India House, 1905
von Mithu Sanyal

Im Sommer 2022 stand ich vor einem roten Backsteinhaus in London und machte Fotos wie ein Stalker. Irgendwann überwand ich mich zu klingeln. Keine Reaktion. Auf halbem Weg zurück zum Bahnhof fiel mir ein, dass so ein großes Haus früher einen Dienstboteneingang gehabt haben musste. Diesmal öffnete ein Mann und ich sprudelte hervor, dass ich eine Schriftstellerin aus Deutschland sei und sein Haus die Hauptrolle in meinem neuen Roman spielte.1
„Noch so eine“, seufzte er – damals wusste ich noch nicht, dass Inder:innen busweise in die Cromwell Avenue pilgern und bei ihm klingeln –, dann zwinkerte er mir zu und lud mich auf eine Besichtigungstour durch das Gebäude ein, das als India House zwischen 1905 und 1910 ein Zentrum des antikolonialen Widerstands gewesen war: „Und in unserem Schlafzimmer haben sie damals die Bomben gebaut.“
Während India House in Indien eine Legende ist, hat in Deutschland so gut wie niemand jemals davon gehört.
Um ehrlich zu sein, hatte ich auch noch nie davon gehört.
Bis Narendra Modi 2014 Premierminister wurde und erklärte, sein größtes Vorbild sei Vinayak Damodar Savarkar. Damals ging ein Aufschrei des Entsetzens durch Indien, und ich wollte alles über Mr. Hindutva wissen – also über den Mann, der uns den Hindunationalismus eingebrockt hat. Das wäre jetzt ein noch drastischerer Satz, wenn Savarkar und Hindutva in Deutschland nicht ähnlich unbekannt wären wie India House.
Warum weiß die eine Hälfte der Welt nicht, was die andere Hälfte der Welt denkt? Es nennt sich Kolonialismus.
Um dagegen zu kämpfen, kam Savarkar Anfang des 20. Jahrhunderts nach London und nahm umgehend Kontakt zur irischen Sinn Féin auf, die ihn mit Waffen versorgte. Ich konnte es nicht fassen. Schließlich war ich damit aufgewachsen, dass wir den richtigen – sprich: gewaltfreien – Widerstand geleistet hatten, und jetzt lernte ich, dass es nicht nur einen bewaffneten Widerstand gegeben hatte, sondern dass Indien ohne diesen wahrscheinlich noch immer eine britische Kolonie wäre. Oder zumindest sehr, sehr viel länger gewesen wäre. Anfang des 20. Jahrhunderts gingen zahlreiche Revolutionäre nach Europa, weil die Briten in Indien jeglichen Widerstand mit drakonischen Strafen unterdrückten, aber auch weil sich die Freiheitskämpfer mit den internationalen Befreiungsbewegungen vernetzen wollten. Über diese geteilte Geschichte des Widerstands hier in Europa wollte ich schreiben.
Fangen wir am Anfang an. Gegründet wurde India House von dem Rechtsanwalt und Sanskrit-Gelehrten Shyamji Krishna Varma. Inspiriert von der irischen Autonomiebewegung Irish Home Rule Society, gründete er 1905 die Indian Home Rule Society. Zudem forderte er – und das war wirklich radikal – die komplette Freiheit Indiens. Selbst der Indische Nationalkongress (Vorgänger der heutigen Kongresspartei) verlangte nur mehr Selbstverwaltung, aber keineswegs die Unabhängigkeit.
„Die Briten sind von Gott zum Wohle des indischen Volkes bestimmt“, glaubte sogar Gandhis Mentor Dadabhai Naoroji. Dabei hatte er in seinem bahnbrechenden Buch „Poverty and un-British Rule in India“, das 1901 im Londoner Verlag S. Sonnenschein & Co erschien, nachgewiesen, wie die Briten Reichtum und Bodenschätze aus Indien saugten und nichts als Hunger und Tod hinterließen – nur dachte er, die Kolonialverwaltung täte dies ohne das Wissen der Regierung in London.
