13.02.2025

Die dunkle Seite der Fahrradindustrie

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Die dunkle Seite der Fahrradindustrie

Die weltgrößten Hersteller profitieren von Zwangsarbeit in Taiwan

von Peter Bengtsen

Giant produziert auch die Leihfahrräder für Youbike, Taipeh, 2020 CHEN PENGGUANG/picture alliance/zoonar
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Radfahren ist gesund und verkehrspolitisch sinnvoll. Mit einem Umfang von schätzungsweise 66 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024 ist der globale Fahrradmarkt ein Riesengeschäft.1 Hochproblematisch sind allerdings die Arbeitsbedingungen im Zentrum der weltweiten Fahrradproduktion Taiwan.

Schuldknechtschaft, das Einbehalten von Pässen, menschenunwürdige Unterbringungen, vorenthaltene Löhne, Drohungen und Einschüchterungen sind hier gängige Praxis. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) nennt es Zwangsarbeit.

Seit Jahren lassen viele der größten Fahrradmarken der Welt, darunter Bian­chi, Canyon, Centurion, Giant, Merida, Pinarello, REI, Scott, Specialized und Trek, ganze Räder oder Fahr­rad­tei­le in Taiwan herstellen. Etwa 40 Prozent aller nach Europa importierten Fahrräder kommen aus Taiwan; die wichtigsten Zielländer sind die Niederlande, Deutschland und Großbritannien.

Taiwans Fahrradindustrie konzen­triert sich rund um Taichung. Der weltgrößte Hersteller Giant sitzt im Norden der Stadt und der zweitgrößte, Merida, im Süden. Dazwischen liegen hunderte Zulieferfabriken, in denen tausende Mi­gran­t:in­nen aus ärmeren Nachbarländern wie Vietnam, Indonesien, Thailand und den Philippinen Fahrradteile herstellen. Auch der weltweit größte Hersteller von Fahrradreifen, Maxxis, hat hier Produktionsstätten.

Giant beschäftigt neben 2287 einheimischen 652 vietnamesische und thailändische Arbeiter. Bei Maxxis kommen 728 Beschäftigte aus Vietnam, Thailand und Indonesien. Bei Merida sollen es 200 bis 300 Thailänder sein, und bei Fritz Jou kommen etwa 500 Arbeiter von den Philippinen. Die Mehrheit der Beschäftigten stammt jedoch aus Taiwan.

In den vergangenen Jahren haben mein Team und ich mehr als 200 Interviews mit Migranten geführt, die in taiwanischen Fabriken arbeiten, darunter mehrere Dutzend Beschäftigte der Fahrradindustrie. Die Bedingungen sind zwar unterschiedlich, aber eines fällt auf: Systeme der Schuldknechtschaft sind die Regel, nicht die Ausnahme.

Fast alle unsere Gesprächspartner gaben an, dass sie Anwerber in ihrer Heimat bezahlen mussten, um einen Job in Taiwan zu bekommen. Und fast alle hatten sich dafür bei Banken oder Verwandten verschuldet. Ein vietnamesischer Angestellter von Giant berichtete, dass er den Anwerbern 5500 Dollar für den Job bezahlt habe: „Ich musste im Voraus bezahlen. Ich habe mir alles von der Bank geliehen und eine Hypothek auf mein Haus aufgenommen.“

Im Vergleich zu den anderen Migranten mussten Vietnamesen in der Regel am meisten bezahlen: bis zu 6500 US-Dollar bei Giant und 6000 Dollar bei Maxxis, inklusive Kaution. In Vietnam entspricht das einem Einkommen von fast vier Jahren Mindestlohn. Auch bei einigen der 223 lokalen Zulieferer von Giant zahlen Vietnamesen saftige Gebühren. Thailändische Befragte nannten Anwerbegebühren in Höhe von 2100 bis 3500 Dollar für einen Job bei Merida und 3200 Dollar bei Giant. Bei Fritz Jou zahlten manche philippinische Angestellte zwischen 1500 und 1700 Dollar; für die Kredite, die sie dafür aufnehmen mussten, verlangten die Banken exorbitante Zinsen, die ihre Rückzahlungen de facto verdoppeln.

Hinzu kommen die sogenannten Dienstleistungsgebühren, die taiwanische Arbeitsvermittler einsacken: Für Dreijahresverträge verlangen sie zwei Monatslöhne. Taiwan ist einer der wenigen Orte auf der Welt, wo dies legal ist. Die Arbeiter berichteten, dass sie bis zu einem Jahr bräuchten, um ihre Schulden zu begleichen. Während dieser Zeit müssten sie unwürdige Bedingungen hinnehmen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Bei Merida „behält die Firma unsere Pässe ein. Ich glaube nicht, dass ich ihn zurückbekomme, wenn ich danach frage“, erzählte ein Arbeiter aus Thailand. Bei Giant dürfen sie ihre Ausweispapiere behalten, aber die Unterbringung ist erbärmlich. In den dreckigen Schlafsälen mit 16 bis 20 Betten pro Zimmer tummeln sich die Ratten.

