13.02.2025

Stillstand in Chile

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Stillstand in Chile

Es gibt kein gutes Regieren unter der falschen Verfassung

von Víctor de la Fuente und Libio Pérez

Santiago, 27. Oktober 2024: Stimmabgabe bei den Kommunalwahlen LUCAS AGUAYO ARAOS
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Noch heute besitzt in Chile 1 Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Vermögens.1 „Seit wir 2019 begonnen haben, gegen die Ungleichheit im Land aufzustehen, hat sich in der Sache nicht wirklich etwas verändert“, seufzt Ig­na­cio Puelma, einer der Unermüdlichen, die zwischen Oktober 2019 und März 2020 auf der Straße waren, als sich die Proteste gegen die Regierung des mittlerweile verstorbenen Präsidenten Sebastián Piñera (1949–2024) zu einer sozialen Explosion (Estallido social) auswuchsen.

Allein am 25. Oktober gingen in der Hauptstadt Santiago an die 2 Millionen Menschen auf die Straße; am 12. November folgte der Generalstreik, ein in der Geschichte des Landes nie dagewesenes Ereignis.

Der Volksaufstand richtete sich gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell, das 1980 unter der Pinochet-Diktatur (1973–1990) in die Verfassung aufgenommen wurde: Selbst die öffentliche Daseinsfürsorge war seitdem der Logik des Markts unterworfen. Daher lautete die Hauptforderung der Volksbewegung, die ein Referendum 2020 nochmals bekräftigte: Das Land braucht eine neue Verfassung.

In der Folge kam es zwischen 2021 und 2023 zu zwei Initiativen:2 erst der Verfassungskonvent und nach dessen Scheitern der Verfassungsrat. Beide Verfassungsentwürfe wurden jedoch in Referenden – im zweiten Fall sogar mit obligatorischer Wahlbeteiligung – mehrheitlich abgelehnt. Deshalb gilt immer noch die alte Pinochet-Verfassung. Und das bremst natürlich die gegenwärtige linke Regierung unter Gabriel Boric aus, der mit Rückenwind der Volksbewegung im Dezember 2021 den rechtsextremen Kandidaten José Antonio Kast (Partido Republicano, PR) schlagen konnte.3

Beide Verfassungsinitiativen scheiterten letztlich an der gleichen Dynamik: Sie repräsentierten nicht das Meinungsbild innerhalb der chilenischen Gesellschaft. Während im Verfassungskonvent die Unabhängigen der Protestbewegung und die Linken die Mehrheit hatten, dominierten die extremen Rechten und Konservativen den Verfassungsrat.

Dass im Konvent die Delegierten zu zwei Dritteln aus dem unabhängigen und linken Lager kamen, hat aber nicht nur mit dem anhaltenden Engagement einzelner Akteure der Protestbewegung zu tun. Es ist auch der Verweigerungshaltung der Regierung Piñera geschuldet: 57 Prozent der Stimmberechtigten beteiligten sich dadurch nicht an der Wahl der Delegierten. Schuld daran war in erster Linie die Ablehnung der Konservativen und der rechten Mitte, die das Prozedere einer Verfassungsänderung, das der Protestbewegung zugestanden worden war, nicht legitimieren wollten.

Bei der Wahl des Verfassungsrats 2023 herrschte deshalb Wahlpflicht. Mit den Stimmen der Rechten und der rechten Mitte ging fast die Hälfte der Sitze an die extreme Rechte von Kast, der sich mit seinen Angriffen sowohl gegen die Linken als auch den früheren Präsidenten Piñera profiliert hatte. Zusammen mit der traditionellen Rechten entfielen somit insgesamt zwei Drittel der Sitze auf das konservative Lager. Und das vor dem Hintergrund, dass Boric’ Beliebtheit eher mittelmäßig ist. Seit seiner Wahl pendeln die Zustimmungswerte für ihn zwischen 25 und 35 Prozent.

In beiden Fällen hat also die Stimmung der Bevölkerung die verfassunggebenden Prozesse zuungunsten der jeweils amtierenden Regierung beeinflusst. Beide Lager haben in dem von ihnen dominierten Gremium dieselbe zum Scheitern verurteilte Strategie verfolgt: die Formulierung von Verfassungstexten in maximaler Übereinstimmung mit ihren politischen Programmen. So standen im ersten Entwurf Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, sexuelle Diversität und die Rechte der autochthonen Völker im Zentrum. Dagegen liefen große Teile der Unter- und Mittelschichten Sturm. Am 4. September 2022 lehnten bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent 62 Prozent der Chileninnen und Chilenen den Entwurf ab.

