07.05.2025

China am längeren Hebel

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China am längeren Hebel

Peking hat sich seit langem auf eine Eskalation im Handelskrieg mit den USA vorbereitet. Dank Trump kann es sich nun als Garant der globalen Wirtschaftsordnung geben. Allerdings muss China seinen Handelsbilanzüberschuss reduzieren, um nicht andere Partner zu verärgern und in den Protektionismus zu treiben.

von Renaud Lambert

Im Hafen von Yantai, China picture alliance/cfoto
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Inmitten des „Trump Storm“, der mit der Amtsübernahme des 47. US-Präsidenten über die Welt hereingebrochen ist, wirken die Staats- und Regierungschefs des Alten Kontinents bisweilen wie seekranke Kreuzfahrttouristen, die sich auf Deck an der Reling festklammern. Ganz anders Chinas Kommunistische Partei (KPCh): Sie gibt den Kapitän auf der Kommandobrücke, der den Horizont fest im Blick behält.

Am 2. April 2025 verhängte der US-Präsident unter Berufung auf eine „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ – am Kongress vorbei – Zölle gegen fast alle Länder der Erde. Die Größenordnung kam für die Weltgemeinschaft überraschend – nicht aber für die KPCh, wenn man der Parteizeitung People’s Daily glauben will. Die schrieb in ihrem Leitartikel vom 6. April 2025: „Nach Einschätzung der internationalen Märkte fiel der Zollangriff der USA heftiger aus als erwartet, aber das Zentralkomitee der Partei hatte das neue Maßnahmenpaket vorausgesehen.“

Die gegen China verhängten Zölle von zunächst 34 Prozent addierten sich mit den bereits geltenden Zöllen im Durchschnitt auf über 70 Prozent. Die Entscheidung Trumps werde sich zwar auf Chinas Wirtschaft auswirken, wird in dem Leitartikel eingeräumt, „aber der Himmel wird uns nicht auf den Kopf fallen“.

Peking revanchierte sich, indem es die chinesischen Einfuhrzölle erhöhte, den Export gewisser seltener Erden einschränkte, die insbesondere für die Luft- und Raumfahrtindustrie der USA wichtig sind, und 15 weitere US-Firmen auf eine Exportkontrollliste für Dual-use-Güter setzte.

Damit begann ein chinesisch-amerikanischer Schlagabtausch wechselseitiger Sanktionen, der die Finanzmärkte in Angst und Schrecken versetzte. Anfang April fiel der Aktienindex S&P 500, der die Kurse der 500 wichtigsten börsennotierten US-Unternehmen abbildet, binnen drei Tagen um mehr als 10 Prozent. Laut BBC war dies „ein fast so abrupter Kurssturz wie während der Finanzkrise von 2008 und zu Beginn der Pandemie 2020“.1

Pekings Taktik des Schweigens

Während Trumps Milliardärs­freunde ihm nahelegten, sein Vorgehen zu überdenken, und die Zinsen auf die US-amerikanischen Staatsanleihen – die als sichere Anlage par excellence gelten – in die Höhe schossen, tönte der Präsident: Seine Strategie zeige Erfolg, denn Regierungschefs aus aller Welt würden bei ihm anrufen und ihm „den Hintern küssen“, um Verhandlungen zu erbitten.2 Daraufhin verfügte Trump am 9. April 2025 eine 90-tägige Zollpause, in der für alle Länder ein universeller Zollsatz von 10 Prozent gelten soll. Mit Ausnahme von China, weil Peking „die Finanzmärkte missachtet“ habe. ­Deshalb erhöhte er die Zölle für chinesische Produkte auf absurde 145 Prozent.

Peking ließ verlauten, diese Eskalation sei bedauerlich, mache China aber keine Angst: „Wir provozieren keine Konflikte, aber wir lassen uns von ihnen auch nicht einschüchtern“, erklärte die chinesische Regierung am 5. April 2025 in einer offiziellen Stellungnahme. „Wir befinden uns seit acht Jahren in einem Handelskrieg mit den USA und haben entsprechend viel Erfahrung“, hieß es in einem Leitartikel von People’s Daily.

