Die serbische Revolte
Der Protest gegen den tödlichen Pfusch am Bahnhofsbau von Novi Sad war der Beginn eines landesweiten Aufruhrs
von Ana Otasević

Am 19. März 2022 empfing der serbische Präsident Aleksandar Vučić seinen „engen Freund“ Viktor Orbán aus Ungarn, um den ersten Abschnitt der Bahnstrecke Belgrad–Budapest einzuweihen. Auf dieser sollen künftig Schnellzüge mit einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern fahren. Im Juli 2024 eröffnete Infrastrukturminister Goran Vesić feierlich den frisch sanierten Bahnhof von Novi Sad. Doch schon am 1. November stürzte das Vordach ein, 15 Menschen starben.
Der Ingenieur Zoran Đajić war bis März 2023 mit der Bauaufsicht betraut. Er hatte weitere Baumaßnahmen gefordert, die aber abgelehnt wurden: „Es hieß, das sei nicht rentabel, weil es die Bauzeit verlängert. Ich habe meinen Vertrag aufgelöst, weil ich unter diesen Bedingungen nicht weitermachen wollte.“
Đajić war von der serbischen Firma Starting angeheuert worden, der in diesem Sanierungsprojekt größten Subunternehmerin der China Civil Engineering Construction Corporation (CCECC). Als die Vereinbarung im November 2021 getroffen wurde, belief sich das Auftragsvolumen der CCECC auf 1,9 Millionen Euro, bei Vertragsunterzeichnung im Juli 2022 erhöhte es sich auf 5,1 Millionen.
„Laut Plan sollten die oberen Dachschichten leichter werden“, erklärt Đajić. „Doch man hielt sich nicht daran; Starting ließ sogar noch mehr Beton und Glas anbringen und belastete das Vordach mit zusätzlichen 23 Tonnen.“
Dennoch erklärte die serbische Regierung nach dem Einsturz, das Vordach sei gar nicht saniert worden. Während unseres Interviews in einem Belgrader Café treten Menschen an unseren Tisch und bedanken sich bei Đajić. Von den etwa 150 Beschäftigten des Bauprojekts war Đajić der Einzige, der sich öffentlich zu Wort gemeldet hat. „Mich rufen Leute an und sagen, sie hätten Angst um ihre Familie und müssten den Mund halten. Sie wundern sich, dass ich noch am Leben bin“, erzählt er lächelnd.
Die Modernisierung der Bahnstrecke nach Budapest und die Sanierung des Bahnhofs in Novi Sad waren Teil eines 2013 mit China abgeschlossenen Vertrags. Um seinen Anteil zu finanzieren, erhielt der serbische Staat einen Kredit über 1,2 Milliarden Euro von der chinesischen Exim-Bank. 46 Prozent davon sollten an serbische Baufirmen und Materiallieferanten gehen. Die Firma Starting wurde ohne Ausschreibung beauftragt, obwohl sie keine Erfahrung in diesem Bereich vorzuweisen hatte, so wie viele der insgesamt 200 beteiligten Subunternehmen.
Die Gesamtleitung wurde dem ungarischen Unternehmen Utiber überlassen; insgesamt waren an dem für das Bahnprojekt gebildeten Konsortium sechs Firmen beteiligt, darunter der französische Konzern Egis. „Die Preise lagen 50 bis 200 Prozent über dem Marktpreis“, berichtet Đajić. „Die Chinesen schlugen bei ihrer Rechnung noch mal 12 Prozent drauf.“ Zwei Egis-Ingenieure, die die Arbeiten kontrolliert haben, wurden gemeinsam mit neun weiteren Verdächtigen festgenommen. Auf unsere Nachfrage bestätigte die Konzernsprecherin von Egis, Isabelle Mayrand, dass zwei Angestellte wegen der Ermittlungen seit über vier Monaten festgehalten würden, aber „keine Anklage gegen sie erhoben“ worden sei.
Fünf Tage nach dem Unfall trat Minister Vesić zurück, und es kam zu der ersten Massendemonstration in Novi Sad. Jeden Freitag um 11.52 Uhr – am Wochentag und zur Uhrzeit der Katastrophe – blockierten Protestierende danach monatelang den Verkehr und hielten 15 Schweigeminuten für die 15 Opfer ab.
Nichts anderes taten am 22. November auch Studierende und Lehrende vor dem Fachbereich für Darstellende Künste (FDU) in Belgrad, als sie plötzlich brutal angegriffen wurden. „Die Polizei war vor Ort und ließ mehrere Autos durch“, berichtet Professor Milan Stojanović. „Die Insassen haben uns zunächst beschimpft, dann körperlich angegriffen. Zivilbeamte filmten die Szene, ohne einzugreifen.“
Laut den Ermittlungen waren unter den Angreifern auch Funktionäre der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS). „Bei unseren Schweigeminuten gab es häufig Zwischenfälle“, erzählt die FDU-Studentin Mina. Aber die Demonstrierenden ließen sich nicht einschüchtern, und die Protestzüge wurden immer größer. „Die Menschen haben sich stark mit den Opfern identifiziert, denn es hätte jeden treffen können“, meint Mina.
