13.02.2025

Dringend gebraucht, aber unerwünscht

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Dringend gebraucht, aber unerwünscht

von Alexej Sachnin und Lisa Smirnova

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Russlands militärisch-industrieller Komplex läuft auf Hochtouren. Dem Land fehlen jedoch, so die Zeitung Kommersant vom 24. Dezember 2023, fast 5 Millionen Arbeitskräfte, was 6,8 Prozent der berufstätigen Bevölkerung entspricht. Ursache sind vornehmlich die geburtenschwachen Jahrgänge nach dem Umbruch von 1990.

Zudem sind seit 2020 weitere 2 bis 3 Millionen junge Menschen vom Arbeitsmarkt verschwunden: Opfer der Coronapandemie, zum Kriegsdienst Eingezogene, Kriegsgegner, die ins Ausland gegangen sind.1 Auch der zivile Wirtschaftssektor ist von dem Mangel betroffen, weil viele Arbeitskräfte in die Rüstungsindustrie abwandern.

Die russische Bevölkerung ist heute eine der ältesten der Welt, die Sterberate liegt um 50 Prozent höher als die Geburtenrate. Seit Jahrzehnten wurde dieses demografisches Defizit durch Zuwanderung kompensiert. 2013 gab es in Russland 7 bis 8 Millionen ausländische Arbeitskräfte. Das war damals laut UN-Statistiken die zweithöchste Zahl weltweit, heute ist sie nur noch ein Drittel so hoch.

Auch die Zusammensetzung der Herkunftsländer hat sich geändert. Immer weniger Arbeitskräfte kommen aus den postsowjetischen Staaten, in denen die Zahl der Russischsprachigen zurückgeht und die Wirtschaft sich stärker auf den europäischen Markt orientiert.

Die Zahl der Ar­beits­mi­gran­t:in­nen aus Moldau ist seit 2014 von 700 000 auf 80 000 geschrumpft.2 Fast 90 Prozent der Migranten stammten im Jahr 2024 aus drei Ländern: Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan.

In den 2010er Jahren gab es eine Reform, die vielen Zuwanderern einen legalen Status verlieh. Nach Angaben der Konföderation der Arbeit Russlands (KTR) blieb der Mehrheit jedoch weiterhin der Zugang zu Bildung, Krankenversicherung und Rentensystem versagt. Das senkte zwar die Arbeitskosten für die Unternehmen, aber auch den Anreiz, nach Russland zu kommen, insbesondere für Fachkräfte.

Nach den beiden Abwertungen des Rubel 2015 und 2022 und nach der Pandemie haben insgesamt 3 Mil­lio­nen Menschen das Land verlassen. Diese Verluste waren nicht zu kompensieren, zumal auch in den Herkunftsländern der Bedarf an Arbeitskräften steigt.

In Usbekistan, dem größten Land Zentralasiens, wächst die Wirtschaft jährlich um etwa 6 Prozent. Das hält die städtischen, gut ausgebildeten jungen Leute zu Hause, während es die gering qualifizierten Arbeitskräfte vom Lande eher ins Ausland zieht. Aber die Auswanderungswilligen dieser Länder haben neue Ziele entdeckt: Südkorea, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei und die Europäische Union.

Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine hat sich die Situation noch verschärft. Seitdem stoßen die rassistischen Elaborate von Journalisten, Bloggerinnen und Influencern, darunter auch rechtsextreme Ex-Soldaten, auf immer mehr Interesse.

Waren ausländerfeindliche Haltungen in der russischen Bevölkerung zuvor noch nicht allzu verbreitet, haben sie im letzten Jahr rasant zugenommen, vor allem in Reak­tion auf den dschihadistischen Anschlag vom 22. März auf die Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau und auf mehrere von Islamisten organisierte Gefängnisaufstände im Sommer 2024.

Rassismus und Arbeitsmigration

Bei einer Umfrage des Lewada-­Zen­trums vom Mai 2024 waren 56 Prozent der Befragten für ein Zugangsverbot oder eine Beschränkungen der Aufenthaltsdauer für Migranten aus Zen­tral­asien.3 Und das Forschungszentrum Sowa hat für das Jahr 2024 ermittelt, dass 244 Personen Opfer rassistischer Angriffe wurden, doppelt so viele wie im Vorjahr.4

Nach dem City-Hall-Attentat waren zehntausende Personen bei der Einreise nach Russland Schikanen ausgesetzt. Inzwischen beteiligen sich rechtsextreme Milizen an „präventiven“ Razzien der Polizei auf Märkten und in Moscheen und arbeiten immer enger mit den Sicherheitskräften zusammen. Die Lage ist so dramatisch, dass Kirgistan und Tadschikistan ihren Bürgern von Reisen nach Russland abraten.5