China hat doppelt vorgesorgt. Es hat nicht nur den Exportanteil seiner Volkswirtschaft zurückgefahren, in der Zeit von 2005 bis 2022 nach Angaben der Weltbank von 33 auf etwa 20 Prozent. Zugleich hat es auch seine Abhängigkeit vom US-Absatzmarkt verringert: Zu Beginn der ersten Trump-Administration gingen noch 19,2 Prozent aller chinesischen Exporte in die USA; 2014 waren es nur noch 14,7 Prozent.

Im gleichen Zeitraum stiegen die chinesischen Exporte in die Asean-Staaten (Verband Südostasiatischer Nationen) von 12,8 auf 16,4 Prozent der Gesamtausfuhren; und in Pekings Partnerländer im Rahmen der Neuen Seidenstraße von 38,7 auf 47,8 Prozent. „Ein Rückgang der US-amerikanischen Importe“, folgerte People’s Daily, „wird sich auf unsere Wirtschaft nicht verheerend auswirken.“

Aus der Sicht Pekings sind die Folgen für die US-Wirtschaft gravierender.3

Denn die ist von chinesischen Konsum­gütern, Zwischenprodukten und seltenen Erden abhängig. Entsprechend gefährlich ist jeder Abkopplungsversuch: „Nehmen wir zum Beispiel die Pharma­indus­trie“, schrieb der Geopolitik-Experte Arnaud Bertrand am 5. April auf X. „Wie soll die Herstellung dieser Produkte in die USA zurückverlagert werden, solange China die weltweite Versorgung mit wichtigen Wirkstoffen und vielen Vorprodukten dominiert?“

Laut Bertrand kann man natürlich versuchen, die Produktion zurückzuholen, aber das erfordere Spezialanlagen, die ebenfalls zum großen Teil in China gefertigt werden: „Man könnte beschließen, auch die Fertigung dieser Spezialanlagen zurückzuholen, aber dazu brauche man bestimmte Mate­ria­lien, bei deren Herstellung wiederum China führend ist.“

Wang Huiyao, Präsident der staatsnahen Pekinger Denkfabrik „Center for China and Globalization“, kommt zu dem Schluss, dass die USA „sich selbst ins Knie geschossen haben“.4 So sieht es auch das Wall Street Journal. Nach Trumps „Zoll-Rundumschlag“, hieß es im Leitartikel vom 4. April, stehe der Sieger bereits fest: Chinas Präsident Xi Jinping.

In den sozialen Netzwerken lästern chinesische nationalistische Kreise, die Regierung in Peking habe sich – um zu gewinnen – nur an die Taktik „yǐ jìng zhì dòng“ erinnern müssen, was so viel bedeutet wie „Nichtstun als Reak­tion“.

Noch besser passt zu den Entwicklungen der letzten Wochen das Erfolgsrezept: „Gewinnen, ohne einen Finger krumm zu machen“. Obwohl sich die Führung in Peking entschlossen gibt, „bis zum Ende zu kämpfen“5 , ist die aktuelle geopolitische Krise in der herrschenden chinesischen Wahrnehmung vor allem eine Krise, mit der sich die USA „selbst ins Chaos stürzen“ (China Daily,19. März 2025).

„In den USA findet im Stillen ein Bürgerkrieg statt“, hieß es schon in einer Analyse des chinesischen Außenministeriums vom März 2023. „Hinter den Republikanern und den Demokraten stehen zwei diametral entgegengesetzte Bevölkerungsgruppen, die sich im Grunde verhalten wie zwei Konföderationen unter der gleichen Regierung.“6 Die Feststellung erinnert an die Formulierung „America Against America“ – Titel der 2022 publizierten englischen Ausgabe eines Buchs, das der junge Wissenschaftler Wang Huning bereits 1991 verfasst hat.

Heute sitzt Huning im siebenköpfigen Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem höchsten Parteigremium der KPCh. Sein Buch ist eine harsche Kritik der durch Individualismus, soziale Ungleichheit und Rassismus ausgehöhlten US-Demokratie und ein Grundlagentext der „neoautoritären“ Strömung, deren Vertreter in Trumps Wahlerfolg ein Krankheitssymptom der US-amerikanischen Gesellschaft sehen. Und einen Beleg dafür, dass zen­tra­li­sier­te Regime den liberalen Demokratien überlegen seien.

