Russische Kriegsökonomie
Wie die wirtschaftliche Neuausrichtung die Machtbalance in der Gesellschaft verändert
von Felix Jaitner

Es sind erstaunliche Zahlen, die die russische Zentralbank im Dezember vorlegte: Es wird mit einem deutlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gerechnet. Die Prognose war nicht nur in Moskau mit Spannung erwartet worden.
Die wirtschaftliche Entwicklung Russlands sorgt bei der internationalen Fachwelt für Kontroversen und Irritationen. Die Konjunktur brummt, aber es mehren sich Anzeichen, die auf eine Überhitzung hindeuten. Eines steht allerdings fest: Die westlichen Sanktionen haben die russische Wirtschaft nicht ruiniert, wie unter anderen die deutsche Außenministerin prophezeit hatte.1
Auf die sanktionsbedingte Wirtschaftskrise und die militärischen Rückschläge in der Ukraine im Sommer 2022 reagierte die russische Führung mit einem Programm, das als Kriegs- oder militärischer Keynesianismus bezeichnet wird.
Im Kern beschreibt dieser Begriff eine staatlich gelenkte makroökonomische Politik, die darauf abzielt, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch höhere Militärausgaben zu steigern. Damit verändert sich nicht nur das Wirtschaftsmodell, sondern auch die Machtbalance in der russischen Gesellschaft. Der russische Finanzminister Anton Siluanow beziffert den Nachfrageimpuls in den Jahren 2022 bis 2024 auf insgesamt 10 Prozent des BIPs.
Die massiven Investitionen in Kriegsgüter sind ein effektives Konjunkturprogramm. 2023 stieg die Wirtschaftsleistung um 3,6 Prozent, 2024 um geschätzte 3,5 bis 4 Prozent; für 2025 erwartet die russische Zentralbank einen Anstieg von 2,5 Prozent.
Mit der Wirtschaftsbelebung steigt der Bedarf an Arbeitskräften. Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine sind etwa 2 Millionen neue Jobs entstanden, zum größten Teil in der Rüstungsindustrie, in Zulieferbranchen und bei der Armee. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 2,4 Prozent auf einem historischen Tiefstand, zugleich herrscht akuter Arbeitskräftemangel (siehe den nebenstehenden Text).
Der Kriegskeynesianismus bringt nicht zuletzt deshalb so hohe Wachstumszahlen, weil sich die russische Wirtschaft in den 2010er Jahren in einer Rezession befand. Damals reagierte die russische Regierung auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise – ähnlich wie die EU – mit einer neoliberalen Austeritätsstrategie. Diese Sparpolitik vertiefte die bereits beträchtliche soziale Ungleichheit und schwächte den Inlandskonsum. Für die auf den Binnenmarkt ausgerichteten Unternehmen (Automobilindustrie, Maschinenbau) bedeutete sie harte Zeiten, während die auf den Weltmarkt orientierten Rohstoffkonzerne, insbesondere im Öl- und Gassektor, von einer Exporte fördernden Politik profitierten.
Der wirtschaftspolitische Kurswechsel wurde insbesondere von national-konservativen Kräften betrieben, die seit den Massenprotesten in den Jahren 2012 und 2013 ihren Einfluss kontinuierlich ausgebaut haben. Ihr gemeinsamer Nenner ist eine antiliberale Grundhaltung, das Bekenntnis zum großrussischen Nationalismus und die Forderung nach einem industriepolitischen Modernisierungsprogramm.
Als Wortführer des nationalkonservativen Lagers gilt der Ökonom und Putin-Berater Sergej Glasjew. Er war von 2019 bis 2024 Kommissar für Integration und Makroökonomie der Eurasischen Wirtschaftskommission und kritisiert die neoliberale Politik von Wirtschaftsminister Anton Siluanow und der Zentralbankchefin Elwira Nabiullina, da diese vor allem der im Rohstoffsektor verankerten Oligarchie nütze.