Dabei sei es von Anfang an nicht darum gegangen, Präsident Vučić zu stürzen, erklärt die Studentin: „Wir verlangen lediglich, dass die staatlichen Institutionen ihre Aufgaben erfüllen.“ Die Forderungen der Studierenden lassen sich in wenigen Punkten zusammenfassen: Veröffentlichung aller relevanten Unterlagen und finanziellen Verbindungen zur Sanierung des Bahnhofs; Strafverfolgung der für den Einsturz Verantwortlichen und derjenigen, die Demonstrierende angegriffen haben; Freilassung der festgenommenen Demonstrant:innen und Senkung der Studiengebühren um die Hälfte.
Nachdem mehrere junge Demo-Ordnerinnen angefahren und dabei schwer verletzt wurden und SNS-Mitglieder in Novi Sad mit Baseballschlägern auf eine Studentin losgegangen waren, rollte der nächste Kopf: Am 28. Januar musste auch Premierminister Miloš Vučević seinen Hut nehmen. Doch weil sein Rücktritt nichts an dem grundlegenden Problem ändert, gingen die Proteste weiter. Am 3. März erreichten sie das Parlament, wo eine Debatte über die Hochschulfinanzierung in tumulthafte Auseinandersetzungen mit Rauchbomben und Bengalos eskalierte. Die Opposition fordert nach Vučević’ Rücktritt die Bildung einer Übergangsregierung zur Vorbereitung freier und fairer Wahlen.
„Investitionen in die Infrastruktur sind eine Quelle der Korruption“, erklärt der Wirtschaftsprofessor Ognjen Radonjić. „Doch dabei gibt es ein Paradox: Je höher die Baukosten, desto stärker wächst unser Bruttoinlandsprodukt.“ Zahlreiche laufende Großprojekte, darunter auch der Bau der Belgrader U-Bahn, beruhen auf zwischenstaatlichen Abkommen und Sondervorschriften, die beispielsweise Ausschreibungsregeln außer Kraft setzen.1
Diese Strategie, die ausländische Investoren anlocken soll, treffe jedoch auf mangelnde Fachkenntnis vor Ort, erklärt Radonjić: „Wir konzentrieren uns auf ausländische Direktinvestitionen im Niedrigtechnologiesektor und bieten billige Arbeitskräfte. Doch Serbiens Wirtschaft ist ineffizient, von großen Ungleichheiten und massiver Auswanderung gekennzeichnet.“
Erschwert wird die Korruptionsbekämpfung dadurch, dass mit China keine Abmachungen zur Zusammenarbeit in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten getroffen wurden: „Das bedeutet, dass sie uns gegenüber nicht rechenschaftspflichtig sind“, erklärt die Staatsanwältin Bojana Savović, die kürzlich von der Korruptionsverfolgung abgezogen wurde.

Gegenpropaganda der Regierung
„Wenn die Verfahren intransparent sind und Subunternehmen ohne Ausschreibung beauftragt werden, ohne dass sich jemand dafür rechtfertigen muss, dann ist das Korruption auf höchstem Niveau“, sagt sie. „Korruption kann auf unterschiedliche Weise töten. Das haben wir bei dem schweren Zugunfall 2023 in Griechenland oder dem Erdrutsch im Oktober 2024 in Bosnien und Herzegowina gesehen. Jetzt erleben wir es hier bei uns.“2
Präsident Vučić war vor zwölf Jahren mit dem Versprechen angetreten, gegen die Veruntreuung öffentlicher Mittel vorzugehen. Heute regiert er ein Land, das im Ranking von Transparency International Platz 105 von 180 belegt.3 Auch wenn solche Indexe stets mit Vorsicht zu betrachten sind, „befindet sich der Kampf gegen die Korruption auf historisch niedrigstem Niveau, ebenso wie die Pressefreiheit“, meint Savović.
Aleksandar Vučić war früher Mitglied in der rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei (SRS).4 1998 ernannte Präsident Slobodan Milošević den 28-jährigen Nachwuchspolitiker in seiner neuen „Regierung der nationalen Einheit“ zum Informationsminister. Damals ließ Vučić ein Gesetz verabschieden, das die Schließung von Medien und die Verfolgung von Journalist:innen erleichterte.
Seit Beginn der aktuellen Proteste behaupten die SNS-nahen Medien, Studierende würden dafür bezahlt, Vučić zu stürzen. Das staatliche Fernsehen RTS wiederholte diese falschen Anschuldigungen, woraufhin 50 000 Menschen vor dem Gebäude des Senders demonstrierten, darunter auch RTS-Beschäftigte. „Die Reportagen, die ich gemacht habe, wurden nie gesendet“, berichtet Milan Srdić, Studioleiter in Novi Sad. „Ich konnte nicht schweigen, ich habe als Journalist und als Bürger von Novi Sad gehandelt.“
Und was machen Europas Regierungen? Sie übergehen die aktuellen Demonstrationen genauso wie zuvor schon die Proteste gegen die giftige Ausbeutung serbischer Rohstoffe. Im letzten Sommer reiste erst Bundeskanzler Olaf Scholz, dann der französische Präsident Emmanuel Macron nach Belgrad, um die „europäische Verankerung“ Serbiens zu bekräftigen und für ein Kooperationsabkommen mit der EU zum Import „kritischer Rohstoffe“ – vor allem Lithium5 – zu werben.
