10.04.2025

Worüber Algier und Paris streiten

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Worüber Algier und Paris streiten

von Lakhdar Benchiba

Tinduf in Algerien am 20. Mai 2023: Saharauische Frauen feiern den 50. Gründungstag der Polisario anadolu agency/picture alliance
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Stehen wir kurz vor einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich? Vor sechs Monaten wäre ein solcher Schritt noch undenkbar gewesen, inzwischen wird er von Di­plo­ma­ten beider Seiten nicht mehr ausgeschlossen. Zugleich ist man bemüht, die Spannungen zwischen beiden Ländern zumindest etwas abzubauen.

In der Geschichte der französisch-algerischen Beziehungen seit der Unabhängigkeit 1962 gab es viele stürmische Episoden, für die beide Seiten verantwortlich sind, aber noch nie einen solchen Tornado. Anlass für die ak­tuel­len Verwerfungen war die französische Entscheidung, die Westsahara als „marokkanisch“ anzuerkennen. Die ehemalige spanische Kolonie wird von den Vereinten Nationen bis heute als „Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung“ eingestuft. Dessen Selbstbestimmung steht also noch aus.

Durch einen Brief von Präsident Macron vom 30. Juli 2024 an den marokkanischen König Mohammed VI. besiegelte Paris seine Unterstützung für den marokkanischen Autonomieplan für die Westsahara – und erkannte damit Marokkos Souveränität über das Gebiet an. Algier reagierte sofort und rief seinen Botschafter aus Paris zurück. Einige Wochen später legte Macron in einer Rede vor dem marokkanischen Parlament nach: „Gegenwart und Zukunft dieses Territoriums sind im Rahmen der marokkanischen Souveränität zu sehen.“

Jahrzehntelang hatte Frankreich in dieser Frage eine komplizierte Balance gewahrt: Es unterstützte die marokkanische Position in den internationalen Institutionen, ohne je dessen Souveränität über die Westsahara offiziell anzuerkennen. So konnte Paris mehr oder weniger herzliche Beziehungen zu den beiden maghrebinischen Rivalen Algerien und Marokko pflegen.

Macron soll seinen algerischen Amtskollegen am Rande des G7-Gipfels in Bari im Juni 2024 über Frankreichs Absichten informiert haben; Algier wurde also nicht überrumpelt. Doch das hat nichts an der Schärfe der algerischen Reaktion zu ändern vermocht: „Dafür wird Frankreich bezahlen“, ist die Parole im Staatsapparat wie bei den großen staatlichen Unternehmen, die sich sukzessive von ihren französischen Lieferanten abwenden.

Das Thema Westsahara wie überhaupt die ständigen Spannungen mit Marokko, die nach der Unabhängigkeit mit dem „Sandkrieg“ von 1963 begannen1 , sind de facto zum zentralen Fixpunkt der algerischen Außenpolitik geworden. In den vergangenen 50 Jahren hat das Land sehr viel politisches Kapital in die Westsahara-Frage investiert.

Die französische Wende kann man als Bestätigung dafür lesen, dass die internationale Position Algeriens in den letzten Jahren immer weiter geschwächt wurde. Diese Entwicklung begann nicht erst mit der Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara durch Donald Trump Ende 2020. Im Gegenzug bekam Washington damals Rabats Unterstützung für eine Normalisierung mit Is­rael, und wenig später schloss sich auch Spanien der marokkanischen Position in Bezug auf die Westsahara an.

Doch bereits während des algerischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren war das Land international weitgehend isoliert. Nach einer kurzen Wiederbelebung Anfang der 2000er Jahre erlahmten die diplomatischen Aktivitäten mit der Erkrankung von Präsident Bouteflika ab 2013 jedoch wieder. Und unter Präsident Tebboune musste Algier seit Dezember 2019 eine Reihe außenpolitischer Niederlagen einstecken.

Dazu gehört das Scheitern des algerischen Antrags auf eine Mitgliedschaft in der Brics-Gruppe2 ebenso wie die Entscheidung mehrerer – vor allem afrikanischer – Länder, die von der saharauischen Befreiungsbewegung Polisario ausgerufene Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) nicht mehr anzuerkennen.