Auf dem Webportal China Academy, das dieser politischen Strömung nahesteht, erschien am 7. November 2024 ein Beitrag unter dem Titel: „Chinas Akademiker lehnen sich entspannt mit einer Tüte Popcorn zurück und schauen sich die US-Wahlen an“. In dem Text schildert der medial sehr präsente Intellektuelle Zhang Weiwei, dessen Bücher den KPCh-Mitgliedern als Lektüre empfohlen werden, dass die chinesischen Intellektuellen Trumps Revival recht gelassen sehen. Und „mit einer Portion Amüsement“, die man auch in Chinas sozialen Netzwerken findet, etwa in der süffisanten Frage, ob die USA nicht vielleicht gerade ihre eigene „Kulturrevolution“ erleben.

Der „Trump Storm“ wird so in den größeren Zusammenhang einer Krise eingebettet, die ein tiefgreifender Wandel immer weiter verschärft. Demnach profitieren die USA von der Globalisierung, die sie seit 1945 vorantreiben, inzwischen weniger als früher. Wenn der heutige US-Präsident diesen Befund teilt und in besonders deftige Worte kleidet, sagt er damit für China nichts Neues.

Trumps Wende in Richtung Isolationismus und Protektionismus wird weniger als Beginn einer neuen Epoche gesehen, denn als Fortsetzung eines Trends, der schon seit längerem begonnen hat und auf den China durchaus vorbereitet ist.

Doch auch wenn Peking auf der weltpolitischen Bühne von der Präsidentschaft eines Donald Trump profitiert, so droht dessen ökonomische Attacke zugleich die eine oder andere Schwachstelle des chinesischen Modells bloßzulegen.

Xi als Verteidiger des Freihandels

In der akademischen Disziplin der „international relations“ unterscheidet man zwischen „revisionistischen“ Staaten, die die internationale Ordnung verändern wollen, und „Mächten des Status quo“. China lässt sich beiden Lagern zuordnen: Einerseits ist Peking für die Reform des internationalen Systems, um auf die Veränderungen seit dem Zerfall des sowjetischen Blocks zu reagieren. Andererseits will es zurück zu einem Status quo ante.

Die New York Times publizierte im März 1992 folgende Passage aus einem geheimen Dokument des US-Verteidigungsministeriums: „Unser oberstes Ziel ist es, das Erstehen eines neuen Rivalen zu verhindern.“ Deshalb müsse man alles tun, um „eine feindliche Macht daran zu hindern, die Dominanz in einer Region zu erlangen, deren Ressourcen – einmal unter ihrer Kon­trolle – sie befähigen würde, globale Macht zu entwickeln.“

Diese Strategie wertete die New York Times damals als „bislang deutlichste Ablehnung des kollektiven Internationalismus – also jener Strategie, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging, als die fünf Siegermächte die Vereinten Nationen gründeten als eine Instanz, die Streitigkeiten schlichten und Gewaltausbrüche unter Kontrolle bringen kann“.7

Einige Jahre später empfahl der einflussreiche Politikwissenschaftler Gilford John Ikenberry, Washington solle den „unipolaren Moment“ nutzen und die 1945 geschaffene Architektur durch eine „internationale Ordnung ersetzen, basierend auf Regeln, welche die globale Dominanz der USA und des Westens auch dann absichern, falls Amerikas Macht schwinden sollte“.8 Seither wird der Ausdruck „regelbasierte Ordnung“ in den Reden westlicher Außenpolitiker gebetsmühlenartig wiederholt.9

Indem die Trump-Regierung entschieden hat, die USA aus mehreren Unterorganisationen der Vereinten Nationen (UN) zurückzuziehen, geht sie allerdings einen Schritt, der zur Demontage des nach 1945 begründeten internationalen Systems führen könnte. China dagegen vollzog seit dem Machtantritt von Xi Jinping 2012 eine Abkehr von der außenpolitischen Doktrin „Unauffällig bleiben“ aus der Ära Deng Xiaoping (1978–1989). Bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken im März 2021 erklärte Yang Jiechi, Leiter der Zentralen Kommission für Auswärtige Angelegenheiten, China verteidige „das an den Vereinten Nationen ausgerichtete System und die völkerrechtsbasierte Ordnung“ – und nicht das, „was einige wenige Länder als angeblich regelbasierte internationale Ordnung anpreisen“.10

