13.03.2025

Viel Energie und keinen Plan

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Viel Energie und keinen Plan

Paraguay ist zu abhängig von seinem Itaipú-Staudamm

von Nils Sabin

Itaipú-Staudamm CHRISTIAN PAUSCHERT/picture alliance/zoonar
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Asunción, die Hauptstadt von Paraguay, liegt an dem Fluss, nach dessen Namen („Wasser, das zum Wasser geht“) auch das Land benannt ist. Im Sommer kommt es regelmäßig zu Stromsperren. Auch in diesem Frühjahr schwächelt das Stromnetz, in die Knie gezwungen durch eine Hitzewelle. Ganze Viertel leiden immer wieder unter stundenlangem Blackout. Zwischen löchrigen Gehwegen bei dem rasenden Verkehr über die Straße zu kommen, ist eine Herausforderung. Und nachts macht es die gespenstische Beleuchtung nicht leichter.

Wie kann es sein, dass Paraguay, das im Verhältnis zur Einwohnerzahl weltweit am meisten erneuerbare Energie1 produziert, fast jedes Jahr in eine solche Situation gerät?

Derzeit ist der Grund für den Stromausfall eine Störung in der 350 Kilometer langen Hochspannungstrasse, die das Wasserkraftwerk von Itaipú („der singende Stein“ auf Guaraní) mit der Metropolregion Asunción verbindet. Diese Trasse ist das Rückgrat des paraguayischen Stromnetzes. Im Jahr 2023 stammten 87,5 Prozent der im Land genutzten Elektrizität aus dem Kraftwerk Itaipú mit seinen zwanzig 700-Megawatt-Turbinen; es ist das weltweit drittgrößte seiner Art.2 Wenn Paraguay etwas in großem Stil produziert, dann ist es – neben Soja und Rindfleisch – Strom. Außer Itaipú hat das Land noch zwei weitere Wasserkraftwerke, das von Yacyretá (mit 3200  Megawatt), das zur Hälfte Argentinien gehört, und das von Acaray (mit 210 Megawatt).

Itaipú ging im Jahr 1984 ans Netz. Es staut den Paraná, den Grenzfluss zum großen Nachbarn Brasilien, dem 50 Prozent der Anlage gehören. Der gigantische Staudamm mit seinen 7,7 Kilometern Länge und knapp 200 Metern Höhe wurde in siebenjähriger Bauzeit errichtet, bis zu 40 000 Menschen waren an den Arbeiten beteiligt. Ermöglicht wurde das Projekt und die Ausführung durch Brasilien, das schon seit den 1950er Jahren die Wasserenergie des Paraná hatte nutzen wollen.

1965, kaum ein Jahr nach dem Staatsstreich in Brasilien, der eine Militärdiktatur zur Folge hatte, besetzte die brasilianische Armee ein 20 Qua­drat­kilo­me­ter großes Gebiet auf paraguayischem Territorium, unter dem Vorwand, revolutionäre Kräfte zu bekämpfen. Angesichts steigender Spannungen schalteten sich die USA als Vermittler ein, und im Juni 1966 einigten sich die Diktatoren Paraguays und Brasiliens im Vertrag von Foz do Iguaçu. Es wurde vereinbart, eine gemeinsame Nutzung der Wasserenergie im Gebiet von Saltos de Guairá zu sondieren. Dies war der erste Schritt auf dem Weg zur Errichtung des späteren Staudamms.

Im Jahr 1973 unterzeichneten beide Seiten ein Abkommen, das den gemeinsamen Betrieb der künftigen Anlage regeln sollte. Das Projekt hatte einen binationalen Status, ein bis dahin einzigartiges juristisches Modell. Verfügt wurde, dass beide Länder je zur Hälfte Eigentümer der gesamten Anlage und der von ihr erzeugten Energie sind. Das von Brasilien besetzte Gebiet wurde geflutet. Für Paraguay, ein Land mit 2,3 Millionen Einwohnern, das nicht über die erforderlichen technologischen und finanziellen Kapazitäten für ein solches Projekt verfügt, war es eine einzigartige Gelegenheit. Für Brasilien nicht minder, denn der kleine Nachbar benötigte nur einen verschwindend kleinen Teil der erzeugten Energie.