Glasjew behauptet, dass „90 Prozent der Publikationen im Bereich Ökonomie die Interessen der herrschenden Elite“ bedienen. Diese Allianz zwischen der neoliberalen akademischen Zunft und der Rohstoffoligarchie ist ein zentraler Kritikpunkt der nationalkonservativen Kräfte: Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Rohstoffexporten schwäche den internationalen Einfluss Russlands. Dies bedeute angesichts der globalen geopolitischer Konkurrenz ein Risiko für die nationale Sicherheit.
Demgegenüber setzt Glasjew auf eine „Mobilisierungswirtschaft mit marktwirtschaftlichen Instrumenten“ und fordert ein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm zur Stärkung der produzierenden Sektoren. Vorbilder für eine erfolgreiche russische Industriepolitik sind für ihn Japan, Südkorea und China mit ihrem staatlich gesteuerten Wirtschaftsmodell.
Dabei kommt Andrei Beloussow eine Schlüsselrolle zu. Der im Mai 2024 ernannte Verteidigungsminister repräsentiert die unter Putin geförderten Staatsmanager, eine handverlesene Gruppe loyaler Spitzenpolitikerinnen und Bürokraten, die Leitungsfunktionen in der wachsenden Zahl staatlicher Unternehmen erlangen.

Nationalismus statt Neoliberalismus
Beloussow begann seine politische Karriere 2006 unter dem neoliberalen Wirtschaftsminister German Gref, schloss sich dann aber dem nationalkonservativen Lager an. Als erfahrener Manager muss Beloussow nicht nur die Rüstungsproduktion effizienter organisieren – auch technologische Innovationen der Branche sollen staatlich gefördert werden und der gesamten Wirtschaft einen Modernisierungsschub verleihen.
Als weitere Schritte des Wirtschaftsprogramms ist eine stärkere Binnenorientierung der Wirtschaft im Rahmen eines Programms zur Substitution von Importen vorgesehen. Auf politischer Ebene soll der Aufbau neuer Allianzen vorangetrieben werden, um die sich herausbildende multipolare Ordnung aktiv mitzugestalten. Diese Bündnispolitik hat insbesondere China, den postsowjetischen Raum und den Nahen Osten im Auge.
Die exportorientierte Fertigungsindustrie soll durch gezielte Förderung international konkurrenzfähiger werden. Beloussow hält das für dringend notwendig: „Heute sind unsere Waren nicht in China, nicht in Indien, nicht in Vietnam. Damit die Waren dorthin gelangen, müssen wir Wettbewerbsvorteile für unsere Produzenten schaffen.“
Es wird deutlich: Der Kriegskeynesianismus ist Teil einer langfristigen industriepolitischen Modernisierungsstrategie des nationalkonservativen Lagers in der Staatsführung.2 Die Strategie wird insbesondere von der russischen Rüstungs- und Agrarindustrie wie auch von der Maschinenbaubranche begrüßt und unterstützt.
Diese Branchen waren im Zuge der neoliberalen Transformation, die nach der Auflösung der Sowjetunion einsetzte, schlagartig der westlichen Konkurrenz ausgesetzt. Die Jelzin-Regierung hatte mit dem forcierten Abbau von Zöllen und Subventionen den russischen Markt in kürzester Zeit für ausländische Unternehmen geöffnet. Da die einheimischen Unternehmen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht mithalten konnten, kam es zu Massenentlassungen und einer partiellen Deindustrialisierung.
Die protektionistische und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik des Kriegskeynesianismus bedient jedoch nicht nur die Interessen der produzierenden Sektoren, sondern durchaus auch die der Oligarchie. Trotz der westlichen Sanktionen ist die Zahl der russischen Milliardäre weiter gestiegen und erreichte 2024 ihren vorläufigen Höchststand. Die entstammen überwiegend immer noch der Rohstoffbranche, vor allem dem Öl- und Gassektor.