Nach Ansicht der Politologin Na­dège Rolland hat sich vor allem eines verändert: „Chinas Regierende sind überzeugt, dass ihr Land inzwischen alle Voraussetzungen erfüllt, um in der bestehenden internationalen Ordnung nicht nur die Rolle des Kritikers und Andersdenkenden zu spielen, sondern auch proaktiver für die eigene Sicht der Dinge einzutreten.“11

Im Rahmen einer Panel-Diskussion beim China International Finance Forum (CIFF) im Januar 2025 gab es einen interessanten Disput, als der oben zitierte Zhang Weiwei darauf hinwies, dass China immerhin schon seit fast zehn Jahren – nach Kaufkraft bemessen – die größte Wirtschaftsmacht der Welt ist. Dem hielt der einflussreiche Hongkonger Bankier Charles Li entgegen, Zhang mache einen strategischen Fehler: „Ich finde es nicht richtig, ständig zu wiederholen, China sei schon jetzt die Nummer eins. Wir Chinesen sind lieber die Nummer zwei oder drei.“

Darauf entgegnete wiederum Zhang: „Wer die eigene Stärke unterschätzt, kann geopolitisch ernsthafte Probleme bekommen. Die USA haben Russland lange so behandelt, als wäre dessen Wirtschaft so groß wie die von Spanien. Also trieben sie auf die Gefahr eines Krieges hin die Erweiterung der Nato voran. Inzwischen spricht Putin von der Wirtschaft seines Landes nur noch unter dem Aspekt der Kaufkraftparität“ – und nach dieser Rechnung sei „Russland Europas größte Volkswirtschaft, noch vor Deutschland“.12

Die Zeiten des „Bleibe unauffällig“ sind offensichtlich vorbei. Zwischen 2021 und 2023 – in dieser Zeit bezeichnete Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan die G7 als „Lenkungsausschuss der Welt“13 – unternahm Xi drei Vorstöße zur Stärkung des Multilateralismus: die Globale Entwicklungsinitiative, die Globale Sicherheitsinitiative und die Globale Zivilisationsinitiative (die englischen Akronyme lauten GDI, GSI und GCI).

Diese drei Initiativen bilden seither das Grundgerüst der chinesischen Außenpolitik. Sie umreißen die Perspektive einer „anderen“ internationalen Ordnung, wobei Peking beteuert, China wolle nicht die Rolle eines Hegemons beanspruchen. Zugleich soll diese neue Ordnung aber die Hegemonie der USA überwinden.

Was enthalten diese Vorschläge? Die Rückkehr zu einer internationalen Ordnung, die sich an den Prinzipien des „Westfälischen Modells“ orientiert und die das Fundament des Systems der Vereinten Nationen bilden (absolute Souveränität der Staaten, territoriale Integrität, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen); Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse jedes Landes; Verzicht auf einseitige Sanktionen; Wiederausrichtung der internationalen Kooperation auf Entwicklung als vorrangiges Ziel; Eintreten für das Recht der Völker, ihre eigene Gesellschaftsordnung zu wählen, sowie Ablehnung einer automatischen Überlegenheit der Vorstellungen des Westens; Anerkennung des Rechts auf Entwicklung als Menschenrecht; stärkere Vertretung der Länder des „Globalen Südens“ in den internationalen Organisationen.

Aus Sicht Pekings gehen zwei seiner jüngsten diplomatischen Erfolge unmittelbar auf die von China angestoßenen Initiativen zurück: die Unterzeichnung des Abkommens vom 10. März 2023 zwischen Iran und Saudi-Arabien zur Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen; und die Einigung zwischen den palästinensischen Konfliktparteien vom Juli 2024, die zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in Gaza führte.14

