10.04.2025

Ein Blick auf Europas Militarisierung

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Ein Blick auf Europas Militarisierung

von Pierre Rimbert

Die Brücke der Freundschaft zwischen Russland und der EU bei Narwa, Juli 2024 JAAP ARRIEBS/nurphoto/picture alliance
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Am 11. März wurden die Friedensverhandlungen zwischen Russland und den USA beziehungsweise der Ukraine und den USA in Saudi-Arabien wieder aufgenommen – 5000 Kilometer von Brüssel entfernt. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn 2022 stand ein Waffenstillstand in Aussicht und – vielleicht – Frieden.

Die Staats- und Regierungschefs der Alten Welt saßen nicht mit am Tisch, ihr US-amerikanischer Pate hat sie mit seinem Verhalten aus dem Konzept gebracht, nun sind sie mit ihrer Wiederaufrüstung beschäftigt. Die Verhandlungen, die sie selbst nicht in die Wege leiten wollten, konnten sie deshalb nur aus der Zuschauerperspektive verfolgen. Trotzdem kündigte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am selben Tag vor dem EU-Parlament selbstbewusst an: „Dies ist die Stunde Europas.“

Seitdem Frankreich und die Niederlande im Frühjahr 2005 eine europäische Verfassung per Referendum ablehnten, läuft in den Brüsseler Institutionen immer wieder ein ähnliches Szenario ab: Angesichts einer internationalen Krise, die die strukturellen Mängel der EU aufzeigt, verkünden ihre Staats- und Regierungschefs, die Mitgliedsländer würden nun gemeinsam handeln und die Krise überwinden. Anschließend treffen sie eine Reihe recht willkürlicher Entscheidungen, oft in großer Eile und unter dem Druck der Öffentlichkeit, die zu einem krachenden Misserfolg führen, bezahlt mit der Aushöhlung der sozialen Sicherheitsysteme in der EU.

Aufgeschreckt durch die allgemeine Unzufriedenheit und – als Folge davon – das Erstarken der extremen Rechten, versuchen die liberalen Eliten schließlich, immer neue Politikbereiche der Brüsseler Bürokratie zu unterstellen und so der demokratischen Willensbildung auf nationalstaatlicher Ebene zu entziehen. Nach der Finanzkrise von 2008, der Eurokrise im Jahr 2012, der Coronapandemie von 2020, setzt Brüssel auch beim Ukraine­kriegs auf diese Schockstrategie.

Die russische Invasion am 24. Februar 2022 nahm die EU-Kommission zum Anlass, den seit dem Brexit eingeschlafenen europäischen Integrationsprozess wieder zum Leben zu erwecken und für sich mehr Mitsprache in der Außen- und Sicherheitspolitik zu beanspruchen, ein Bereich, für die nach EU-Recht ausdrücklich der Europäischen Rat maßgeblich ist, also die Staats- und Regierungschefs.

Für die Kommissionspräsidentin galt der Krieg sogleich als Beschleuniger der europäischen Integration. Sie stellte den EU-Beitritt der Ukraine in Aussicht und definierte das Ausmaß des Konflikts: Laut Ursula von der Leyen handelt es sich nicht einfach um eine Aggression Russlands, sondern um einen Krieg, der unbedingt mit dem Scheitern Putins enden müsse, der „das Gesicht des unerbittlich Bösen“ darstelle, kurzum: ein Krieg „gegen unsere Werte und gegen unsere Zukunft“. Ein Kampf der Autokratie gegen die Demokratie, für die die Ukrai­ner stehen. Im September 2022 versprach sie: „Putin wird scheitern, und Europa wird gewinnen.“

Im Rausch der Einigkeit trafen die Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten eine Reihe von Entscheidungen, die der Welt zeigen sollen, wie stark Europa ist. Letztlich haben sie jedoch eher zur Schwächung und Erniedrigung Europas beigetragen.