Aber auf den Spitzenplätzen der Vermögensrangliste finden sich heute mit Wladimir Lisin (Rang 3), Alexei Mordaschow (Rang 4) und Alischer Usmanow (Rang 8) auch drei Stahlmagnaten. Deren Geschäftsmodell beruht darauf, den Rüstungssektor mit Vorprodukten zu beliefern. Zu den großen Gewinnern gehören auch Wiktor Charitonin und Egor Kulkow mit ihrem Unternehmen Pharmstandard, das davon profitiert, dass sich viele westliche Pharmakonzerne seit der Invasion in die Ukraine vom russischen Markt zurückgezogen haben.
Der Übergang zu einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik ist auch zum Vorteil der Arbeitnehmer in den Produktionsbereichen, die bei der kapitalistischen Transformation noch die großen Verlierer waren. Die durchschnittlichen Löhne in diesen Sektoren stiegen 2024 um 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In der Rüstungsindustrie samt Zulieferbranchen ist der Anstieg noch höher: Der größte russische Panzerhersteller Uralwagonsawod hat die Löhne im Mai um 12 Prozent und im August um weitere 28 Prozent erhöht.
Dennoch bleibt der wirtschaftspolitische Kurswechsel innerhalb der Elite umstritten. Bis zum Einmarsch in die Ukraine war die EU der wichtigste Abnehmer russischer Rohstoffe, doch seither bemühen sich viele EU-Staaten um eine Diversifizierung ihrer Öl- und Gasimporte. Das führte zu einer Krise des Rohstoffsektors, die sich am deutlichsten in der Entwicklung von Gazprom abbildet.
Die Gaslieferungen nach Europa brachten dem Unternehmen bis 2022 etwa 10 Milliarden US-Dollar jährlich ein. Ende 2023 meldete es zum ersten Mal in 25 Jahren Verlust. Zwar liefert Gazprom inzwischen mehr teures Flüssiggas in die EU, doch auch dieses Geschäft dürfte künftig einbrechen, da viele Länder, darunter Deutschland, langfristige Lieferverträge mit den USA, Senegal und Katar abgeschlossen haben.
Die Exporte nach China und Zentralasien können den Verlust der EU-Kunden nicht ausreichend kompensieren. 2023 lieferte Gazprom 22,7 Milliarden Kubikmeter Gas nach China, die Einnahmen lagen bei 5,5 Milliarden US-Dollar. Doch mit dem Verkauf derselben Gasmenge auf dem europäischen Markt hätte das Unternehmen 12,5 Milliarden Dollar eingenommen, also mehr als doppelt so viel.
Die Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Elite um den wirtschaftspolitischen Kurs stehen in direktem Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf des Ukrainekriegs. Bei der Rohstofffraktion hegt man die Hoffnung, die EU und die USA könnten im Falle eines Friedensabkommens ihre Sanktionen aufheben. Auf diese Perspektive setzt etwa der Aluminiummagnat Oleg Deripaska, der den Ukrainekrieg im August 2024 gegenüber der japanischen Zeitung Nikkei Asia als „wahnsinnig“ bezeichnet und einen „sofortigen, bedingungslosen Waffenstillstand“ gefordert hat.3
Demgegenüber haben relevante gesellschaftliche Gruppen – insbesondere Management und Belegschaften der produzierenden Industrie – dieselben Interessen wie die nationalkonservativen Kräfte in der Politik. Beide setzen auf einen Dauerkonflikt mit dem Westen (und der Ukraine) oder zumindest auf die Fortsetzung des Kriegskeynesianismus, von dem die einen materiell, die anderen politisch profitieren.
Doch weder der Kriegskeynesianismus noch ein modernisiertes, aber immer noch auf den Rohstoffexport orientiertes Wirtschaftsmodell sind geeignet, die vielfältigen Herausforderungen zu bewältigen, die auf die russische Gesellschaft zukommen. Im Gegenteil: Beide Modelle werden die bestehenden Widersprüche nur verschärfen.