Die drei chinesischen Initiativen erhielten zwar die Unterstützung von UN-Generalsekretär Antonio Guterres sowie von mehr als 120 Ländern und internationalen oder regionalen Organisationen. Nach dem Urteil der Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council existieren sie bislang aber „im Wesentlichen nur als Ideen.“ Wenn sie bei einer Neugestaltung der Weltordnung eine signifikante Rolle spielen sollen, müsse China „die Welt überzeugen, dass die von ihr ins Spiel gebrachten Prinzipien nicht bloß eine Ersatzlösung für die regelbasierte Ordnung unter Führung der USA sind, sondern tatsächlich ein Fortschritt und besser geeignet, Konflikte zu lösen, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen und den Wohlstand zu fördern“.15

Könnte es sein, dass Trump mit seinem Wüten gegen jede Art von Ordnung und jegliche Regeln dazu beiträgt, die chinesischen Vorhaben zu fördern? Zunächst wird alles von dem anderen offenen Kampf abhängen, der zwischen Peking und Washington ausgetragen wird: dem Kampf an der Wirtschaftsfront. Denn in der allernächsten Zeit werden sich die nicht so sehr mit der Wahrung einer multilateralen Ordnung beschäftigen als vielmehr mit Fragen des Welthandels.

In Washington gibt es die Vorbehalte gegen den Freihandel allerdings nicht erst seit Trump. Ein Blick in die Geschichte mache deutlich, lesen wir in der China Daily (19. März 2025), dass die USA für dieses Prinzip immer dann eintreten, wenn es ihren Interessen dient, aber auf Protektionismus umschalten, „sobald die Kräfte des Markts ihre Vormachtstellung infrage stellen“.

Nach dieser Maxime hat Trump zu Beginn seiner ersten Amtszeit 2017 eine neomerkantilistischen Politik in die Wege geleitet, an der sich unter seinem Nachfolger Joe Biden im Grundsatz nichts geändert hat. Im Gegenteil: Am 27. April 2023 hielt Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan einen viel beachteten Vortrag bei der Brookings Institution, in dem er harsche Kritik an den Auswirkungen des Neoliberalismus in den USA übte: Die industrielle Basis des Landes sei „ausgeweidet“ worden, die Logik staatlichen Investierens, das Leitprinzip des „amerikanische Projekts“ nach 1945, sei aufgegeben worden, die arbeitende Bevölkerung partizipiere nicht mehr „an den Früchten des Wachstums“.

Damit erklärte Sullivan den „Washington Consensus“ für beendet – eine Wende, die die Einführung protektionistischer Maßnahmen rechtfertigt, die darauf abzielen, China den Zugang zu bestimmten sensiblen Technologien zu versperren.

Die USA haben ihr letztes Freihandelsabkommen 2023 abgeschlossen. Es wurde mit Japan ausgehandelt und umfasst ausschließlich wichtige Mineralien. China unterzeichnete im gleichen Jahr Freihandelsabkommen mit Serbien, Ecuador und Nicaragua und verhandelt derzeit mit Honduras, Is­rael, Moldawien, Norwegen und Sri Lanka. Vorverhandlungen laufen mit Bangladesch, Kanada, Kolumbien und der Mongolei.

Während Trump also Zölle gegen (fast) den ganzen Planeten verhängt, versucht China sich als der eigentliche Garant einer Wirtschaftsordnung zu positionieren, für die Washington lange geworben hat. Wenige Tage bevor Trump seinen „Liberation Day“ zele­brier­te, rief Chinas Präsident Xi Jinping mehr als 40 internationale Konzernbosse in der Großen Halle des Volkes zusammen und hielt „eine seiner leidenschaftlichsten Reden zur Verteidigung des internationalen Handels und des Systems der globalisierten Lieferketten“ – so die Financial Times vom 29.  März 2025.

„Für mehr als 140 Länder ist China bereits jetzt der wichtigste Handelspartner“, gibt Zhang Weiwei zu bedenken. „Wenn Donald Trump und die USA beschließen, sich aus der Globalisierung zurückzuziehen, werden wir sie weitertreiben.“ Am 7. April postete die chinesische Botschaft in Washington auf X ein Video, in dem der frühere US-Präsident Ronald Reagan vor der protektionistischen Bedrohung warnt.

