Der Körper als Metallstück
Über die De-Humanisierung der zivilen Opfer des Krieges
von Mathias Delori

Der Begriff „menschlicher Schutzschild“ ist ziemlich neu, die Praxis hingegen so alt wie der Krieg selbst. „Im 8. Jahrhundert“, so der Rechtswissenschaftler Neve Gordon und der Politologe Nicola Perugini, „nutzten die Chinesen ‚Barbarenstämme‘ an der türkisch-mongolischen Grenze als ‚Puffer‘, und die Mongolen machten bei ihren Eroberungszügen Gefangene zu Schutzschilden“.1
Heute verbietet das Völkerrecht solche Praktiken. In Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) heißt es, dass „die Benutzung der Anwesenheit einer Zivilperson oder einer anderen geschützten Person, um Kampfhandlungen von gewissen Punkten, Gebieten oder Streitkräften fernzuhalten“, ein Kriegsverbrechen darstellt und daher den beteiligten Parteien untersagt ist. Gemäß dem Völkergewohnheitsrecht gilt dieses Verbot auch für innerstaatliche bewaffnete Konflikte.2
Beim aktuellen Kriegsgeschehen im Nahen Osten wird diese Art von Missbrauch der Zivilbevölkerung erneut praktiziert. So rechtfertigt die israelische Regierung die hohe Zahl der zivilen Todesopfer in Gaza mit dem Hinweis, die Hamas benutze „menschliche Schutzschilde“, um ihre Kämpfer zu decken – ist aber diesem Vorwurf selbst ausgesetzt.3 Die deutsche Außenministerin hat die israelische Rechtfertigung implizit übernommen, als sie erklärte: „Zivile Orte können ihren Schutzstatus verlieren, weil Terroristen diesen missbrauchen.“4
Natürlich haben palästinensische Kämpfer mitten in Wohngebieten operiert, schon aufgrund der extrem hohen Bevölkerungsdichte im Gazastreifen. Der Begriff „menschlicher Schutzschild“ setzt jedoch die bewusste Absicht voraus, die Zivilbevölkerung zur Abschreckung zu nutzen. Human Rights Watch berichtet von mindestens zwei Situationen, in denen sich Hamas-Kämpfer bei den Angriffen am 7. Oktober 2023 gezielt hinter israelischen Zivilpersonen versteckt haben.5
Allerdings wurden ähnliche Vorwürfe, die von Israel in früheren Gazakriegen erhoben hatte, in späteren Untersuchungsberichten entkräftet.6 Das gilt auch für das jüngste Geschehen in Gaza: „Heute wissen wir“, schreiben Nicola Perugini und Neve Gordon, „dass Israels Behauptungen, die Hamas habe ihr Hauptquartier unter dem Al-Schifa- und dem Al-Quds-Krankenhaus eingerichtet, erfunden waren und dazu genutzt wurden, Angriffe auf diese Krankenhäuser moralisch und juristisch zu rechtfertigen.“ Im Übrigen argumentieren Perugine und Gorden, die Strategie der „menschlichen Schutzschilde“ sei nur dann sinnvoll, wenn der Gegner sich „moralisch verpflichtet fühlt, den Angriff abzubrechen, um die Zivilperson, die als Schutzschild dient, nicht zu verletzen“.7 Es gibt jedoch zahlreiche Berichte, wie wenig Rücksicht die israelische Armee auf Menschenleben genommen hat, sodass sogar von einem Genozid im Gazastreifen die Rede ist.8

Mehr Tote durch KI-Einsatz
Entgegen einer gängigen Vorstellung verbietet das Kriegsrecht nicht generell, Zivilisten zu töten. Wohl aber präzisiert es, unter welchen Umständen dies zulässig ist. Generell darf man Zivilpersonen per se nicht unter Beschuss nehmen, und die zivilen Opfer dürfen „im Vergleich zum erwünschten militärischen Vorteil“ nicht „unverhältnismäßig“ sein.9
Ob das Prinzip der Verhältnismäßigkeit tatsächlich gewahrt ist, wird mit dem sogenannten NCV erfasst. Dieser „non-combatant casualty value“, der von jeder Kriegspartei festgelegt wird, bestimmt die Zahl der Zivilpersonen, deren Leben gefährdet werden darf, um ein militärisches Ziel zu zerstören. Nach dieser Vorgabe muss jeder Drohnen- oder Kampfflugzeugpilot die möglichen „Kollateralschäden“ eines Angriffs abwägen, der nur durchgeführt werden darf, wenn der NCV-Wert eingehalten wird.