Zwei gescheiterte Grundgesetzentwürfe

Der Entwurf des Verfassungsrats war sogar noch konservativer als die Pinochet-Verfassung von 1980: Die Rechten strichen das 2017 eingeführte Recht auf Abtreibung nach einer Vergewaltigung, bei Lebensgefahr für die Mutter oder wenn der Fötus nicht lebensfähig ist. Die Rolle des Staats in der Gesundheitsversorgung und der Rentenversicherung wollten sie zugunsten von „gemischten Systemen“ aus öffentlicher Hand und Privatwirtschaft weiter einschränken. Diese Fassung, die am 17. Dezember 2023 von 55 Prozent der Wahlberechtigten abgelehnt wurde (bei der gleichen Wahlbeteiligung wie 2022), empörte die Mehrheit der Frauen und die junge Wählerschaft.

Dieser lange und pannenreiche Prozess offenbart die tiefen sozialen, politischen und kulturellen Risse in der chilenischen Gesellschaft. Und er zeigt, welches Gewicht die moderate und konservative Wählerschaft hat, die gewisse fortschrittliche Entwicklungen durchaus unterstützen könnte, solange sie das soziale Gefüge nicht infrage stellen. Chile ist offenkundig nicht in der Lage, einen Konsens über die notwendigen Veränderungen zu erzielen. Keines der großen sozialen Probleme wurde gelöst. Nach wie vor zwingt Pinochets Verfassung Präsident Boric einen wirtschaftsliberalen Kurs auf.

Darüber hinaus ist seine Handlungsfähigkeit auch durch die politische Konstellation eingeschränkt, und das hat mit den Umständen seiner Wahl zu tun. Der ehemalige Studentenführer hat zwar die Stichwahl mit rund 56 Prozent der Stimmen gegen seinen Kontrahenten José Antonio Kast gewonnen, der 44 Prozent erreicht hat. Aber dieser Sieg basierte auf einer sehr geringen Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang – rund 45 Prozent der Wahlberechtigten haben nicht gewählt – und einer massiven Mobilisierung im zweiten Wahlgang durch eine breite demokratische Koalition.

Das Bündnis aus revolutionär-linken bis bürgerlichen Parteien wollte im letzten Moment die drohende Gefahr einer rechtsextremen Regierung abwenden. Denn beim ersten Wahlgang am 21. November 2021 hatte Gabriel Bo­ric nur 25 Prozent der Stimmen bekommen, während Kast durch die Unterstützung der Rechten mit knapp 28 Prozent in Führung lag.

Der Verfassungsmarathon begann bereits 2020. Boric hatte im Wahlkampf und nach seinem Einzug in den Moneda-Palast im März 2022 mehrere Reformen versprochen, die Forderungen des Aufstands von 2019 aufgriffen: mehr soziale Rechte, Änderungen im Steuersystem zugunsten einer größeren Steuergerechtigkeit, ein Ende der Privatisierung des Rentensystems. Doch ihre Umsetzung ist nur unter zwei Voraussetzungen möglich: eine Änderung der Verfassung und ein parlamentarisches Bündnis, das diese radikale Transformation mitträgt.

Gabriel Boric ist zwar gewählter Präsident, verfügt aber in dem aus Abgeordnetenkammer und Senat bestehenden Kongress über keine Mehrheit, die es ihm erlauben würde, sein Programm in die Tat umzusetzen. Vertreten sind im Parlament 20 Parteien, und bis heute dominieren rechte Kräfte beide Kammern.

Um Gesetze verabschieden zu können, ist die Regierung auf eine pragmatische Allianz mit den Sozial- und Christdemokraten angewiesen, die das Land nach der Diktatur 20 Jahre lang regiert haben. Doch deren Agieren im Kongress und in den Ministerien behindert den von Boric angestrebten Wandel. Ohne eine Strategie zu haben, wie er die zivilgesellschaftlichen Bewegungen für seine Vorhaben gewinnen könnte, setzte der Präsident darauf, „die Institutionen der Republik zu bewohnen“. In dem politisch zersplitterten Land arbeitete er auf einen parlamentarischen Konsens hin. Doch auf diesem Weg konnte er seine emblematischen Reformen für das Steuer- und Rentensystem nicht durchsetzen.

Einiges hat er jedoch nach zähen Verhandlungen erreicht: So wird innerhalb der nächsten fünf Jahre die gesetzliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden reduziert; rund 5 Millionen Menschen aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung können sich in staatlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos behandeln lassen; der Mindestlohn wurde auf etwas weniger als 500 Euro pro Monat erhöht und die Einnahmen durch eine neue Bergbau­steuer soll den ärmsten Gemeinden zugutekommen.

