fall ist [33 Prozent]“, bedauert der maoistische Intellektuelle Baburam Bhattarai, der früher selbst Premierminister war. Das Ergebnis dieses Versäumnisses: Bahun oder Chhetri machen 27 Prozent der Bevölkerung aus, im Parlament stellen sie aber 50 Prozent der Abgeordneten. Die Janajati sind nur zu 30, die Madheshi zu 12 und die Dalit zu 6 Prozent vertreten.
Für den öffentlichen Bereich gibt es mittlerweile die Regel, dass 45 Prozent der neu ausgeschriebenen Stellen mit Frauen, Dalit oder Janajati besetzt werden müssen. Dabei handelt es sich jedoch im Wesentlichen um kleine Beamtenposten. Der einstige Maoistenchef Bhattarai – auch er ein Bahun – stellt klar: „Es ist wahr, dass unsere Gesellschaft immer noch von den Bahun dominiert wird. Aber unser Kampf zielte ja auch darauf, die Monarchie abzuschaffen und nicht die Bahun und die Chhetri.“