Zunächst wurden gegen Russland Sanktionen verhängt, die wirtschaftlich als Bumerang wirken. Zwischen Ende Februar und Ende Juni 2022 feuerte Brüssel die ersten sechs Sank­tions­sal­ven gegen Moskau ab, im letzten Februar wurde die sechzehnte auf den Weg gebracht. Diese Maßnahmen – meist von den USA inspiriert – sollten „schrittweise die industriellen Grundlagen Russlands unterhöhlen“, so von der Leyen am 25. Februar 2022.

Der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire wollte am 1. März 2022 „die russische Wirtschaft zum Einsturz bringen“. Im September 2022, als die Abkopplung vom billigen russischen Gas zugunsten von Lieferungen unter anderem aus den USA die Inflation in Europa anheizte, feierte die Kommission auf der Onlineplattform X: „Die russische Industrie liegt in Scherben.“

Diese Sanktionen werden als außerordentlicher Fall wirtschaftlicher Selbstbehinderung durch hektisch reagierende Regierungen in die Geschichte eingehen. Sie haben die EU-Staaten in dem nun von US-Präsident Trump angezettelten Handelskrieg verletzbarer gemacht. Doch da jeder Misserfolg einer europäischen Politik per se auf zu wenig Europa zurückgeführt wird, kündigt Brüssel triumphierend an, die Wirtschaft werde dafür durch Wiederaufrüstung angekurbelt – während gleichzeitig Friedensverhandlungen beginnen.

Die zweite überstürzte Entscheidung bestand darin, keinen anderen Ausweg aus dem Konflikt in Erwägung zu ziehen als den Weg des ukrainischen Präsidenten, der nicht realistisch ist. Sobald die erste russische Offensive gestoppt war, machte sich die Kommissionspräsidentin zum Sprachrohr Selenskyjs. Am 15. September 2022 verkündete sie: „Putin muss diesen Krieg verlieren und sich für seine Taten verantworten.“ Die Worte „Frieden“ ebenso wie „Verhandlungen“ wurden in Europa zum Tabu.

Doch auf welche demokratische Beschlussfassung oder welche öffentliche Debatte stützte sich die Kommissionspräsidentin, als sie davon ausging, dass die Interessen der EU-Mitgliedstaaten und die der Ukraine übereinstimmten? Indem die Europäische Union die Forderungen Kyjiws gegenüber Russland zur Bedingung für einen Waffenstillstand machte, verzichtete sie auf die Rolle eines Vermittlers, anders als beispielsweise die Türkei, die Kyjiw unterstützt, ohne den ­Kontakt nach Moskau abzubrechen.

Die dritte Entscheidung, die die Kommission nur vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs treffen konnte, hat eine noch weiterreichende Bedeutung. Die Schreckensvorstellung einer russischen Bedrohung an den östlichen Grenzen Europas hat dazu geführt, dass Brüssel seine geopolitische Vision möglichst den strategischen Prioritäten derjenigen Mitgliedstaaten anpasst, die am meisten antirussisch und pro Nato eingestellt sind – auf Kosten der größten Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland, die sich 2008 gegen den Nato-Beitritt der Ukraine ausgesprochen hatten.

Die zwischen 1999 und 2004 der atlantischen Allianz beigetretenen Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn nutzen die wirtschaftlichen Vorteile eines gemeinsamen Marktes und verlassen sich in Verteidigungsangelegenheiten auf die Vereinigten Staaten. „Die baltischen Staaten haben sich stark, sogar leidenschaftlich, mit dem transatlantischen Bündnis identifiziert und betrachten es fast als ein Verfassungsprinzip“, sagt der ehemalige litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis.1

Am Ende des Kalten Kriegs gründeten die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken ihre nationale Identität auf Antikommunismus, Angst vor Russland und Wirtschaftsliberalismus. „Wir Balten fürchten nicht die russischen Panzer, wohl aber die Schwäche der Westeuropäer“, betont der frühere lettische Verteidigungsminister ­Artis Pabriks. Aus ihrer Sicht bettet der Ukrai­ne­krieg Nordeuropa durch den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens noch enger in die westliche Welt ein und stellt sie an die vorderste Front der neuen supranationalen europäischen Staatsraison: das Böse aus Russland bekämpfen.