Doch die „Verteidigung des internationalen Handels“ wird für Chinas Partner schwerlich eine große Hilfe sein, wenn sie versuchen, eine Senkung der US-Zollschranken für sich auszuhandeln. Trumps Strategie ist weder „freihändlerisch“ noch wirklich protektionistisch, sondern vor allem „transaktionalistisch“, also auf den einzelnen Deal fokussiert: Es ist durchaus denkbar, dass er für Länder, die bei seinem Feldzug gegen China mitmachen, die Handelsbarrieren niederreißt.

Wenn die KPCh auf sinkende chinesische Exporte in die USA verweist, unterschlägt sie, dass die für den US-Markt bestimmten Ausfuhren mittlerweile zum Teil über Unternehmen in Südostasien laufen, um die in Trumps erster Amtszeit aufgebauten Hindernisse zu umgehen. Dies erklärt zum Beispiel, warum die US-Importe aus Vietnam und Indonesien in den ver­gangenen Jahren so stark angestiegen sind.

Washington sind diese Ausweichmanöver nicht entgangen: „Wir erwarten von Ländern wie Kambodscha, Mexiko und Vietnam, dass sie China nicht länger erlauben, die amerikanischen Zollschranken zu umgehen“, warnte Peter Navarro, der Trump in Handels- und Industriefragen berät, in der Financial Times (8. April 2025). Die Länder, die dieser Aufforderung entsprechen, können wahrscheinlich auf eine Belohnung hoffen.

Allerdings steht China in dem derzeitigen Kräftemessen keineswegs hilflos da. Das Land hat nicht nur seinen Rückstand bei den Spitzen­technolo­gien, die Washington ihm vorenthalten wollte, so gut wie aufgeholt. Peking lässt auch bereits durchblicken, welch umfangreiches Arsenal von Vergeltungsmaßnahmen ihm zur Verfügung steht.

Am 8. April 2025 stellte der für seine Nähe zu den Mächtigen bekannte Intellektuelle Ren Yi dieses Arsenal in seinem Blog schon einmal ins Schaufenster. Laut Yi könnte China die Kooperation mit den USA beim Thema Fentanyl einstellen; das ist die synthetische Droge, die zur in den USA grassieren Opioidkrise geführt hat und deren Inhaltsstoffe zum Teil in China hergestellt werden.

Zudem könne Peking den Export von Agrarprodukten wie Soja oder Sorghum in die USA weiter einschränken oder Importbeschränkungen für US-Geflügelerzeugnisse durchsetzen. Und auch im Dienstleistungssektor, in dem Washington einen Handelsüberschuss gegenüber Peking aufweist, könne man Gegenmaßnahmen ergreifen.

Inzwischen hat Trump unter dem Druck der Wirtschaftseliten im eigenen Land bereits reihenweise Ausnahmen von seinen Zöllen verkündet. Auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus am 22. April verkündete er sogar, die Zölle auf chinesischen Waren würden in Zukunft „erheblich sinken“.

Daniel Russel, Vizepräsident des Asia Society Policy Institute in Washington, hält es daher für möglich, dass Xi sich in Geduld übt und „darauf setzt, dass Trumps Zollmonstrum unter dem Druck der Finanzmärkte in sich zusammenbricht“.16 Dabei kann der Chef der größten kommunistischen Partei der Welt auf Unterstützung durch die Spekulanten der Finanzwelt zählen.

Tatsächlich jedoch hat China im Konflikt mit den USA künftige Verhandlungen im Blick. Denn die Aussicht, die Wirtschaft könnte weniger stark wachsen als erwartet, sorgt in Peking für Beunruhigung. Die Jugendarbeitslosigkeit stieg 2024 auf über 15 Prozent, und alles deutet darauf hin, dass die Konflikte in der Arbeitswelt zunehmen werden.

China hat in seiner Geschichte schon mehrfach innere Zerreißproben durchgemacht, und für die KPCh ist eine dynamische Wirtschaft das einzige Mittel, das soziale oder politische Proteste verhindern kann. „Die Kernfrage für China ist sein Bedürfnis nach Sicherheit“17 , erklärte Deng Xiaoping gegenüber dem US-Präsidenten George H. W. Bush im Februar 1989.

