Mit der Pandemie regieren
von Théo Boulakia und Nicolas Mariot
Alle Staaten, die im Frühjahr 2020 mit der Coronapandemie konfrontiert waren, besaßen mehr oder weniger dieselben lückenhaften Informationen. Doch bei den politisch Verantwortlichen fielen die Reaktionen sehr unterschiedlich aus. Die einen entschieden sich für strenge Lockdowns, die anderen nicht. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?
Die absehbare oder bereits bestehende Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen hat vielerorts die Entscheidungen beeinflusst. Innerhalb Europas kam es in Italien, Frankreich und Spanien im Gegensatz etwa zu Dänemark schon früh zu massenhaften Ansteckungen. Als eines der ersten „Superspreader“-Events wird wohl das Champions-League-Fußballspiel Atalanta Bergamo gegen FC Valencia, das am 19. Februar 2020 in Mailand stattfand, in die Pandemiegeschichte eingehen.
Kurz darauf war Bergamo ein Corona-Hotspot. Unvergessen sind die Militärtransporter mit den Särgen, die in den Wochen danach in Kolonnen durch die Straßen der beschaulichen norditalienischen Stadt fuhren.

Die mehr oder weniger guten beziehungsweise mangelhaften medizinischen Ausgangsbedingungen sind jedoch nicht der einzige Faktor, der erklärt, warum die Coronamaßnahmen so uneinheitlich waren. Die Bilder, die damals in den Fernsehnachrichten ausgestrahlt wurden, suggerierten, dass sich wahrscheinlich über kurz oder lang das „chinesische Modell“ durchsetzen werde: Der weltweit erste sogenannte Infektionsherd Wuhan, die Hauptstadt der Provinz Hubei, stand mit seinen damals über 12 Millionen Einwohnern schon seit dem 23. Januar unter Quarantäne.
Dieses Narrativ verschleiert allerdings den Zusammenhang zwischen den Coronamaßnahmen und dem bisherigen Regierungshandeln. Tatsächlich wurden die Lockdowns in bestimmten Staaten politisch instrumentalisiert und als Deckmantel für Repressionen genutzt.
Auf den Philippinen beispielsweise übernahm Präsident Rodrigo Duterte in seinem langen „Krieg gegen das Virus“ die Rhetorik und Instrumente seines brutalen Antidrogenkriegs, den er gleich nach seinem Amtsantritt im Juni 2016 gestartet hatte.
In Uganda orientierte sich die von Präsident Yoweri Museveni verhängte Ausgangssperre an der militarisierten Anti-Virus-Strategie gegen Ebola, das seit Jahren immer wieder ausbricht. In Kolumbien setzten verschiedene Guerillagruppen ebenfalls Ausgangssperren durch, die an die Maßnahmen anknüpften, die sie schon im Kampf gegen die Regierung praktiziert hatten.
Und in Indien erstickte der unter dem hindunationalistischen Premierminister Narendra Modi verhängte Lockdown die Unruhen, die seit Ende 2019 als Reaktion auf die Änderung des Staatsbürgerrechts immer wieder aufflammten. Kritiker betrachten den Citizenship Amendment Act (CAA) zu Recht als Instrument der Diskriminierung von Muslimen. Er trat zwar schon Anfang 2020 in Kraft, doch aufgrund der Proteste und von Gerichtsklagen verzögerte sich dessen Anwendung bis zum 11. März 2024.
Im Libanon, wo seit Oktober 2019 Massendemonstrationen gegen die Regierung stattfanden, lösten im Frühjahr 2020 Polizei und Armee Protestcamps auf und bauten Barrikaden ab, während man der Bevölkerung zu verstehen gab: „Bleibt zu Hause.“
In Frankreich wiederum erinnerte der Gesundheitsnotstand in Teilen an den Ausnahmezustand, der nach den Terroranschlägen in Paris vom 13. November 2015 verhängt und immer wieder verlängert wurde. Er wurde erst am 18. Oktober 2017 aufgehoben, als das „Gesetz zur Stärkung der inneren Sicherheit und zur Bekämpfung des Terrorismus“ in Kraft trat, das einige Bestimmungen des Ausnahmezustands übernommen hat.1
Am 16. März 2020 ähnelten sich selbst die Reden des philippinischen und französischen Präsidenten auf verblüffende Weise. Rodrigo Duterte sagte: „Wir befinden uns im Krieg gegen einen bösartigen und unsichtbaren Feind, den man mit bloßem Auge nicht sehen kann. In diesem außergewöhnlichen Krieg sind wir alle Soldaten.“ Und Macron sagte: „Wir befinden uns im Krieg, in einem Gesundheitskrieg. Wir kämpfen weder gegen eine Armee noch gegen eine andere Nation, aber der Feind ist da – unsichtbar, ungreifbar – und er ist auf dem Vormarsch. Das erfordert unsere allgemeine Mobilmachung.“
Auch wenn die beiden Staatsoberhäupter ihre Worte sicherlich nicht aus den gleichen Beweggründen gewählt haben – für den Lockdown macht es keinen Unterschied, ob er autoritär oder fürsorglich motiviert ist.