Die Regierungschefs dieser Staaten nutzen die Gunst der Stunde. Die ehemalige Premierministerin Estlands Kaja Kallas, die im Dezember 2024 zur EU-Außen- und Sicherheitsbeauftragten ernannt wurde, pflegt eine Einstellung zu den internationalen Beziehungen, die an US-amerikanische Filme über den Kalten Krieg erinnert.

Gegenüber der Zeitung Le Figaro erklärte Kallas am 18. März 2022: „Wenn manche Leute behaupten, das Ziel müsse der Frieden sein, denke ich unwillkürlich an die sowjetische Besatzung nach dem Kalten Krieg. Man darf Wladimir Putin keinen Ausweg lassen, denn damit signalisiert man ihm ganz klar, dass er es wieder tun kann. Es kommt nur eine militärische Lösung infrage. Die Ukraine muss in diesem Krieg gewinnen.“

Andrius Kubilius, ehemaliger Premierminister Litauens und seit Kurzem EU-Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt, wird in derselben Ausgabe der Zeitung zitiert: „Putin wird sich nicht auf die Ukraine beschränken. Er möchte die Zeit zurückdrehen. Nicht um 20 Jahre. Eher um 40 Jahre oder mehr. Bis in die Zeit der Sowjetunion. Oder sogar bis in die Zeit des russischen Reichs. Das könnte die Annexion oder die Besetzung von Teilen Europas bedeuten. Und Einflussnahme auf den Rest des Kontinents.“ Um diese Gefahr abzuwenden, plädiert Kubilius für eine EU als „Arsenal der Demokratien“2 unter operativer Führung der Nato.

Das Misstrauen der Balten und der osteuropäischen Staaten Russland gegenüber ist angesichts ihrer Geschichte und des Angriffs auf die Ukraine begreiflich. Doch ist es für die anderen EU-Mitgliedstaaten ein Vorteil, ihre Außenpolitik auf die strategischen Entscheidungen der ehemaligen Sowjet­republiken auszurichten?

Die Iberische Halbinsel fürchtet die Klimaerwärmung mehr als eine russische Invasion; Frankreich ist durch seinen nuklearen Schutzschirm vor jedem militärischen Angriff geschützt; das in der Zeit der Entspannung reich gewordene Deutschland profitiert von einem Gleichgewicht zwischen Ost und West; Athen misstraut Ankara mehr als Moskau; Italien sieht die Gefahr eher im Mittelmeerraum; und Däne­mark hat mit den Trump-Plänen zu Grönland gerade andere Sorgen.

Der Soziologe Wolfgang Streeck sieht die Situation folgendermaßen: „Eine zentralisierte EU kann die auseinanderfallenden Interessen seiner Mitgliedstaaten nur im Rahmen einer engen atlantischen Allianz unter einen Hut bringen.“ Seiner Meinung nach ist dieser alte Traum der liberalen Eliten Europas „nur lebensfähig, wenn die Vereinigten Staaten eine Konfronta­tion der transatlantischen Allianz mit Russland weiterhin betreiben und aus der Ferne steuern“.

Präsident Trump verfolgt offenbar andere Pläne. Doch ohne einen gemeinsamen Bündnispartner im Kampf gegen den gemeinsamen Feind ist die geopolitische Integration Europas nur Schall und Rauch.

⇥Pierre Rimbert

1 Gabrielus Landsbergis, „It’s time for the Baltics to be brave like Poland“, 14. März 2025, landsbergis.com.

2 Anhörung vor der Europäischen Verteidigungsagentur, Brüssel, 22. Januar 2025.

Aus dem Französischen von Heike Maillard

Pierre Rimbert ist Redakteur bei LMd, Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.04.2025, von Pierre Rimbert