Der Vertrag enthielt eine Klausel, den Annex C, der nach 50 Jahren nachverhandelt werden sollte und der die beiden Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtete, dem jeweils anderen die nicht genutzte Energie zu einem günstigen Preis zu verkaufen.3 Ein ausgezeichneter Deal für das riesige Bra­si­lien, das zwischen 1984 und 2017 rund 93 Prozent der in Itaipú erzeugten Energie verbrauchte. Im Gegenzug erhielt Paraguay eine Vergütung für jede überlassene Megawattstunde (MWh): Betrug der Preis anfangs zwischen 3,5 und 5 Dollar pro MWh, stieg er nach einer 2009 ausgehandelten Erhöhung auf 15,30 Dollar/MWh ab dem Jahr 2011.

Die paraguayische Wirtschaft beruht fast ausschließlich auf dem Export von Rohstoffen. 90 Prozent des Bodens sind in der Hand von 12 000 Großgrundbesitzern,4 die Steuerpolitik funktioniert nach einer einfachen 10er-Regel: 10 Prozent Mehrwertsteuer, 10 Prozent Einkommensteuer, 10 Prozent Unternehmensteuer – was Para­guay zu einem Steuerparadies mit extrem geringer Umverteilung macht. Selbst IWF und Weltbank empfehlen dem Land Steuererhöhungen.5

Das Kraftwerk als Cashcow

Das Wasserkraftwerk von Itaipú spielt dabei eine besondere Rolle, denn der Erlös aus der Stromerzeugung hat einen Anteil von 1 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (429 Millionen von 41,95 Milliarden Dollar im Jahr 2022). So, wie das Geld verwendet wird, dient das Kraftwerk als Cashcow– oder auch als Krücke. „Es ist auch oft von ‚Portokasse‘ die Rede, denn das Geld fließt nicht in den offiziellen Staatshaushalt und wird auch nicht vom Rechnungshof kontrolliert“, erklärt Ángeles Ferreira von „Itaipú ñane mba’e“ (Guaraní für „Itaipu gehört uns“). Diese Bürgerinitiative setzt sich für echte nationale Hoheit über das Wasserkraftwerk ein und für dessen Nutzung zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes.

Ein bedeutender Teil des Erlöses geht nämlich direkt an Gemeinden und Verwaltungsbezirke, die kaum Rechenschaft über deren Verwendung ablegen müssen. Die rechtskonservative Colorado-Partei, die in Paraguay seit 1947 fast ohne Unterbrechung regiert (ausgenommen die Regierungsjahre von Fernando Lugo, 2008–2012), geht seit jeher klientelistisch vor: Öffentliche Aufträge werden an ihre Anhänger vergeben, und von Colorado verwaltete Kommunen erhalten Extragelder. „Diebes­beute“, behauptet Mercedes Canese, die unter Präsident Lugo Ministerin für Bergbau und Energie war.

Aber die Erlöse aus den Kraftwerken sind auch eine finanzielle Krücke für den Staat. Die Dollarmillionen aus der Stromerzeugung ermöglichen so­zia­le Projekte, ohne dass deswegen die Steuern erhöht werden müssen. Anfang 2024 stellte die Regierung unter Santiago Peña mit großem Pomp das Programm „Hambre Zero en las Escuelas“ („Null Hunger in den Schulen“) vor. Die zu 80 Prozent mit Itaipú-Geld geförderte Initiative soll die Unterernährung lindern, von der drei von zehn paraguayischen Kindern betroffen sind. „Niemand kann etwas gegen ein solches Projekt haben“, sagt Án­ge­les Ferreira dazu, „aber es müsste durch Steuern finanziert werden und nicht durch temporäre Gewinne.“

