Was Irland mit Palästina verbindet
In Gaza geht der Vernichtungskrieg nach dem Ende des Waffenstillstands weiter. Irland steht dabei im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten nicht hinter Israel. Denn wie Palästina blickt es auf eine lange Geschichte der Kolonialisierung zurück.
von Clara Menais

Am Saint Patrick’s Day 1952 schickte der irische Botschafter US-Präsident Truman Shamrock (Klee) ins Weiße Haus. 1956 stattete der „Taoiseach“ (Premierminister Irlands) John Costello an dem irischen Nationalfeiertag Präsident Eisenhower persönlich einen Besuch ab. Eine Tradition war geboren.1
Unter Bill Clinton wurde es sogar zur Gewohnheit, den „Taoiseach“ jedes Jahr zu begrüßen. Als Joe Biden mit grüner Krawatte und Shamrock im Knopfloch am 17. März 2024 den irischen Premier Leo Varadkar empfing, war das Gesprächsthema der Krieg im Nahen Osten.
„Das irische Volk ist zutiefst besorgt über die Katastrophe, die sich vor unseren Augen in Gaza abspielt“, erklärte Varadkar bei der gemeinsamen Pressekonferenz. „Auf meinen Reisen fragen mich die Regierungschefs oft, warum die Iren so große Sympathie für das palästinensische Volk haben. Die Antwort ist einfach. Seine Geschichte erinnert uns an unsere eigene. Eine Geschichte von Umsiedlung, von Enteignungen, von der Infragestellung der nationalen Identität, erzwungener Emigration, Diskriminierung und jetzt auch … Hunger.“2
Solche Worte aus dem Mund des Chefs einer Mitte-rechts-Regierung in Europa mögen erstaunen. Seit Beginn des Gazakriegs haben fast alle europäischen Staaten eine proisraelische Haltung eingenommen. In den ersten Tagen der israelischen Militäroffensive in Gaza im Oktober 2023 war die irische Regierung die erste in Europa, die deren Unverhältnismäßigkeit anprangerte.
Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem Besuch in Israel dessen Selbstverteidigungsrecht unterstrich, distanzierte sich Irlands Präsident Michael D. Higgins umgehend. Premier Varadkar verschärfte noch den Ton. Die Aktion, kritisierte er, habe „den Charakter eines Racheakts“. Der EU warf er vor, „mit zweierlei Maß zu messen“.3
Während die Zahl palästinensischer Todesopfer stieg, erkannte Irland an der Seite von Norwegen und Spanien (siehe nebenstehenden Artikel auf Seite 15) am 22. Mai 2024 Palästina als Staat an und schloss sich am 6. Januar 2025 der Völkermord-Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) an.
Auch weigerte sich Irland, seine Zahlungen an das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA einzustellen, dem am 28. Oktober 2024 vom israelischen Parlament jegliche Tätigkeit auf israelischem Staatsgebiet untersagt worden war. Im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas überwies Dublin im Februar 2025 sogar zusätzlich 20 Millionen Euro an das Hilfswerk.
Irland blickt auf eine lange Kolonialismusgeschichte zurück; die Insel wurde nachhaltig davon geprägt. Seit dem 12. Jahrhundert befand sie sich unter anglo-normannischer oder britischer Herrschaft. So teilt sie mit Palästina die Erfahrung der Okkupation – und des Widerstands dagegen. Seit Jahrhunderten ist das Land Ziel imperialistischer Strategien, wie sie auch den Palästinensern wohlvertraut sind: koloniale Besiedelung, militärische Besatzung, Teilung seiner Gebiete, Niederschlagung von Aufständen.
Zur Zeit der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die britische Regierung die Bevölkerung mit voller Absicht sich selbst überlassen. Laut der Historikerin Benay Blend existiert auch eine Parallele zwischen der von Israel massiv angewandten Administrativhaft gegen Palästinenser:innen und der Situation irischer politischer Gefangener, insbesondere während des berühmten Hungerstreiks von 1981, bei dem Bobby Sands und neun weitere Anhänger der IRA starben.4
Die 2005 aus Solidarität mit den Palästinensern ins Leben gerufene BDS-Kampagne gegen Israel (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) wird seit Langem von weiten Teilen der irischen Gesellschaft unterstützt. Boykott ist die Waffe der Schwachen par exellence. Ihren Namen hat sie von Charles Cunningham Boycott, Hauptmann der Royal British Army, der nach seiner Armeezeit Gutsverwalter in der westirischen Grafschaft Mayo wurde: Als 1880 infolge großer Missernten die Bauern unter extremer Armut litten, zögerte Boycott nicht, die Zahlungsunfähigen von ihrem Land zu vertreiben.
Daraufhin setzte sich die Landbevölkerung, mitgerissen vom Anführer der Home Rule League, Charles Stewart Parnell, zur Wehr: Niemand sollte mehr für den Hauptmann arbeiten, kein Kaufmann ihm mehr etwas verkaufen. Boycott musste die Insel verlassen. So wurde sein Name zum Begriff.