Giant-Beschäftigte beklagten sich auch darüber, dass Löhne bis Vertragsende einbehalten werden. In den ersten sechs Monaten zahle das Unternehmen einen Monatslohn auf ein Sparkonto ein, auf das die Beschäftigten nur mit Genehmigung von Giant oder ihren Personalvermittlern Zugriff hätten. Bei Merida und Giant berichteten Arbeiter von Geldstrafen für Verstöße gegen Firmenvorschriften bis hin zu Abschiebungen.

Achselzucken bei der Tour de France

Bei zwei Zulieferern der deutschen Fahrrad- und Autoreifenmarke Continental stieß ich auf ähnliche Indizien für Schuldknechtschaft. Nach Veröffentlichung meiner Recherchen erhielten die Arbeiter dort Entschädigungen von mehr als 3 Millionen US-Dollar.2

Auf eine Rückerstattung von Vermittlungsgebühren warten die Beschäftigten der Fahrradindustrie jedoch vergeblich. Nach unseren Enthüllungen über die verbreitete Schuldknechtschaft bei Giant im vergangenen Jahr versprach der weltgrößte Hersteller immerhin ein Ende der Gepflogenheit, Jobs nur gegen Zahlung zu ver­ge­ben3 : „Ab dem 1. Januar 2025 gilt unsere Null-Gebühren-Praxis für neu eingestellte Wanderarbeiter. Die Giant Group übernimmt die Gebühren für Anwerbung und Vermittlung sowie die Verwaltungsgebühren.“

Das gilt aber nur für Neueinstellungen. Das Risiko der Schuldknechtschaft besteht also auch im Jahr 2025 fort. So zahlten 50 Beschäftigte aus Thailand, die erst Ende Dezember angeworben worden waren, Gebühren von bis zu 3200 Dollar. Wenigstens verpflichtete sich Giant dazu, keine Löhne mehr einzubehalten. Im September 2024 teilte das Unternehmen seinen Angestellten mit, sie könnten ihr Geld von nun an nach Belieben von den Sparkonten abheben. Und die Wohnheime werden renoviert.

Andere taiwanische Hersteller reagierten nicht auf unsere Nachfragen. Der Vorstandschef von Merida erklärte 2024 sogar auf der Website des Unternehmens, dass „Merida den Verhaltenskodex der Responsible Business Alliance und die einschlägigen Menschenrechtsrichtlinien noch nicht angenommen und daher die Sorgfaltsprüfung für Menschenrechte nicht durchgeführt hat“. Merida hält übrigens die Mehrheit an der deutschen Fahrradmarke Centurion (90 Prozent) und einen Minderheitsanteil an der US-Marke Specialized (35 Prozent).

Die großen US-Hersteller Specialized und Trek hüllten sich monatelang in Schweigen; dagegen versprachen mehrere europäische Firmen Verbesserungen. Die Firma Scott, die in der Schweiz sitzt, teilte uns mit, sie könnten uns nunmehr bestätigen, „dass ­Giant einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Bedingungen für aus­ländische Wanderarbeiter unternommen hat, indem es sich kürzlich zu einer Null-Gebühren-Rekrutierungspolitik verpflichtet hat.“ Allerdings hätte sie die Fakten, die wir in unserem Bericht von 2024 schildern, in ihren „eigenen Audits“ übersehen.

Die italienische Marke Pinarello wiederum erklärte, Fritz Jou sei seit vielen Jahren Lieferant, „aber uns waren keine derartigen Praktiken bekannt, so dass wir, nachdem Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben, entsprechende Untersuchungen einleiten werden“. Glücklicherweise hatten andere Abnehmer Fritz Jou bereits auf die Sprünge geholfen: Ende 2024 versprach das Unternehmen, die Einstellungsgebühren abzuschaffen. Canyon, ein weiterer Kunde von Fritz Jou, teilte uns mit, dass zukünftige Mitarbeiter von Fritz Jou keine Gebühren mehr zahlen müssen. Bianchi, Canyon, Pinarello und Cycleurope haben alle ausdrücklich erklärt, sie würden es nicht dulden, dass Arbeitnehmer für Jobs bei Zulieferern bezahlten.

„Wir stimmen mit der Einschätzung der ILO überein, dass Arbeitnehmern, die sich für Vermittlungsgebühren hoch verschulden, Schuldknechtschaft droht. Wir tolerieren keine Form von Zwangsarbeit oder ausbeuterischen Anwerbungspraktiken“, erklärte etwa der Bianchi-Chef Marco Gentili.

Auch Cycleurope bestätigte, dass es diese Praxis nicht akzeptiere. Auf der anderen Seite hat sich kein einziger Fahrradhersteller dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass den Wanderarbeitern ihre Gebühren erstattet werden. Auch wenn große Hersteller wie Giant und Fritz Jou im eigenen Haus gegen Schuldknechtschaft vorgehen, dürften ihre Fahrräder immer noch Teile aus Fabriken enthalten, in denen die Praxis fortgesetzt wird.