Im Jahr 2022 haben die wichtigsten Wirtschaftsgüter des Landes, Soja und Rindfleisch, nur 1,4 Prozent zum gesamten Steueraufkommen beigetragen.6 Itaipú nimmt also wegen seiner enormen Bedeutung für Energiewirtschaft und Gesellschaft einen zentralen Platz im politischen Diskurs ein. Die Neuverhandlung von Annex C und die Debatte um den Preis für die Jahreskonzession an Brasilien sind ein Riesenthema. Der Staudamm gilt als „kulturelles Erbe Paraguays“, und jede Regierung weist darauf hin, mit welch großem Patriotismus sie die „energiepolitische Souveränität“ verteidigt.

Aber einen Dialog über das richtige Entwicklungsmodell für das Land hat es nie gegeben. Nur die linke Regierung von Fernando Lugo hatte die Neuverhandlung des Tarifs für die Konzession in ihrem Wahlprogramm stehen. „Wir gingen mit sechs Forderungen in die Verhandlungen, die öffentlich durch Bürgerbeteiligung ermittelt worden waren“, erinnert sich Ex-Ministerin Canese. „Die Bevölkerung diskutierte über das, was gerade verhandelt wurde, und war über die Fortschritte informiert.“

Auf brasilianischer Seite waren auch die Bewegung der Landlosen (MST) und der größte gewerkschaftliche Dachverband (CUT) involviert. Man muss sich das Klima jener Zeit in Erinnerung rufen: Mit der Wahl Lugos 2008 vollendete sich der Linksruck in Lateinamerika. Präsident Lula da Silva, der seine zweite Amtszeit absolvierte, strebte für Brasilien eine internationale Führungsrolle an, und großzügige Abmachungen mit dem kleinen Nachbarn waren da ein positives Signal. Brasilien erklärte sich nicht nur bereit, den Tarif für die Konzession zu verdreifachen, sondern beteiligte sich auch an der Finanzierung und dem Bau der Hochspannungsleitung zwischen Itaipú und Asunción. Kosten insgesamt: 450 Millionen Dollar.

Danach aber änderten sich die Zeiten: 2018 gewann Jair Bolsonaro die brasilianische Präsidentschaftswahl. Es wurde wieder hinter verschlossenen Türen verhandelt – und das nicht zum Vorteil für Paraguay. 2019 enthüllte die Presse ein Geheimabkommen mit Brasiliens Regierung, das Paraguay verpflichtet hätte, seinen Strom aus Itaipú zu einem höheren Preis abzunehmen, wodurch Mehrkosten in Höhe von jährlich 200 Millionen Dollar entstanden wären. Der Direktor der Nationalen Energieagentur (Ande) zog es vor, zurückzutreten, statt zu unterschreiben.

Neuverhandlungen mit Brasilien

Niemand verstand, wie eine so ungünstige Vereinbarung hatte zustande kommen können; Präsident Mario Abdo Benítez, der Vorgänger von Peña, entging nur knapp einer Amtsenthebung. Brasilien stimmte einer Neuverhandlung zu, die Vereinbarung wurde annulliert.

Heute, in der neuerlichen, dritten Amtszeit von Lula da Silva, ist das innenpolitische Kräfteverhältnis in Brasilien weniger günstig für den Präsidenten als 2009, besonders im Kongress. Der aber wird den neu verhandelten Vertrag absegnen müssen. Die Situa­tion ist zudem auch für das Wasserkraftwerk eine andere: Anfang 2023 waren die Kredite für den Bau vollständig abbezahlt. Wirtschaftsliberale Kreise in Brasilien machen sich dafür stark, den Konzessionstarif auf ein Minimum zu senken. Der einflussreiche Industrieverband von São Paolo (FIESP) schlug vor, ihn auf das Niveau der Produk­tions­kosten zu reduzieren.

