Wie weit reicht der türkische Einfluss in Syrien?
von Günter Seufert

Wer Assad zu Fall gebracht hat, könne niemand sagen, orakelte Donald Trump am 16. Dezember 2024 – „aber ich weiß es: die Türkei“. Damit vermittelte der gerade wiedergewählte US-Präsident nicht nur den Eindruck, vor seiner Amtseinführung von den US-Geheimdiensten exklusiv gebrieft worden zu sein. Er trug auch dazu bei, dass die Türkei weithin als entscheidender Akteur für die Zukunft Syriens gilt. Denn für Trump steht fest: „Die Türken kontrollieren die Leute, die reingekommen sind. ... Sie sind letztendlich die Gewinner.“
Drei Tage zuvor hatte Präsident Erdoğan mit der türkischen Opposition abgerechnet, die Ankaras Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg kritisiert hatte: „Begreift Ihr jetzt, weshalb wir in Syrien sind?“ Mit dieser rhetorischen Frage beanspruchte er für seine Regierung eine zentrale Rolle bei den Entwicklungen im Nachbarland.
Auch für die Rebellen, die am 30. November 2024 ins Zentrum von Aleppo vorstießen, war die Türkei der alles entscheidende Partner. Auf der Zitadelle, dem Wahrzeichen der Stadt, hissten sie neben ihrer eigenen Fahne die Flagge der Türkei. Keinesfalls zu Unrecht. Denn die Kämpfer des Komitees zur Befreiung der Levante (Hai’at Tahrir asch-Scham, HTS) haben die Stellungen des Assad-Regimes in Aleppo, Hama und Damaskus nicht im Alleingang geschleift.
An der Seite der HTS marschierte die sogenannte Syrisch-Nationale Armee (SNA). Diese Truppe war bereits 2011 (damals als Freie Syrische Armee, FSA) unter türkischer Regie aus einer Fusion diverser muslimischer und islamistischer Gruppen entstanden.
Ankara bildet die SNA-Kämpfer aus, versorgt sie mit Waffen und Gerät und zahlt ihnen Sold. Gleich nach dem Fall Aleppos begannen große Teile der SNA im Auftrag der türkischen Regierung und mit Unterstützung der türkischen Luftwaffe, die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten Syriens anzugreifen. Den Angriff auf Damaskus überließ die SNA der HTS. Auch die HTS selbst wäre ohne die Hilfe Ankaras niemals zu der schlagkräftigen Truppe geworden, die Damaskus gestürmt hat.
Idlib, die syrische Provinz im Nordwesten des Landes, von wo die HTS-Kämpfer ihren Marsch nach Damaskus starteten, war seit 2014 das letzte von islamistischen Rebellen gehaltene Gebiet in Syrien. Von allen Seiten eingekesselt – von kurdischen Kämpfern, Assads Soldaten und mit dem Iran verbündeten Milizen – gab es für Idlib nur eine Verbindung zur Außenwelt. Alles lief über die Türkei: Austausch, Handel und der Nachschub an Menschen und Material.
In Idlib wandelte sich die HTS von einem Al-Qaida-Zweig, der den Dschihad in die ganze Welt tragen wollte, zur schlagkräftigen Miliz, die sich ganz auf die Befreiung Syriens von Assad konzentrierte. Auf Kosten konkurrierender Gruppen wurde die HTS zur bestimmenden Kraft und konnte die Verwaltung der Provinz übernehmen. Das gelang ihr nur durch die Unterstützung der Türkei.
Am 21. Dezember 2024 bekannte der türkische Außenminister Hakan Fidan im Fernsehsender France 24, er habe in seiner Zeit als Geheimdienstchef jahrelang mit der HTS kooperiert.1 Aber natürlich, so Fidan, nur um den „Islamischen Staat“ (IS) zu bekämpfen.