Die Gouverneure überbieten einander in einschlägigen Maßnahmen – patriotischer Eifer kann schließlich karrierefördernd sein. In mehr als 30 Regionen wurden Arbeitsverbote für Migranten erlassen, etwa für das Taxigewerbe oder den Einzelhandel. Für Oleg Schein, den Co-Vorsitzenden der KTR, ist dieses Agieren jenseits aller wirtschaftlichen Logik: „Ein Fahrradbote wird nicht zum Dreher, es gibt keinen Transfer von unqualifizierten Arbeitskräften in die Industrie.“

Bei einer Versammlung in Dologoprudny im Norden der Oblast Moskau forderte ein Oberstleutnant des Innenministeriums die örtliche Polizei auf, „die Region zu reinigen, damit sie nicht von Ausländern verschmutzt wird“.6 Damit brachte er die Leitung von Yandex Go, dem größten russischen Taxiunternehmen, gegen sich auf, denn in ganz Russland fehlen laut Nachrichtenagentur Tass fast 130 000 Taxifahrer.

Im August kündigte Putin ein Gesetz an, nach dem ausländische Personen, die keine Aufenthaltsberechtigung haben, auch ohne Gerichtsentscheid ausgewiesen werden können. Dieses Gesetz, das auch ein Register für illegale Migranten vorsieht, trat am 8. Februar in Kraft.

Bis zum 30. April verlieren damit alle Personen ohne Aufenthaltsstatus ihre elementaren Rechte: Sie dürfen nicht Auto fahren, keine Bankdienstleistungen in Anspruch nehmen, kein Grundeigentum eintragen lassen, sie dürfen weder eine Ehe schließen noch sich scheiden lassen, sie dürfen nicht einmal ihre Kinder in der Schule anmelden.

Nach einem weiteren, bereits Ende Dezember verabschiedeten Gesetz müssen die Kinder ausländischer Eltern – selbst aufenthaltsberechtigter – einen Russischtest absolvieren, um eine staatliche Schule besuchen zu dürfen. Ein zusätzlicher Gesetzentwurf soll den Familiennachzug ganz abschaffen. Und seit Juli 2024 kann den Eingewanderten und bereits Eingebürgerten die Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden, wenn sie sich dem Militärdienst entziehen.

Wie die Nachrichtenagentur Interfax am 24. Juni 2024 berichtete, behauptete der Vorsitzende des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, Alexander Bastrykin, es seien schon 30 000 dieser „schlechten“ Bürger „geschnappt“ worden, 10 000 von ihnen seien zwangsrekrutiert und an die Front geschickt worden. Da ist es kein Wunder, dass sich die Zahl der Einbürgerungen von 2021 bis 2023 halbiert hat.

Bedenkt man den Arbeitskräftemangel, das Wirtschaftswachstum und die dank des staatlichen „Kriegskeynesianismus“ gestiegenen Löhne, ist die ausländerfeindliche Kampagne eher verwunderlich. Doch der russische Nationalismus ist offenbar noch immer stärker als die wirtschaftliche Vernunft.

1 Maria Snegovaya, Max Bergmann, Tina Dolbaia und Nick Fenton, „Back in stock? The state of Russia’s ­defense industry after two years of the war“, (Pod­cast) CSIS Europe, Russia, and Eurasia Program, 22. April 2024.

2 Igor Boțan, „War in Ukraine has a negative impact on migration from Moldova“, IPN Agency, Chişinău, 24. Mai 2024.

3 „Niveau der Ausländerfeindlichkeit und interethnischer Spannungen, Haltung gegenüber Neuankömmlingen“ (auf Russisch), 14. Mai 2024, www.levada.ru.

4 „Russian Nationalism and Xenophobia in December 2024. Preliminary results of the year“, 5. Januar 2025; sowie „Russian Nationalism and Xenophobia: Dezember 2023. Preliminary Results of the Year“, 15. Januar 2024.

5 „Die Botschaft empfiehlt tadschikischen Staatsbürgern, nicht nach Russland zu reisen“, 10. September 2024 (auf Russisch), www.rbc.ru.

6 „Oberstleutnant aus dem Innenministerium ruft dazu auf, die Region Moskau zu ‚reinigen‘ und Migranten auszuweisen“(auf Russisch), Kommersant, 27. Juli 2024.

7 Interfaks, Moskau, 27. Juni 2024.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Alexei Sakhine und Lisa Smirnova sind Journalist:innen.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2025, von Alexej Sachnin und Lisa Smirnova