Zudem ist Algerien in der Sahelzone isoliert und hat – was allerdings neu ist – einen Konflikt mit dem Verbündeten Russland in Bezug auf den Norden Malis. Dort kämpfen Kräfte der ehemaligen Wagner-Gruppe an der Seite der malischen Armee gegen aufständische Gruppierungen, die mehr oder weniger Algier nahestehen.3

Zunächst blieben die französisch-algerischen Spannungen unter Kontrolle, trotz des Rückrufs des Botschafters. Auf französischer Seite wurde der Streit indes für politische Partikularinteressen vereinnahmt: Die Weigerung Algiers, mit Paris in der Frage seiner Staatsangehörigen, denen die französischen Behörden die Aufenthaltsgenehmigung entzogen haben, uneingeschränkt zusammenzuarbeiten, ist für die französische Rechte ein gefundenes Fressen. Das gilt auch für Teile der Regierung. Innenminister Bruno Re­tail­leau hat mit einer „stufenweisen Vergeltung“ gedroht, sollte Algier sich bei der Aufnahme von abgeschobenen Staatsangehörigen weiterhin querstellen.

Mehrere einflussreiche Personen, darunter der ehemalige französische Botschafter in Algier, Xavier Driencourt, fordern die Aufhebung des französisch-algerischen Abkommens von 1968, das algerischen Staatsangehörigen und deren Familien die Einwanderung nach Frankreich erleichtert. Dieses Abkommen behandelt allerdings nicht die Frage von Abschiebungen. Es ist seit 1968 mehrmals neu verhandelt worden. Dabei wurde es nach und nach seiner Substanz beraubt, so dass es heute nicht mehr unbedingt vorteilhaft ist für die Algerier. Es verbietet etwa algerischen Studierenden in Frankreich, einem Nebenjob nachzugehen, was aber allen anderen ausländischen Studierenden erlaubt ist.

Die Verhaftung des Schriftstellers Boualem Sansal am 16. November 2024 in Algier hat die Gemüter noch mehr erhitzt. Der Autor wurde nicht verhaftet, weil er französischer Staatsbürger wurde oder wegen seiner Tiraden gegen das algerische Regime – das er übrigens weniger im Visier hat als die Islamisten –, sondern wegen Infragestellung der „territorialen Integrität Algeriens“.

Im Oktober 2024 hatte Sansal gegenüber Frontières – einem Medium, das in Frankreich dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet wird und für das Sansal bereits mehrere Artikel verfasst hat – erklärt, der Westen Algeriens habe zum Zeitpunkt der Kolonialisierung durch Frankreich zu Marokko gehört. Indem er das vorkoloniale Algerien als „kleines Ding“ bezeichnete, das im Gegensatz zum Königreich Marokko („ein Staat“) leicht zu kolonialisieren gewesen sei, erregte Sansal den Zorn der Machthaber in Algier – und auch von Teilen der algerischen Bevölkerung, wie Aufrufe zur Lynchjustiz in den sozialen Netzwerken belegen. Im Netz schert man sich wenig um das Recht eines Schriftstellers, seine Meinung zu äußern, wie provokativ sie auch sein mag. Mit seiner Aussage von Anfang Januar, Algerien „entehre sich selbst“, wenn es Sansal nicht freilasse, goss Präsident Macron weiter Öl ins Feuer.

Am 27. März 2025 wurde der 80-jährige Sansal von einem Schnellgericht wegen „Untergrabung der nationalen Einheit, Beleidigung des konstituierten Organs (der Armee), Schädigung der nationalen Wirtschaft und Besitz von Videos und Publikationen, die die nationale Sicherheit und Stabilität bedrohen“, zu fünf Jahren Haft verurteilt.

„Sansal sitzt zu Unrecht im Gefängnis, das ist klar“, sagt ein Menschenrechtsaktivist, der anonym bleiben möchte. Für diskreten Druck sei das algerische Regime durchaus empfänglich, „aber es schaltet auf stur, wenn der Druck öffentlich und so vehement ausgeübt wird“, dass sein Ansehen und damit seine Autorität in der eigenen Bevölkerung infrage gestellt werde.

Jedes Mal, wenn eine Person aus dem rechtsextremen oder islamophoben Spektrum in Frankreich öffentlich für Sansal und gegen Algerien Position beziehe, mache das die algerische Seite noch unnachgiebiger. Tatsächlich werfen die algerischen Behörden Sansal auch vor, „Verbindungen zu einer ausländischen Macht“ zu pflegen.