„Es bleibt nichts übrig von den Werten, die diese Länder vorgeblich verteidigen“, kommentiert die Staatsanwältin Savović. „Wir hatten uns an diese Verlogenheit ja schon gewöhnt, aber jetzt erreicht sie wirklich einen neuen Höhepunkt. Deshalb schwenken die Demonstrierenden auch keine europäischen Fahnen mehr, sondern nur noch serbische.“
Zuerst unterstützten Professorinnen und Rektoren die Forderungen der Studierenden, dann schlossen sich Lehrkräfte von Grund- und Oberschulen an, und schließlich kamen sie aus den verschiedensten Milieus und Branchen– vom Bergbau bis zum Taxigewerbe. An fast 300 Orten gab es Versammlungen, insgesamt protestierten mehrere hunderttausend Menschen. Ausgangspunkt der Proteste waren die Vollversammlungen an den Unis, wo alle Entscheidungen basisdemokratisch getroffen werden. Diese Organisationsform hatte sich bei früheren Studierendenprotesten auf dem Balkan etabliert, bei denen es hauptsächlich um die Verbesserung der Studienbedingungen ging.
Ein Streikhandbuch von 2009, das nach Protesten in der kroatischen Hauptstadt Zagreb verfasst wurde, dient jetzt den serbischen Studierenden als Vorlage. Was die Präsidentin der Nationalversammlung Ana Brnabić aufgriff, um zu behaupten, bei den Protesten handele es sich in Wahrheit um eine Operation des kroatischen Geheimdienstes.
Die Vorwürfe gegen ausländische Einmischungen können jedoch kaum verfangen, wenn der Präsident selbst an der Seite des US-amerikanischen Botschafters neue Infrastrukturbauten einweiht. Oder wenn seine Regierung plant, Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner das Gelände des ehemaligen jugoslawischen Generalstabs, das 1999 von der Nato bombardiert wurde, zu überlassen, um dort ein Luxushotel zu errichten.6
Für die Studierenden ist es wichtig, dass ihre Bewegung unabhängig ist und nicht von der Politik gekapert wird. Bei einer Vollversammlung an der Philosophischen Fakultät erklärte ein Student: „Wir wollen eine Reform des Systems und keine Palastrevolution.“ Diese Distanz sorgt dafür, dass ihr Kampf auch von breiteren Gesellschaftsschichten unterstützt wird.
Die Studierenden wollen die Fehler der großen Proteste der 1990er Jahre vermeiden, als die Führer der Otpor-Bewegung schließlich in die Parteien eintraten, die 2000 nach dem Sturz Miloševićs die Macht übernahmen. Manche von ihnen wurden später wegen Korruption angeklagt, andere bedienten mehr oder weniger bewusst die Interessen der US-Außenpolitik, die in den ehemaligen Sowjetrepubliken Regime Changes herbeiführen wollte.7
Die Studierenden achten besonders darauf, dass sich keine Führungspersönlichkeiten herausbilden. Damit die großen, regierungsnahen Medien niemanden zur Zielscheibe machen können, schicken sie wechselnde Personen zu Pressekonferenzen. Doch auch westliche Medien, die die Proteste lediglich als Annäherungsversuche an den Westen betrachten und damit für viel Unmut sorgen, werden misstrauisch beäugt. In der Tat gibt es die Tendenz, die Proteste in Georgien, in der Slowakei und in Serbien als Teil einer großen, gegen Russland gerichteten Bewegung darzustellen.
Am 15. Februar wird in Serbien der Jahrestag des Aufstands gegen die Osmanen begangen, der 1835 in die Verabschiedung der ersten Verfassung mündete. Zum diesjährigen Nationalfeiertag versammelten sich Zehntausende im zentralserbischen Kragujevac. Studentengruppen aus Belgrad, Novi Sad und anderen Städten waren auf Fußmärschen von bis zu vier Tagen nach Kragujevac gewandert. Sie machten auch Station in Orašac, wo 1804 der antiosmanische Aufstand begann. Als sie die Route auf der Vollversammlung der Philosophischen Fakultät planten, rief ein Student: „Kehren wir zu den Wurzeln unserer Demokratie zurück.“
1 Siehe „Eine Metro für Belgrad“, LMd, August 2022.
3 „2024 Corruption Perceptions Index“, Transparency International, 11. Februar 2025.
4 Siehe Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Brüssels Liebling“, LMd, März 2020.
5 Siehe Saša Dragojlo und Ivica Mladenović, „Lithiumhunger“, LMd, September 2022.
7 Siehe „Friedliche Faust“, LMd, Dezember 2019.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Ana Otašević ist Journalistin und Regisseurin und lebt in Belgrad.