1887 wurde Arthur James Balfour im britischen Kabinett zum Chief Secretary für irische Angelegenheiten ernannt. Er ging in die Geschichte als der Politiker ein, der 1917 die erste offizielle Absichtserklärung für die Schaffung einer „nationalen Heimstätte“ für das jüdische Volk in Palästina unterzeichnete, die sogenannte Balfour-Deklaration. Sein Aufenthalt auf der Grünen Insel aber trug ihm den Beinamen „Bloody Balfour“ ein: Er zeigte sich dort unerbittlich in der Ablehnung jeglicher Autonomiebestrebung, bereit, jedes Aufbegehren im Keim zu ersticken.
Man kann in der Geschichte weitere solcher Parallelen finden: Der britische Militärgouverneur von Jerusalem etwa, Sir Ronald Storrs, beschrieb 1920 Israel als ein „kleines, jüdisches Ulster“ und zog so den Vergleich zur englandtreuen nordirischen Grafschaft, die von London als Bollwerk gegen den irischen Nationalismus betrachtet wurde.5
Heute sind drei von vier Iren überzeugt, Palästinenser seien in Israel Opfer von Apartheid; zwei von drei Befragten wünschen sich, dass die EU die Massaker in Gaza genauso sanktioniert wie den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.6 Gleichwohl unterhält die irische Regierung seit Jahrzehnten normale Beziehungen zu Israel. Als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union seit 1973 ist die Republik Irland integraler Bestandteil der Weltwirtschaft. Sie ist der viertgrößte Exportmarkt für israelische Produzenten; zugleich steht Israel an siebter Stelle unter den Nationen, aus denen Irland Importe bezieht.7

Ein britischer Offizier namens Boycott
Seit den Zeiten des Kalten Kriegs ist Irland bestrebt, seine offizielle Neutralität – Irland ist kein Nato-Mitglied – mit seiner besonderen Beziehung zu Washington in Einklang zu bringen. So hat sich Dublin einerseits der Intervention westlicher Staaten im Irak verweigert, die 2002/03 ohne UN-Mandat erfolgte, gestattete dann aber der US-Luftwaffe, im Rahmen derselben Intervention sein Territorium nicht nur zu überfliegen, sondern auch den Flughafen von Shannon zu nutzen.
Auch während des Gazakriegs hat Irland seinen Luftraum für Transportflüge von Militärgütern aus den USA nach Israel geöffnet und selbst mehrere Millionen Euro im Rahmen von Verträgen mit der israelischen Rüstungsfirma Elbit ausgegeben.8
Manchmal packt die politischen Eliten Irlands dennoch die Angst vor ihrer eigenen Courage. So wurde das 2018 eingebrachte Gesetz für ein Einfuhrverbot von Produkten aus illegal errichteten israelischen Siedlungen nicht verabschiedet, weil man befürchtete, damit gegen die EU-Freihandelsgesetze zu verstoßen.
US-amerikanische Lobbyverbände und die US-Handelskammer waren an der Vereitelung der Initiative ebenfalls beteiligt.
Dem Magazin Foreign Policy zufolge zahlen „gegenwärtig zehn multinationale Konzerne, allesamt in den USA beheimatete Firmen der Tech- und Pharmabranche, 60 Prozent der in Irland anfallenden Gewerbesteuern“. US-amerikanische Großkonzerne beschäftigen in Irland „direkt oder indirekt, mehr als 375 000 Personen, was rund 15 Prozent der arbeitenden Bevölkerung entspricht.9 Man kann sich denken, dass diese Situation den irischen Aktionismus bremst.
Mit der Ausweitung der Massaker und der Annektierung weiterer palästinensischer Gebiete bekam das Einfuhrverbot durch den Druck der Linken und die Mobilisierung in der Bevölkerung neuen Auftrieb, versandete aber erneut in einer verfahrenstechnischen Debatte, ausgelöst von Kabinettsmitgliedern, die vor allen Dingen Zeit gewinnen wollten.10
Am 15. Dezember 2024 schloss Israel seine Botschaft in Dublin; tags darauf warf der israelische Außenminister Gideon Saar dem irischen Premierminister Simon Harris, der seit Januar 2025 Außenminister ist, Antisemitismus und extrem israelfeindliche Politik vor. Der damalige Außenminister und heutige Premier Micheál Martin ging einer Konfrontation diplomatisch aus dem Weg und verkündete noch am selben Tag auf X, die irische Vertretung in Tel Aviv bleibe geöffnet.
Schon Ende 2023 hatte Martin Appelle der Linken ignoriert, die israelische Botschafterin Dana Erlich auszuweisen. Stattdessen empfing er Erlich auf der Jahrestagung seiner Partei und nahm selbst an einer offiziellen Reise nach Israel teil. Kürzlich kündigte er in seiner Eigenschaft als Regierungschef an, die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu übernehmen, die dazu tendiert, Kritik am Staat Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen.11
Auch die stärkste Oppositionspartei, Sinn Féin, wird von der Linken kritisiert: etwa weil sie trotz des laufenden Militäreinsatzes in Gaza 2024 einen Vertreter zu den Feierlichkeiten am St. Patrick’s Day im Weißen Haus schickte; oder auch wegen ihrer Nähe zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Im Februar 2024 hatte sich die PA-Repräsentantin in Irland an einer republikanischen Demonstration in Belfast beteiligt.