Zwar hatte die Türkei unter internationalem Druck die von der UN vorgenommene Einstufung der HTS als Terrororganisation übernommen. Doch hielten sich die türkischen Behörden bei der Ermittlung und Strafverfolgung gegen HTS-Netzwerke im eigenen Land auffallend zurück. Dagegen wurden türkische Journalisten, die über verdeckte Waffen- und Munitionslieferungen für Idlib berichteten, vor Gericht gestellt.2
Freilich bediente sich die Türkei in Syrien nicht nur der HTS und der von Ankara gegründeten SNA. Ende Januar 2025 berichtete Außenminister Fidan, dass die Regierung mit allen bewaffneten Gruppen der sunnitisch-arabischen Opposition im Austausch stand, die zusammen über circa 80 000 Kämpfer verfügten.3 Auch der Sprecher der Regierungspartei AKP, Ömer Çelik, bestätigte: „Unsere Geheimdienste waren immer vor Ort.“4
Trotzdem war man auch in Ankara überrascht, wie schnell das Assad-Regime kollabierte. Noch Ende September 2024 hatte Erdoğan versucht, mit dem syrischen Herrscher ins Gespräch zu kommen.
Heute heißt es in Ankara, die Türkei hat großen Anteil daran, dass die Eroberung von Damaskus mit relativ wenig Blutvergießen vonstatten ging. Der türkische Außenminister habe es vermocht, Moskau und Teheran davon zu überzeugen, dass Assad nicht mehr zu halten ist. So haben sich Russland und Iran entschieden, kampflos das Feld zu räumen und lieber ihre Soldaten und Milizen und, soweit möglich, deren Waffen in Sicherheit zu bringen, als einen bereits verlorenen Krieg weiterzuführen.5
Gegenüber dem Westen gibt sich Ankara als Fürsprecher der neuen Herrscher in Damaskus. Außenminister Fidan forderte energisch, die HTS von der UN-Liste der Terrororganisationen zu streichen und alle Sanktionen gegen Syrien aufzuheben. Und AKP-Sprecher Çelik argumentiert, dies sei praktisch bereits geschehen. Schließlich hätten sich der Außenminister Frankreichs, Jean-Noël Barrot, und Annalena Baerbock in Damaskus ganz offiziell mit Ahmad al-Scharaa getroffen.

Al-Scharaa wendet sich den Golfstaaten zu
Wie dankbar sind Syriens neue Herrscher der Türkei? Hat Burhan Köroğlu, der vorläufige Geschäftsträger der türkischen Botschaft in Damaskus, recht, wenn er meint, das Verhältnis zwischen Ankara und der neuen syrischen Regierung werde genauso sein wie das zwischen den Osmanen und ihrem Statthalter in Damaskus?6 Anleger an der Istanbuler Börse sehen das offenbar so. Sie glauben, dass beim Wiederaufbau Syriens der Löwenanteil der Aufträge an türkische Infrastrukturunternehmen geht. Die Aktienkurse türkischer Baustoffproduzenten stiegen nach Assads Sturz um Werte zwischen 5 und 10 Prozent.7
In den ersten Wochen sah es tatsächlich so aus, als würde in Damaskus künftig die Türkei den Ton angeben. Schon am 12. Dezember ließ sich der Chef des türkischen Geheimdienstes Ibrahim Kalın von Ahmad al-Scharaa persönlich in die Hauptmoschee der Stadt chauffieren, um dort die für Muslime vorgeschriebenen Gebete zu verrichten.
Der Auftritt war nicht nur frommes Spektakel. Ibrahim Kalın trat auch als Erdoğans Stellvertreter auf. Der hatte nämlich bereits am 5. September 2012, ein Jahr nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs, angekündigt, er werde dereinst Gott mit einem Gebet in der Moschee der Umayyaden für Assads Sturz danken.