Das war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Propaganda nach der indischen Revolution von 1857, die die Engländer „die indische Meuterei“ nannten und Savarkar „den ersten indischen Unabhängigkeitskrieg“.2 Damals erklärte der 14. Earl of Derby im Parlament: „Das Ziel ist, den Eingeborenen klarzumachen, dass die Engländer ihre Herren und Meister sind, und dass wir ihre Wohltäter sind.“ Es ist immer schön, sich für seine Unterdrückung noch bedanken zu müssen.
1905 gründete Krishna Varma eine Zeitschrift mit dem ungeheuer modernen Namen The Indian Sociologist, kaufte das Haus in der Cromwell Avenue und ließ es zu einem Wohnheim für indische Studenten umbauen, inklusive Bibliothek und Tennisplatz. Die Bibliothek benannte er nach seinem Freund Henry Hyndman, dem Gründer der radikal antikolonialen Social Democratic Federation. Zur Eröffnung des India House hielt Hyndman eine Rede, die mit den Worten begann: „Loyalität mit Großbritannien bedeutet Verrat an Indien. Es sind die Maßlosen, die Entschlossenen, die Fanatiker, die die Rettung Indiens herbeiführen werden.“

Im Schlafzimmer bauten sie die Bomben
In der Folge gaben sich die Maßlosen und Entschlossenen in India House die Klinke in die Hand. Savarkar zog als Stipendiat ein; Lenin kam mehrfach zu Besuch; Suffragetten wie Charlotte Despard gingen ein und aus; es gab Kontakte zu Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Mustafa Kemal. Und dann waren da noch die ganzen indischen Revolutionäre wie Lala Har Dayal, der 1913 die Ghadar-Bewegung zum Sturz des britischen Empires gründen sollte, oder Asaf Ali, M. P. T. Acharya, V. V. S. Aiyar …
Es ist bezeichnend, dass Durga, die Hauptfigur meines Romans, die durch eine Zeitreise ebenfalls in India House landet, hauptsächlich die weißen Aktivist:innen erkennt – mit Ausnahme von Gandhi, der damals noch nicht Mahatma genannt wurde. Diese Auszeichnung behielten sich die Revolutionäre für den italienischen Freiheitskämpfer Mazzini vor, dessen Schriften Savarkar ins Marati übersetzte. Und er fügte einen Essay hinzu, bei dem seine Leserschaft – das Buch wurde 1907 von Savarkars Bruder in Indien veröffentlicht – Italien nur durch Indien ersetzen musste, um ihn als Anleitung für den Widerstandskampf zu dekodieren. Kampf im Sinne von bewaffnetem Kampf.
Gandhi war not amused. Als er 1906 das erste Mal nach India House kam, briet Savarkar gerade Krabben. „Bist du kein Vegetarier?“, fragte Gandhi, als wollte er sagen: Bist du kein Hindu? „Wenn du nicht mit uns essen kannst, wie willst du dann mit uns arbeiten?“, fragte Savarkar verächtlich. „Das ist nur gebratener Fisch. Wir brauchen Leute, die bereit sind, die Briten bei lebendigem Leib zu verspeisen.“
Diese Szene ist so ikonisch, dass ich gerne behaupten würde, ich hätte sie mir ausgedacht. Doch ist sie aus zahlreichen Quellen verbrieft. Die Revolutionäre protokollierten ihre Aktionen nicht nur selbst, sie wurden auch durch einen Spitzel des britischen Geheimdienstes überwacht. Dessen Chef, William Hutt Curzon Wyllie, schleuste sogar einen Spion ins India House ein, der aber von Savarkar und Aiyar enttarnt wurde. Danach diktierten sie ihm die Berichte, die er wöchentlich an Curzon Wyllie schickte.
Denn sie hatten einiges zu verbergen: dass Savarkar die Soldaten der Indian National Army, die bis auf die Offiziere aus Indern bestand, aufforderte, überzulaufen, dass es Verhandlungen mit ägyptischen Freiheitskämpfern über eine Blockade des Suezkanals gab und dass sich eine Delegation von India-House-Abgesandten in Paris aufhielt, um von dem russischen Anarchisten Nicolas Safranski das Bombenbauen zu lernen. Dummerweise war die 50-seitige Bombenbauanleitung ebenfalls auf Russisch und die Übersetzung dauerte über ein Jahr.