Dort, im immer noch britisch verwalteten Nordirland, scheint der Antiimperialismus geradezu greifbar. Derry – Londonderry für die Anhänger der englischen Krone –, die nach Einwohnerzahl zweitgrößte Kommune Nordirlands, ist eine geteilte Stadt. Am östlichen Ufer des Foyle liegt Waterside, der protestantische Teil, mit großer Mehrheit für die Union.
Auf der Westseite zeigt das katholische Bogside offen die Farben der Republik Irland. Mit dem Gazakrieg entstanden hier neue Organisationen – wie Sport4Palestine, die vor allem von Ultras des Derry FC und von jungen republikanischen Aktivist:innen getragen wird. Gemeinsam stellen sie seit einem Jahr symbolträchtige Aktionen auf die Beine und organisieren Solidaritätskonzerte für palästinensische und irische Gefangene.
Am 30. Januar gedenken die Katholiken Nordirlands des Bloody Sunday, an dem 1972 die britische Armee eine Demonstration in einem Blutbad enden ließ. In diesem Jahr stand der alljährliche Marsch ebenfalls im Zeichen Palästinas. „Widerstand ist kein Terrorismus“, war auf Transparenten zu lesen. Auf der Abschlusskundgebung sprachen Eamonn McCann, Überlebender des Bloody Sunday, und Farrah Kouteinneh, eine in Derry lebende palästinensische Autorin, über die Notwendigkeit radikaler Solidarität.
Überall in Bogside sieht man palästinafreundliche Graffiti. An einer Kreuzung sieht man auf einem Giebel einen palästinensischen Fedajin (Kämpfer) Arm in Arm mit einem Iren in Strumpfmaske.
Gary Donnelly, gewählter Stadtrat von Derry, leitet ein Gemeindezentrum im Arbeiterviertel Creggan, in dem er selbst aufgewachsen ist. Am Eingang steht neben den Spendenbüchsen für prorepublikanische politische Gefangenen auch eine für Gaza. Seit dem 7. Oktober 2023 haben die meisten politischen Aktionen Donnellys mit der Unterstützung Palästinas zu tun: mit der Durchsetzung außenpolitischer Sanktionen gegen Israel und einer Feuerpause.
Im April 2024 wurde er während einer Boykottaktion in einem örtlichen Supermarkt verhaftet. Donnelly betont, die Solidarität für das palästinensische Volk werde von der breiten Bevölkerung getragen. Unter den jungen Leuten, denen er bei seinen Auftritten in Schulen begegnet, herrsche Einigkeit: Wenn er sie frage, ob sie finden, dass Israel deutlicher bestraft werden sollte, antworten die Schülerinnen und Schüler fast ausnahmslos mit Ja. „Egal ob Katholiken oder Protestanten und egal aus welcher gesellschaftlichen Schicht.“
Donnelly und seine Mitstreiter gehören auch zu den „Neun von Raytheon“. Die Gruppe war im Sommer 2006 als Reaktion auf Israels Invasion im Libanon in die Fabrik des US-Rüstungskonzerns Raytheon (heute RTX) eingedrungen und hatte Computer und Server beschädigt.12
Donnelly erinnert gern daran, dass die Unterhändler des Karfreitagsabkommens über Frieden in Nordirland, David Trimble und John Hume, kurz nachdem ihnen der Friedensnobelpreis verliehen worden war, selbst den Rüstungsgiganten Raytheon nach Derry holten. Nach der zehn Jahre andauernden Kampagne des lokalen Antikriegsbündnisses verließ der Konzern schließlich 2010 die Stadt.13
Laut Gary Donnelly war Irland „ein Experimentierfeld für imperiale Aufstandsbekämpfungstechniken, wie sie heute in Palästina zur Anwendung kommen, insbesondere Maßnahmen zur geheimdienstlichen Aufklärung und Spaltung von Bewegungen.“
So könne man zum Beispiel die Situation von Sinn Féin und der palästinensischen Fatah durchaus miteinander vergleichen: „Beide wurden instrumentalisiert, um im nationalen Lager Zwietracht zu säen. Doch auch die Erfahrungen und Aktionsformen des Widerstands überschneiden und decken sich zum Teil: Hungerstreiks, Boykott und direkte Aktionen.“
Auf der anderen Seite der Stadt, im unionistischen Viertel, weht die israelische Fahne neben dem Union Jack.
5 Rory Miller, „Why the Irish support Palestine“, Foreign Policy, 23. Juni 2010.
9 Eoin Drea, „Ireland is trapped in its American dream“, Foreign Policy, 27. April 2023.
12 „Defence firm protesters arrested“, BBC News, 9. August 2006.
13 George Jackson, „Raytheon to close its plant in Derry“, The Irish Times, 14. Januar 2010.
Aus dem Französischen von Christian Hansen
Clara Menais ist Journalistin.