Die israelische Armee setzt den NCV seit Oktober 2023 sehr hoch an. Er liegt bei 15 Zivilpersonen, wenn das Ziel des Angriffs ein einfaches Hamas-Mitglied ist; bei einem führenden Hamas-Kader werden bis zu 100 zivile Opfer in Kauf genommen. Die Berechnung erfolgt durch ein KI-Programm namens „Lavender“.10 Zum Vergleich: Im Luftkrieg der U.S. Air Force gegen den Islamischen Staat (IS) lag der NCV fast bei null für einfache Dschihadisten und zwischen 5 und 10 für Angriffe auf IS-Kader.11
Die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreifen ist auch deshalb so hoch, weil die israelische Armee ihre Fähigkeit, militärische Ziele zu identifizieren, mittels KI entscheidend verbessert hat. Ein Ex-Generalstabschef der israelischen Streitkräfte hat wissen lassen, dass das israelische Militär vor Einführung der KI mit der alten Aufklärungstechnik nur etwa 50 Ziele pro Jahr identifizieren konnte. Die neue Technik bietet rund 100 Ziele – pro Tag. Die extrem hohe Todeszahl im Gazakrieg – nach manchen Schätzungen über 180 000 Menschen – geht offensichtlich auf diesen revolutionären „Fortschritt“ zurück.12
Seit dem weltweiten „Krieg gegen den Terror“ in den nuller Jahren hat sich die juristische Diskussion ebenso verändert wie die Rahmenbedingungen für Militäreinsätze. Das seit 2015 gültige „Martial Law Manual“, das Kriegsrechtshandbuch des US-Verteidigungsministeriums, gestattet eine höhere Zahl ziviler Opfer für den Fall, dass der Gegner diese zum eigenen Schutz missbraucht. Damit will man den Gegner von solchen Praktiken abschrecken.
Der US-amerikanische Jurist Adil Ahmad Haque hat schon vor Verabschiedung des Manuals eingewandt, dass die rechtlichen Verpflichtungen in einem bewaffneten Konflikt nicht vom Verhalten der anderen Seite abhängen dürfen.13 Dem hielt Charles Dunlap, ein Rechtsberater der U.S. Air Force, das Argument entgegen, die fragliche Bestimmung würde wegen ihrer abschreckenden Wirkung gerade auch der Zivilbevölkerung zugutekommen.14
Allerdings hat eine solche Argumentation, die strategische und humanitäre Überlegungen vermischt, Auswirkungen auf die Praxis, aber auch auf das Kriegsrecht selbst. Das bezeugt etwa Daniel Reisner, ehemals Leiter der Rechtsabteilung der israelischen Armee, mit seinem lakonischen Befund: „Wenn Sie etwas lange genug machen, dann wird die Welt es auch akzeptieren.“15
Die Überzeugung, die Hamas missbrauche palästinensische Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde, ist heute im israelischen Militär wie in der Gesellschaft allgemein verbreitet. Daraus werden allerdings unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen, was das künftige Schicksal der Gaza-Palästinenser betrifft.
Auf der einen Seite stehen die offenen Befürworter einer kompletten Vertreibung, auf der anderen Seite diejenigen, die eine solche „ethnische Säuberung“ aus ethischen oder humanitären Gründen ablehnen. Beide Seiten sind sich jedoch weitgehend einig über die Notwendigkeit eines „totalen Kriegs“ gegen die Hamas, also über eine Strategie, die eine „Entmenschlichung“ der palästinensischen Bevölkerung voraussetzt.
Vor 15 Jahren hat die Philosophin Judith Butler aufgezeigt, wie sehr der Begriff „menschlicher Schutzschild“ das Mitgefühl neutralisieren kann, das man unter anderen Umständen für unschuldige Gewaltopfer empfinden würde. „Wir sollen glauben, dass diese Kinder nicht wirklich Kinder, nicht wirklich lebendig sind, sondern dass sie bereits zu Stahl geworden sind.“ Das bedeute aber, dass man „den Körper eines Kinds lediglich als militarisiertes Metallstück wahrnimmt, das den Angreifer gegen eine Attacke schützt“.16
Die Entmenschlichung, die mit dem Begriff „menschlicher Schutzschild“ einhergeht, hat jedoch immer wieder gewaltfreien Widerstand hervorgerufen, auch von Künstlerseite. Ein Beispiel ist die Komposition des irakischen Oud-Spielers Naseer Shamma mit dem Titel „It happened at al-Amiriya“.17 Shamma lebte am 13. Februar 1991 in Bagdad, als die U.S. Air Force den öffentlichen Schutzraum im Viertel al-Amiriya bombardierte.
Am folgenden Tag erklärte das Pentagon, dort habe sich eine Kommandozentrale befunden. Und die mindestens 408 Zivilpersonen, die bei dem Angriff getötet wurden, seien als Schutzschilde missbraucht worden.
4 Siehe taz, 14. November 2024.
6 Siehe etwa: „Israel/Gaza, operation cast lead“, Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).
8 Siehe Akram Belkaïd, „Genozid-Vorwürfe mehren sich“, LMd, Januar 2025.
15 Zitiert in: Uri Blau und Yotam Feldman, „Consent and advice“, Haaretz, 29. Januar 2009.
16 Judith Butler, „Frames of War“, Introduction to the Paperback Edition, London (Verso) 2010.
17 Naseer Shamma, „Le Luth de Bagdad“, Sansblanc, Harmonia Mundi, 1999.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Mathias Delori ist Politologe, Historiker und Autor von „Ce que vaut une vie. Théorie de la violence libérale“, Paris (Éditions Amsterdam) 2021.