Wenige Monate später kulminierte die Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens und die „Kernfrage“ wurde zur obersten Priorität. Am 4. Juni 1990, dem ersten Jahrestag der „Ereignisse“ vom Tiananmen-Platz, erschien die Parteizeitung People’s Daily mit der Schlagzeile: „Stabilität ist oberstes Gebot“. An dieser Sichtweise hat sich seither nichts geändert: Xi übernahm sein Amt unmittelbar nach dem Arabischen Frühling, dem er – erklärtermaßen – skeptisch gegenüberstand.

Wenn der chinesische Kapitän auf hoher See Angst vor einem aufkommenden Sturm hat, liegt der Grund auch darin, dass er eine Meuterei befürchten muss.

China ist also zum Wachstum verdammt. Trotz aller jüngsten Maßnahmen, die den Binnenkonsum fördern sollen, geben die Chinesen weniger aus, seit 2021 ein Kollaps des Immobi­lien­markts einen Teil ihrer Ersparnisse vernichtet hat. Die Machthaber in Peking reagierten darauf mit der Ankündigung, wieder mehr für die Stärkung des Binnenkonsums zu tun, aber vor allem die exportorientierten Produktionskapazitäten wieder stärker anzukurbeln. Dazu gehört insbesondere die Automatisierung, durch die China seine Wettbewerbsfähigkeit sichern will.

Das hat (mindestens) zwei Probleme zur Folge. Das erste ist ein innenpolitisches: „Wenn zu viele nicht qualifizierte Arbeitskräfte aus den modernisierten Industrien verdrängt werden, stagnieren oder fallen ihre Löhne. Das schwächt die Nachfrage und bremst das Wachstum“, zitiert die Financial Times (25. März 2025) einen Experten. Die Folge: „Länder, deren Arbeiterschaft sozial polarisiert ist, sind politisch oft instabil.“ Das Bemühen der KPCh um Stabilität könnte daher zu einer Politik des Wachstums um jeden Preis führen, die am Ende wieder die Stabilität gefährdet.

Daraus ergibt sich ein zweites, geopolitisches Problem: Chinas Anteil an der weltweiten Industrie­pro­duk­tion stieg von 2000 bis heute von 6 auf 32 Prozent.18 Das macht 18 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts aus, aber nur 15 Prozent des Konsums. Was das bedeutet, kons­ta­tiert die Financial Times (9. April 2025): „Um seine gewaltigen Pro­duk­tions­über­schüsse loszuwerden, ist China auf die Nachfrage der anderen Länder angewiesen.“ Es ist das Pro­blem, das schon John Maynard Keynes am Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigt hat (siehe den Kasten auf Seite 4).

2024 erreichte Chinas Handelsbilanzüberschuss ein Allzeithoch von knapp 1000 Milliarden Dollar. Schon jetzt gilt der chinesische Exportrausch als Hauptgrund für die Deindustrialisierung mancher Länder Südostasiens. Dieses Phänomen wird durch die US-Zölle weiter verschärft, weil sie chinesische Unternehmen zwingen, bestimmte Exporte in die asiatische Region umzulenken. Und auch Europa muss damit rechnen, mit den Produkten geflutet zu werden, die China nicht mehr in den USA verkaufen kann.

Wenn Peking die Gelegenheit, die Trump ihm bietet, nicht nutzt und an diesem Ungleichgewicht nichts ändert, könnte dies auch die Partner Chinas zu protektionistischen Maßnahmen provozieren. Und solche Maßnahmen könnten weniger erratisch ausfallen und sehr viel klüger geplant sein als die von Donald Trump.

1 „Wild market swings as tariffs rattle US economy“, BBC, 8. April 2025.

2 „Trump says tariffs will help House Republican ahead of midterms“, The Hill, 8. April 2025.

3 Siehe auch: Zongyuan Zoe Liu, „ How China Armed Itself for the Trade War“, Foreign Affairs, 29. April 2025.

4 „China punches back as world weighs how to deal with higher US tariffs“, Associated Press, 4. April 2025.

5 „China’s Wang Yi lauds Russia, pans ‚two-faced‘ U.S. policy at NPC“, Nikkei Asia, Tokio, 7. März 2025.

6 „The State of Democracy in the United States: 2022“, chinesisches Außenministerium, 20. März 2023, www.mfa.gov.cn.