Die sozialen Medien sind in Algerien die einzigen Kanäle relativ freier Meinungsäußerung. Hier wurde auch mehrfach das Europäische Parlament verspottet, nachdem es in einer Resolution am 23. Januar die „sofortige und bedingungslose Freilassung“ Sansals gefordert hatte. Viele sehen hier vor allem Paris am Werk. Vor allem aber verschafft die lautstarke Kritik aus rechten französischen Kreisen dem algerischen Regime wieder mehr Zuspruch bei der eigenen Bevölkerung – in der die Hirak-Proteste von 2019 und 2020 immer noch sehr präsent sind (siehe den obenstehenden Artikel).

„In Algerien gibt es keine freie Presse mehr, seit dem Verbot von Interface Médias und seinem Webradio ‚Radio M.‘ ist sie tot“, sagt eine algerische Journalistin, die mittlerweile als Lehrerin arbeitet. Die Situation erinnere an eine Karikatur der Einparteienherrschaft, mit einer Presse, „die den Chef lobt und gegen tatsächliche oder eingebildete Oppositionelle hetzt“. Sie habe zu ihrem Erstaunen bemerkt, so die Journalistin weiter, dass die französische Presse „der unseren verblüffend ähnlich sein kann“, wenn man sich Beiträge in Le Point, der rechtsnationalen Wochenzeitung Valeurs actuelles oder den Medien der Bolloré-Gruppe ansehe.

Während im algerischen Fernsehen nunmehr täglich fünf Minuten dem „krisengeschüttelten“ und „schwächelnden“ Frankreich gewidmet werden, verbreiten viele französische Medien antialgerische Hetze. Und weil Letztere in Algerien nach wie vor viel konsumiert werden, sind die Menschen darüber bestens im Bilde. Viele Algerier sind der Meinung, dass Sansal nicht ins Gefängnis gehört und dass das Regime einen Fehler begeht, wenn es ihn zum Märtyrer macht. Dass sie sich nicht äußern, liegt weniger an der Angst vor Repressionen als an dem Hass, der ihnen aus den französischen Medien entgegenschlägt und mit dem sie sich nicht gemeinmachen wollen.

Wie zu Zeiten der Vierten Republik (1946–1958) ist Algerien wieder zu einem innenpolitischen Thema in Frankreich geworden. Dabei geht es vor allem um die Machtverhältnisse innerhalb der Rechten, nicht zuletzt auch in der Partei Les Républicains von Innenminister Retailleau, der sich mit seinem Rivalen Laurent Wauquiez einen Kampf um den Parteivorsitz liefert. Für Präsident Macron ist die Situation äußerst unkomfortabel. Sein Innenminister mischt sich in einen sensiblen Bereich der Außenpolitik ein und droht mit Rücktritt, falls seine Aufrufe zu „stufenweisen“ Vergeltungs­maßnahmen gegen Algier unbeachtet bleiben.

Die von Macron angestoßene Erinnerungsdebatte hat zudem nirgendwo hingeführt: Paris glaubt, Zugeständnisse gemacht zu haben, indem es etwa die Verantwortung Frankreichs für die Ermordung führender algerischer Unabhängigkeitskämpfer4 anerkannt hat. Auf algerischer Seite hält man das für unzureichend. In den staatlichen Medien ist erneut die Forderung nach einer offiziellen Entschuldigung aufgetaucht.Lakhdar Benchiba

1 Im Oktober 1963 marschierte Marokko in das zu Algerien gehörende Tindūf-Gebiet ein, das an die Westsahara grenzt, wurde aber zurückgeschlagen. Der Konflikt wurde offiziell im Februar 1964 beendet, ein gültiger Grenzvertrag zwischen beiden Staaten existiert seit 1972.

2 Siehe Martine Bulard, „Brics wächst – aber wozu?“, LMd, Oktober 2023.

3 Siehe „L’Algérie proteste contre la présence de mercenaires russes à ses frontières“, Courier International, 13. Februar 2025.

4 Vgl. Adam Shatz, „Papa, was hast du in Algerien gemacht?“, LMd, März 2022.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Lakhdar Benchiba ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 10.04.2025, von Lakhdar Benchiba