Die offizielle Position der Regierung in Brasília ist nun, den Tarif so zu mindern, so dass die Stromentgelte zwar niedriger ausfallen, aber immer noch Investitionen in Umwelt und Gesellschaft erlauben. Das Bestreben von Paraguays Führung ist dagegen, ihn so hoch wie möglich zu halten, um mit den Gewinnen die eigene Cashcow-Politik fortsetzen zu können.

Im Mai 2024 stellte Präsident Peña eine „historische“ Vereinbarung in Aussicht. Der Konzessionstarif für das Wasserkraftwerk soll für die nächsten drei Jahre leicht angehoben werden. Das würde 1,25 Milliarden Dollar jährlich in die Staatskasse spülen. Der Clou an dem Abkommen aber sei, so Peña, die Erfüllung einer „historischen Forderung“: die direkte Vermarktung von Strom an Brasilien. „Diese Vereinbarung ändert strukturell gar nichts“, relativiert die Aktivistin Ferreira. „Paraguay wird drei Jahre lang etwas mehr Geld bekommen und hätte die – allerdings begrenzte – Möglichkeit, Elek­tri­zi­tät ans Nachbarland zu verkaufen, was ein Fortschritt wäre. Aber das ist noch lange keine Revolution.“

Tatsächlich sieht der vorletzte Punkt der Vereinbarung vor, dass beide Länder ab 2026 einen Tarif festlegen, der die Produktionskosten für die Stromerzeugung des Kraftwerks abbildet, wie von der brasilianischen FIESP vorgeschlagen. „Das heißt aber auch, dass nach 2026 kein Gewinn mehr fließt, oder zumindest ein sehr viel geringerer“, kommentiert Ferreira.

Über die Neuverhandlung des Annex C gibt es nur spärliche Informationen: „Wir wissen lediglich indirekt durch den Minister für Industrie und Handel, dass seitens der paragua­yi­schen Regierung versucht wird, bestimmte Sozial- und Umweltschutzmaßnahmen in die Produktionskosten des Staudamm-Stroms einzupreisen.“

Ex-Ministerin Canese und die Initiative „Itaipú ñane mba’e“ bedauern ausdrücklich den Mangel an Transparenz. Ihrer Ansicht nach müsste die Regierung eine öffentliche Debatte über die nationale Nutzung der Ressource Elektrizität in Gang setzen, die nachvollziehbar und ergebnisoffen geführt wird; und sie sollte für Paraguay das Recht einfordern, seine Ressourcen auf dem Weltmarkt frei anbieten zu können, was dem Staat geschätzt mehr als 3 Mil­liar­den Dollar jährlich einbrächte.7

Die nationale Agenda müsste außerdem die Energiewende im Blick behalten. Paraguay rühmt sich, über die sauberste Energieerzeugung der Welt zu verfügen, hat selbst aber nicht einmal eine elektrische Eisenbahn, und es gibt keinerlei Initiative, die E-Mobilität zu fördern. Der Anteil von Strom an der in Paraguay im Jahr 2023 insgesamt verbrauchten Energie lag gerade einmal bei einem Fünftel.

1 „Paraguay resalta como el mayor productor per cápita de energía limpia del mundo en 13ª Asamblea de la IRENA“, Außenministerium von Paraguay, 1. Februar 2023.

2 Nationaler Energie-Bericht 2023, Ministerium für öffentlichen Bau und Kommunikation, Asunción, April 2024.

3 ANEXO C: „Bases Financieras y de Prestación de los Servicios de Electricidad de ITAIPU“, Brasilia, 26.4.1973.

4 „Los dueños de la tierra en Paraguay“, Bericht von Oxfam, November 2016.

5 „FMI sostiene que hay argumentos validos para subir impuestos“, ABC, Asunción, 2.4.2023.

6 „Con la soja al cuello 2023“, Bericht über die Agrarwirtschaft in Paraguay, Base Investigaciones sociales, Asunción, Oktober 2023.

7 „Itaipú, Causa Nacional“, Bürgerplattform Demos, April 2019.

Aus dem Französischen von Christian Hansen

Nils Sabin ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.03.2025, von Nils Sabin