Für die Reaktionen auf die Pandemie gibt es auch historische Gründe. So zeigt eine Studie, dass diejenigen Staaten, die auch in „normalen“ Zeiten repressiv agieren, am ehesten bereit waren, harte Lockdowns und Ausgangssperren durchzusetzen. Sie führten diese Maßnahmen auch relativ früh ein – gemessen an den ersten Covid-19-Fällen – und hielten sie länger aufrecht.
In Europa lässt sich diese Beobachtung an der Polizeistärke festmachen. So korrespondierte der Härtegrad des Lockdowns – gemessen an der Frequentierung von Grünflächen im Frühjahr 2020 – mit der relativen Anzahl von Polizisten und anderen Ordnungskräften: In Ländern mit einer höheren Zahl an Ordnungskräften hielten sich weniger Menschen unerlaubt in Parks und Grünflächen auf.
In dieser Hinsicht ähnelten sich süd- und osteuropäische Länder. Ihnen gegenüber stand die Gruppe der skandinavischen und deutschsprachigen Länder. Nun könnte man daraus schließen, dass Staaten mit vielen Ordnungskräften am besten in der Lage waren, die Ausgangssperren durchzusetzen. Aber die korrekte Interpretation erweist sich als viel einfacher: Politische Eliten, die daran gewöhnt sind, ohne Polizei zu regieren, haben sich dafür entschieden, ihre Bevölkerung nicht zu Hause einzusperren.
Global gesehen darf bezweifelt werden, dass die Lockdowns und die Ausgangssperren auf einer Politik der Fürsorge basieren. Restriktive Coronamaßnahmen sind weniger auf gute Absichten als vielmehr auf alte Gewohnheiten zurückzuführen, was sich beispielsweise an der Beziehung zwischen Polizei und Zivilgesellschaft ablesen lässt.
Als etwa die Ordnungskräfte in den Niederlanden, wo im Frühjahr 2020 die Rate der Bußgeldbescheide 28-mal niedriger war als in Frankreich, ein Verbot von Zusammenkünften mit mehr als zwei Personen durchsetzen mussten, geschah Folgendes: Im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen setzten die Niederländer auf Gespräche und Schlichtung; Strafen wurden nur als letztes Mittel eingesetzt. In der Praxis konnten sich die Menschen also weitgehend frei bewegen und sich auch auf Parkbänke oder Rasenflächen setzen, solange sie sich nicht zu mehreren versammelten.
Im April 2020 veröffentlichten die niederländischen Behörden ein „Handbuch für strategische Kommunikation zum Coronavirus“, das sich an Regierungsbeamte richtete. Darin wurden die Staatsbediensteten angehalten, in Dialogen mit den Bürgerinnen und Bürgern auf eine martialische Ausdrucksweise zu verzichten und nicht auf „Geboten und Verboten“ zu beharren, sondern die kollektive Anstrengung zur Bekämpfung des Virus in den Vordergrund zu stellen: „Alles beginnt und endet mit und durch die Beteiligung aller.“
Am 8. Mai lehnte der niederländische Premier Rutte eine Verschärfung der Regeln nach dem Vorbild einiger Nachbarländer energisch ab und erklärte: „Ich möchte nicht in einem solchen Land leben. Ich will nicht den Sheriff spielen.“
Der Regionalleiter einer niederländischen Sicherheitsbehörde stellte damals fest, dass ein Staat, der auf die Anwendung repressiver Maßnahmen angewiesen sei, ein „schwacher Staat“ sei. Selbst in Krisenzeiten bestehe die Rolle der Regierung nicht darin, die Bürger wie „nicht verantwortliche Kinder“ zu behandeln.
⇥Théo Boulakia und Nicolas Mariot
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Théo Boulakia und Nicolas Mariot sind Soziologen und Autoren von „L’Attestation. Une expérience d’obéissance de masse, printemps 2020“, Paris (Anamosa) 2023.