Einige der größten Investoren der Welt4 haben als Aktionäre von Giant, Merida und Maxxis jahrelang davon profitiert. Genau wie die taiwanische Regierung: Das staatliche Postunternehmen Chun­ghwa Post hält Giant-Aktien, und mehrere Stadtverwaltungen haben Giant-Räder für das beliebte Fahrradverleihsystem Youbike angeschafft.

Auch die internationalen Radrennveranstalter und Radteams sehen keine Veranlassung, sich mit arbeitsrechtlichen Fragen zu befassen. Mindestens 200 Millionen europäische Fernsehzuschauer verfolgten 2024 die großen Rennen Tour de France, Giro d’Italia und Vuelta a España. Aber die Medien üben kaum Druck aus, und die Fachzeitschriften sind auf die Anzeigen der Hersteller angewiesen.

Viele der hier genannten Unternehmen stellen Fahrräder für die besten Teams der Welt her.5 Continental ist Hauptsponsor für Tour de France und Giro d’Italia; seine Reifen wurden 2024 von neun Teams verwendet. Maxxis hat ebenfalls Reifen für Spitzenteams geliefert. Doch das französische Medienkonglomerat Amaury Group – obgleich der weltgrößte Organisator von Radsportveranstaltungen – will sich nicht dazu äußern, ob Sponsoren oder Teams in Zwangsarbeit verwickelt sind.

Der Dachverband der globalen Fahrradindustrie, die World Bicycle Industry Alliance (WBIA), startete 2024 eine Lieferketteninitiative, um die Einhaltung sozialer Standards durch Zertifizierungssysteme wie Sedex und Amfori zu fördern. Diese gelten jedoch weithin als unzureichend, da die betroffenen Arbeiter nicht angemessen konsultiert werden.

Marken wie Specialized, Scott, Trek, Canyon und Giant sind außerdem Mitglieder in der World Federation of the Sporting Goods Industry (WFSGI), einem 1978 gegründeten branchenübergreifenden Verband mit über 150 Firmen, darunter auch Sportbekleidungsmarken wie Adidas und Nike. Laut dem WFSGI-Verhaltenskodex sind die Mitglieder zwar angehalten, Anwerbegebühren zu vermeiden, in der Realität zahlen die Arbeiter jedoch schon seit Jahren für Jobs in Mitgliedsfirmen oder bei deren Zulieferern.

Auf unsere Bitte um Stellungnahme erklärte die WFSGI, sie werde „diese Informationen an unsere Mitglieder weitergeben, um die Bedeutung der Einhaltung unseres Verhaltenskodex hervorzuheben“, und verpflichtete sich, „das Thema Einstellungsgebühren und damit verbundene Kosten neu zu bewerten, um zu prüfen, ob der Kodex im Jahr 2025 klarer formuliert oder verbessert werden muss“.

Neue Vorschriften könnten die Dinge beschleunigen und die Sorgfaltspflicht der Fahrradhersteller in Bezug auf ihre Lieferketten verbessern. Im vergangenen Jahr verabschiedete die EU eine Verordnung, wodurch die Einfuhr von Produkten, die nachweislich in Zwangsarbeit hergestellt wurden, ab 2027 verboten ist. Eine ähnliche Maßnahme wurde bereits in den USA verabschiedet, wo die Behörden Einfuhren stoppen können, wenn Verdacht auf Zwangsarbeit besteht. ­Giant ist das dritte taiwanische Unternehmen, gegen das dank der Aussagen der von mir interviewten Arbeiter ein Verfahren läuft und möglicherweise ein Importverbot verhängt wird. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.

1 „Bicycle Market Size“, Global Market Insights.

2 Peter Bengtsen, „Migrant workers squeezed in Taiwan“, LMd, Blog der englischen Ausgabe, 14. Februar 2023.

3 Peter Bengtsen, „Are Tour de France bike-makers overlooking forced labour risks“, LMd, Blog der englischen Ausgabe, 27. Juni 2024.

4 Einschließlich BlackRock, JP Morgan, Vanguard, Dimensional, HSBC, BNP Paribas und dem Norway Government Pension Fund.

5 Giant für Jayco AlUla, Merida für Bahrain Victorious, Specialized für Red Bull–Bora–Hansgrohe und Soudal Quick-Step, Bianchi für Arkéa B&B Hotels, Trek für Lidl-Trek, Pinarello für Ineos Grenadiers, Cannondale für EF Education-EasyPost, Cervélo für Visma – Lease a Bike, Canyon für Movistar sowie Alpecin-Deceuninck.

Aus dem Englischen von Nicola Liebert

Peter Bengtsen ist investigativer Journalist aus Dänemark.

© LMd, London; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.02.2025, von Peter Bengtsen