Am 29. April 1908 explodierte die erste Bombe in Indien. Allerdings erwischte sie nicht den verhassten Richter Douglas Kingsford, der Bürgerrechtler gnadenlos zum Galgen schickte, sondern zwei irische Frauen und deren Dienstboten. Dieses Attentat stellte mich vor die größte Herausforderung beim Schreiben. Bis dahin waren die Abenteuer der India-House-Belegschaft Freiheitskampfromantik pur gewesen – mit dem Bonus, dass dieser absolut gerechtfertigt war und gewonnen werden würde. Plötzlich wurde er nicht nur mit Knochensplittern und Blut durchtränkte Realität, es war auch nicht mehr so einfach zu sagen, wer die Opfer waren und wer die Täter.
Also erklärte Durga in meinem Roman genau das Savarkar. „Warum weinst du um die beiden englischen Ladys?“, fragte Savarkar. – „Irischen Ladys“, fauchte ich. „Irinnen, wie die Fenians, die dir deine Waffen liefern.“ – „Iren werden in Irland von den Briten unterdrückt. Aber Iren in Indien sind Briten“, sagte Savarkar. „Einer von ihnen wird getötet und wir können uns nicht halten vor Weinen, während unsere Jugend erschlagen wird! Allein die Bombe stellt sicher, dass wir nicht mehr die Einzigen sind, die leiden.“
Doch zunächst vervielfachte die Bombe das Leid: Der 18-jährige Attentäter wurde gehängt, und es folgte eine Verhaftungswelle. Savarkars älterer Bruder Ganesh wurde für drei revolutionäre Gedichte und eine Kopie der Bombenbauanleitung zu einer lebenslangen Haft im berüchtigten Gefängnis Kala Pani verurteilt. Danach gab Savarkar seinem Mitbewohner Madan Lal Dhingra eine Pistole und sagte, er solle ihm nicht mehr unter die Augen treten, bis er es getan hatte. „Es“ war die Hinrichtung von Curzon Wyllie: Am 1. Juli 1909 wurde er von Dhingra erschossen.
Das war das Ende von India House.
Dhingra wurde zum Tode verurteilt, Savarkar zu zweimal „lebenslänglich“. „Endlich haben die Engländer die Bedeutung der Wiedergeburt verstanden“, kommentierte er. Der Rest der Bewohner verstreute sich in alle Welt. Lala Har Dayal ging in die USA, bis es auch dort zu heiß für ihn wurde und er zu der Ex-India-House-Crew in Berlin stieß und mit ihr die Hindu-German Conspiracy organisierte. Krishna Varma floh über Paris nach Genf, wo er den Vereinten Nationen anbot, ihnen einen Lehrstuhl zu spenden, um die besten Methoden zum Erreichen der Unabhängigkeit zu erforschen. Die Vereinten Nationen waren nicht interessiert.
Bis zu Indiens Unabhängigkeit 1947 waren nahezu alle Revolutionäre tot. Savarkar war einer der wenigen Überlebenden. Doch er war nun ein anderer Mann. Er warb nicht mehr für den Hindu-Muslim-Zusammenhalt wie im India House, sondern predigte Hindutva.
1976 gaben die Briten dem Gesuch statt, Madan Lal Dhingras Leichnam nach Indien zu überführen. Auch Krishna Varma hatte in seinem Testament verfügt, dass seine Asche – und die seiner Frau – nach der Unabhängigkeit nach Indien zurückgebracht werden sollten. Doch als es so weit war, interessierte sich niemand mehr für ihn. Seine Asche kam erst 2003 nach Hause und wurde 2010 im India House bestattet. Denn auch das India House kam nach Indien. 100 Jahre nachdem es in London geschlossen worden war, bauten es die Inder Stein für Stein in Gujarat nach.
1 „Antichristie“, München (Hanser) 2024.
2 Siehe William Dalrymple, „Delhi 1857: Ein Lehrstück“, LMd, August 2007.
Mithu Sanyal ist Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin. Dieser Text ist ein Vorabdruck aus der LMd-Edition Nr. 37: „Indien. Modi und die Farbe der Macht“, Berlin (taz verlag), die am 1. April 2025 erscheint.
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