Neun Tage nach dem Geheimdienstchef zeigte der türkische Außenminister als erster ausländischer Spitzendiplomat in Damaskus Flagge. Und am 24. Dezember verkündete der türkische Verkehrsminister einseitig, die Türkei werde schon bald mit der neuen syrischen Regierung ein bilaterales Abkommen aushandeln über die ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZs) beider Länder im östlichen Mittelmeer – offensichtlich zum Vorteil der Türkei und zum Nachteil Griechenlands und Zyperns.8
Das war vielleicht zu viel Getöse. Jedenfalls zeigte die neue Führung in Damaskus bald, dass sie nicht mehr, wie noch in Idlib, ausschließlich am türkischen Tropf hängt. Al-Scharaa sandte seine Minister nicht als Erstes nach Ankara, um Erdoğan die Aufwartung zu machen, sondern am 1. und 5. Januar nach Riad und Abu Dhabi, danach nach Doha und Amman und erst am 15. Januar nach Ankara.
Saudi-Arabien hatte bereits am 8. Dezember 2024, dem Tag von Assads Sturz, dem neuen Regime wirtschaftliche und humanitäre Hilfe gesandt und es ihm so ermöglicht, seinen politischen Spielraum zu vergrößern. Am 12. Januar 2025 fand die erste internationale Geberkonferenz für Syrien in Riad statt und nicht in Ankara oder Istanbul.
In Riad und Abu Dhabi ist man besorgt, dass Ankara in Syrien zu viel Einfluss gewinnen könnte. Schließlich hat die Türkei während der arabischen Aufstände in den 2010er Jahren die Muslimbruderschaft unterstützt. Weil er die unteren Volksschichten anspricht, stellt der politische Islam der Muslimbrüder für die Dynastien der Golfstaaten die allergrößte Gefahr dar. Die halten es deshalb für angeraten, die neue syrische Regierung zu umgarnen, damit der potenzielle Störenfried nicht zum Werkzeug der Türkei wird.
Der größte Dämpfer für die Hoffnung Ankaras, den Gang der Dinge in Syrien zu bestimmen, war jedoch die Weigerung der HTS, das türkische Angebot zu akzeptieren, die neu aufzubauende syrische Armee aufzustellen, auszubilden und auszustatten. Ein arabisches Land hätte ein besseres Angebot gemacht, lautete eine Meldung des britischen Economist, der Damaskus nicht widersprochen hat.9
Unabhängigkeit von Ankara demonstriert die neue Führung auch in der Handelspolitik. Um die inländische Produktion anzukurbeln, wurden Mitte Januar 2025 Lebensmitteleinfuhren aus der Türkei mit drastischen Zollerhöhungen belegt, was den türkisch-syrischen Grenzhandel fast vollständig zum Erliegen brachte.
Je weniger sich Erdoğan darauf verlassen kann, dass Syriens neue Herrscher nach seiner Pfeife tanzen, desto drängender wird für die türkische Regierung ein anderes regionales Problem: die Kurdenfrage. Unter Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) und mit Hilfe der USA haben die syrischen Kurden 2014 den Angriff des „Islamischen Staats“ (IS) auf ihr Zentrum, die Stadt Kobani, zurückgeschlagen. Seither fungieren die Kurden als Bodentruppe der internationalen Koalition gegen den IS.
Doch die PYD ist eng mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbandelt, die seit über 40 Jahren einen bewaffneten Kampf gegen die Türkei führt. Deshalb ist sie für Ankara nur eine weitere Terrororganisation, die eliminiert werden muss. Seit Jahr und Tag fliegt die Türkei deshalb mit Jets und Drohnen Angriffe auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien. Die schrillsten Töne kamen dabei stets von Erdoğans Koalitionspartner Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP).
Doch im Oktober 2024 überraschte Bahçeli die türkischen Kurden und fast noch mehr seine eigene Partei mit einer radikalen Kehrtwende. Türken und Kurden seien Schicksalsbrüder, erklärte der MHP-Chef. Der PKK-Führer Abdullah Öcalan, der seit 1999 in der Türkei eine lebenslange Haftstrafe absitzt und dessen Hinrichtung Bahçeli früher gefordert hatte, könne freigelassen werden. Bedingung: Er müsse die Auflösung der PKK und die Aufgabe des bewaffneten Kampfs anordnen.