Präsident Boric mit dem Rücken zur Wand

Unter dem Druck rechtsgerichteter Parteien stehen jedoch Sicherheitsfragen ganz oben auf der politischen Agenda. Die Zahl der Tötungsdelikte ist zwischen 2018 und 2023 um 38 Prozent ge­stie­gen.4 Das hat vor allem mit dem zunehmenden Drogenhandel in Chile und ganz Lateinamerika zu tun. Zudem muss sich Gabriel Boric mit einer Migrationskrise infolge der instabilen Verhältnisse in Haiti und Venezuela beschäftigen: Venezolanische Staatsangehörige stellen 38 Prozent der 1,9 Mil­lionen in Chile registrierten Einwanderer (Haitianer 10 Prozent) und 75 Prozent der Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere, deren Anteil an der Gesamtzahl der Migranten bei 17 Prozent liegt.5 Auch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona­pandemie mussten bewältigt und die hohe In­fla­tion bekämpft werden. Sie hat sich 2024 bei 4,5 Prozent einge­pegelt.

Wir befinden uns jetzt bereits auf der Zielgeraden zu den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die für den 16. November und – im Fall einer Stichwahl um die Präsidentschaft – 14. Dezember geplant sind. Da in Chile keine zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten erlaubt sind, kann der amtierende Präsident nicht antreten. Umfragen deuten darauf hin, dass derzeit das rechtskonservative Lager die Nase vorn hat, als deren Kandidatin Evelyn Matthei von der Unión Demócrata Independiente (UDI) im Gespräch ist. Sie war von 2016 bis 2020 Bürgermeisterin der Ge­meinde Providencia im Großraum Santiago.

Gleichwohl deuten die Ergeb­nisse der Kommunal- und Regionalwahlen vom Oktober und November 2024 auf ein eher offenes Rennen hin. Sie brachten Einbußen für die Koa­li­tion des Präsidenten, aber keineswegs einen Einbruch. In 8 von insgesamt 16 Re­gio­nen stellen Vertreter der Linken die Gouverneurin beziehungsweise den Gouverneur, gegenüber 6, die von rechten oder konservativen Regierungen geführt werden; in 2 Regionen stehen Unabhängige an der Spitze.

Auf kommunaler Ebene verlor das Lager des Präsidenten rund 40 Gemeinden an die Rechten, darunter die Hauptstadt Santiago, behauptete sich aber in 111 Gemeinden. Insgesamt weitete das rechte Wahlbündnis Chile Vamos seine Machtposition auf 122 Rat­häu­ser aus. Der Vormarsch von José Antonio ­Kasts rechtsextremer Partei Partido Republicano, mit der Chile Vamos um die Vormachtstellung innerhalb des rechten Lagers auch in Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen konkurriert, hielt sich in Grenzen. ­Kasts Partei, geschwächt durch ihr Scheitern mit dem Verfassungsrat, konnte lediglich 8 Gemeinden für sich gewinnen.

Eine Kontinuität in der Regierung ist also nicht chancenlos – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Die Linke muss an dem breiten Bündnis gemäßigter Kräfte festhalten, das mit Boric an der Spitze vier Jahre regiert hat. Dafür wird es nötig sein, sich mit den Sozialdemokraten und Teilen der Zentrumsparteien auf ein Verfahren zu einigen – vielleicht in Form von Vorwahlen –, um mit einem gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaft und einer gemeinsamen Liste für die Parlamentswahl anzutreten. Wenn das geschieht und eine gemeinsame Linie gefunden wird, könnte an der Spitze des Staats jemand aus dem eher linken Lager stehen.

Nur die tiefgreifenden Forderungen des Volksaufstands von 2019 werden in Chile noch immer nicht erfüllt sein.

1 Rafael Carranza, Mauricio De Rosa und Ignacio Flores, „Wealth inequality in Latin America“, Interamerikanische Entwicklungsbank, Juni 2023.

2 Siehe Franck Gaudichaud, „Der lange Abschied von Pinochet“, LMd, April 2021; und Víctor de la Fuente und Libio Pérez, „Für eine bessere Demokratie“, LMd, September 2022.

3 Siehe Franck Gaudichaud, „Neuanfang in Chile“, LMd, Januar 2022.

4 Zahlen nach „2018–2023: Evolución de los homicidios“, der Analyseplattform öffentlicher Daten decidechile.cl.

5 Siehe Maolis Castro, „Radiografía de la migración en Chile: crece un 46,8 % en cinco años y la mayoría son venezolanos“, El País, 2. Januar 2025.

Aus dem Französischen von Christian Hansen

Victor de la Fuente und Libio Pérez sind Leiter beziehungsweise Herausgeber der chilenischen LMd-Ausgabe.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2025, von Víctor de la Fuente und Libio Pérez