7 Patrick Tyler, „U.S. strategy plan calls for insuring no rivals develop“, The New York Times, 7. März 1992.

8 Siehe dazu: John Bellamy Foster, „The New Cold War on China“, Monthly Review, Bd. 73, Nr. 2, Juli/August 2021.

9 Siehe Anne-Cécile Robert, „Ein geopolitischer Kampfbegriff“, LMd, November 2024.

10 „How it happened: Transcript of the U.S.–China opening remarks in Alaska“, Nikkei Asia, 19. März 2021.

11 Nadège Rolland, „China’s vision for a new world order“, NBR Special Report, Nr. 83, The National Bureau of Asian Research, Washington, D. C., 27. Januar 2020.

12 „China’s strategy to Trump 2.0“, 26. Januar 2025, thechinaacademy.org.

13 „Remarks by national security advisor Jake Sullivan at the special competitive studies project global emerging technologies summit“, Pressemitteilung des Weißen Hauses, 16. September 2022, bidenwhitehouse.archives.gov.

14 Siehe Kishore Mahbubani, „Europa inkompetent, China erfolgreich“, LMd, Januar 2025.

15 Jonathan Fulton, Tuvia Gering und Michael Schuman, „How Beijing’s newest global initiatives seek to remake the world order“, Atlantic Council, Washington, D. C., 21. Juni 2023.

16 „Asia Society Policy Institute experts comment on the escalating trade war between the U.S. and China“, E-Mail, verschickt an die Verteilerliste des Aspi am 11. April 2025.

17 Qian Gang, „Wann wurde ‚Wahrung der Stabilität‘ zu einem gängigen Begriff?“ (in chinesischer Sprache), 19. September 2012, cn.nytimes.com/.

18 „China fuels export drive with extra $1.9 trillion“, The New York Times, 9. April 2025.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Renaud Lambert ist Redakteur bei LMd, Paris.

Keynes’ Weitblick

Am 23. März 2009, mitten im Schock der Subprime-Krise, die weltweit horrende Schäden angerichtet hatte, hielt Chinas Zentralbankchef Zhou Xiaochuan eine viel beachtete Rede. Da die westlichen Mächte – die Architekten des gerade eingestürzten Kartenhauses – diskreditiert waren, nutzte Zhou die Gelegenheit zu der Forderung, jetzt endlich müsse man eine „Reform des internationalen Währungssystems“ angehen.

Zhou verwies auf die strukturellen Probleme, die das Fehlen einer wirklich internationalen Reservewährung mit sich bringt. Dann erinnerte er an einen Plan, den der Ökonom John Maynard Keynes 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods vorgelegt hatte: die Schaffung einer internationalen Währung, des Bancor. Doch leider, meinte Zhou, verfolgten die USA ihr eigenes Projekt, obwohl gerade jetzt offenbar werde, dass Keynes’ Ansatz „eindeutig weitsichtiger war“.

Keynes war überzeugt, dass der Bancor unbedingt mit einer zweiten Maßnahme verknüpft werden sollte: einem internationalen Ausgleichsmechanismus zur Regelung der Probleme, die durch die Handelsungleichgewichte entstehen. Für den Ökonomen Keynes resultierten die Spannungen, die zu den großen Konflikten des 20. Jahrhunderts geführt hatten, auch aus den Überschüssen, die manche Länder angehäuft, und den Defiziten, die andere Länder gemacht hatten. Denn global betrachtet sei die Summe der Überschüsse gleich der Summe der Defizite.

Deshalb schlug Keynes vor, gegen Länder, die zu viel exportieren, eine Reihe von Sanktionen zu verhängen, dagegen flankierende Maßnahmen für die zu stark importabhängigen Länder zu beschließen, damit diesen die Rosskur einer Austeritätspolitik erspart bliebe. Für die Wiederherstellung des Gleichgewichts sollte die Anpassung der nationalen Wechselkurse im Verhältnis zum Bancor sorgen.

Heute ist eine Reform des internationalen Währungssystems erneut ein hochaktuelles Thema. Allerdings ist zu bezweifeln, ob sich das heutige China mit seinen extremen Handelsüberschüssen noch auf den „weitsichtigen“ Keynes berufen würde.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2025, von Renaud Lambert