Eine Kehrseite des aktuellen Wirtschaftsaufschwungs ist die hohe Inflation, die im September 2024 auf 21 Prozent anstieg. Zwar können die Lohnzuwächse in den produzierenden Sektoren die Teuerung der Lebenshandlungskosten ausgleichen und die Lage der Beschäftigten sogar verbessern, aber das gilt nicht für den Dienstleistungssektor, in dem die Realeinkommen deutlich sinken.
Eine ähnliche Kluft tut sich auch zwischen den russischen Regionen auf: Die industrialisierten Zentren in Westrussland und im Ural profitieren vom Kriegskeynesianismus, im europäischen Norden und im Nordkaukasus dagegen bleibt eine dynamische ökonomische Entwicklung aus. Und die staatliche Steuerung der Wirtschaft dürfte die soziale und regionale Ungleichheit sogar noch verschärfen.
Unklar ist aber auch, wie lange die russische Regierung ihre Nachfragepolitik fortsetzen kann. Da die im Westen deponierten russischen Devisenvermögen eingefroren wurden, verfügt die Putin-Administration nur noch über Mittel aus dem Nationalen Vermögensfonds. Doch dessen liquide Reserven sind von 117 Milliarden US-Dollar auf 31 Milliarden im November 2024 geschmolzen.
Steht die russische Wirtschaft also doch vor einem Kollaps? Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schreibt: „Für die Beurteilung der langfristigen Tragfähigkeit der Kriegsanstrengungen ist nicht das Risiko von Finanzkrisen entscheidend, sondern die Frage, wie stark oder wie schwach die russische Wirtschaft ist.“4
Die Frage lautet also: Vermag die russische Regierung mit dem Kriegskeynesianismus einen Wirtschaftsaufschwung in Gang zu setzen, der sich künftig selbst trägt? Die Antwort lautet, dass die Chancen aufgrund der geringen Diversifizierung der russischen Industrie begrenzt sind. Zumal keine Strategie absehbar ist, die mögliche technologische Innovationen aus dem Rüstungssektor für eine nachhaltige Entwicklung des schwachen Konsumgüterbereichs nutzbar machen könnte.
Damit bleibt der Öl- und Gassektor auf absehbare Zeit das Rückgrat der russischen Wirtschaft. Allerdings wird die Bedeutung des Rüstungssektors und damit der Maschinenbau- und der Zulieferindustrie weiter zunehmen, und das umso mehr, je länger der Krieg dauert.
Das nationalkonservative Modernisierungsprogramm verändert Russland nicht nur ökonomisch, es hat auch langfristige politische Folgen. Die eingeschlagene Industriepolitik stärkt den Rückhalt für Putin bei den sogenannten Transformationsverlierern. Damit kann das Regime die soziale Basis seiner Herrschaft erweitern. Zugleich wächst der Einfluss der nationalkonservativen Kräfte innerhalb der Elite, was die großrussische, antiliberale Ausrichtung von Staat und Politik verstärkt.
Verstärkt wird andererseits aber auch die soziale und regionale Polarisierung. Diese Entwicklung droht die vorhandenen Konflikte im Innern wie im Verhältnis zu anderen Staaten weiter zu verschärfen. Das gilt insbesondere für den postsowjetischen Raum. Für die globalen Ambitionen Moskaus ist diese Region zentral. Aber genau in dieser wichtigen Region mischen konkurrierende Kräfte mit. Neben den USA und der EU sind vor allem China und die Türkei dabei, ihren Einfluss weiter zu stärken.
1 Siehe David Teurtrie, „Warum die Sanktionen gegen Russland scheitern“, LMd, Juni 2024.
Felix Jaitner ist Politikwissenschaftler und Fellow beim Institute for Global Reconstitution (IGRec).
© LMd, Berlin