Bisher hat die Regierung kein Wort darüber verloren, was sie den Kurden im Gegenzug anbieten will. Erdoğan selbst hält sich bedeckt und sagt, der Staat lasse nicht mit sich verhandeln. Trotzdem herrscht unter den Kurden neue Zuversicht. Jahrelang hatte Öcalan keinen Kontakt zur Außenwelt. Doch in den letzten Wochen konnten ihn Abgeordnete der legalen prokurdischen Partei DEM bereits zweimal besuchen.
Öcalan selbst zeigt sich hoffnungsvoll. Auch die DEM-Führung gibt sich optimistisch. Sie hofft, dass Hunderte ihrer Mitglieder, die aufgrund politischer Prozesse im Gefängnis schmoren, amnestiert werden und die türkische Regierung aufhört, reihenweise kurdische Bürgermeister abzusetzen und kurdische Kommunen unter Zwangsverwaltung zu stellen. Die DEM verlangt aber auch, dass die Türkei ihre Verfassung ändert und zudem eine Form kurdischer Selbstverwaltung in Nordsyrien akzeptiert.10
Aber warum sollte die Türkei dazu bereit sein, und warum sind die Kurden trotz aller bisherigen Rückschläge optimistisch? Die säkulare Opposition argwöhnt ein Manöver Erdoğans, um kurdische Wähler für eine nochmalige Verlängerung seiner Amtszeit zu gewinnen. Das mag sein, doch der eigentliche Antrieb ist außenpolitischer Natur.
Die Machtverhältnisse im Nahen Osten haben sich gewandelt. Die HTS konnte Damaskus nur erobern, weil Russland und Iran, Assads „Schutzmächte“, stark geschwächt sind. Moskau ist auf die Ukraine konzentriert, und Teheran musste zusehen, wie seine Proxy-Truppe in der Region, die schiitische Hisbollah, von Israel stark dezimiert wurde.
Trotz aller Konflikte mit Iran konnte sich Ankara jahrzehntelang darauf verlassen, dass Teheran die iranischen Kurden als Bedrohung für den eigenen Staat ansieht und deshalb wie die Türkei verhindern will, dass die Kurden im Nahen Osten ein eigener Machtfaktor werden.
Dagegen redet die Netanjahu-Regierung öffentlich darüber, dass Israel und die Kurden gemeinsame Interessen hätten.11 Und in Washington enttäuschte Trumps Außenminister Marco Rubio die türkischen Hoffnungen, eine Regierung Trump würde die Zusammenarbeit mit den Kurden in Syrien bald beenden.12 In Syrien setzt die HTS gleichermaßen auf Saudi-Arabien wie auf die Türkei. Statt sofort militärisch gegen die syrischen Kurden vorzugehen, schlägt Damaskus erst einmal den Verhandlungsweg ein.13
Was Bahçeli dazu getrieben hat, sich mit den Kurden zu versöhnen, ist also die Befürchtung, die Kurden könnten sich Partner gegen die Türkei suchen. Öcalan ist jedenfalls bereit, die Chance zu nutzen. Er behauptete bereits 2013, als Ankara erstmals mit der PKK verhandelt hat, die Kurden und die Türkei seien die zentralen strategischen Kräfte im Nahen Osten, und rief dazu auf, bei der Errichtung einer demokratischen Moderne in der Region voranzugehen.14
Sollte es bei einem neuen Anlauf zu einer Einigung kommen, wäre dies der nächste große Umbruch im Nahen Osten.
1 Euronews (auf Türkisch), 21. Dezember 2024.
4 T24 (auf Türkisch), 17. Dezember 2024.
5 Barçın Yinanç auf T24 (auf Türkisch), 25. Dezember 2024.
6 X-Post der islamistischen Yeni Şafak, 21. Dezember 2024.
7 Website der Baustoffindustrie İnşaatın Nabzı, 9. Dezember 2024.
9 T24 (auf Türkisch), 22. Januar 2025.
13 Gazete Duvar (auf Türkisch), 22. Januar 2025.
Günter Seufert ist ehemaliger Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (Cats) bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
© LMd, Berlin