Bloodlands des Südens
US-Präsident Trump träumt von einer Kolonie in Gaza. Sein Denken fügt sich nahtlos in die kolonialen und genozidalen Narrative, die Israel in Gaza und im Libanon aufruft.
von Peter Harling

In Gaza und im Libanon führt Israel offene Kriege, die über konventionelle Kriegsziele hinausgehen. Die Führungen von Hamas wie Hisbollah wurden eliminiert, ihre militärischen Kapazitäten weitgehend zerstört. Darüber hinaus betreibt Tel Aviv eine Politik der kollektiven Vergeltung und territorialen Expansion. Trotz ihrer Komplexität werden diese Konflikte in vielen westlichen Ländern in der journalistischen und politischen Debatte äußerst vereinfacht dargestellt.
Über vieles, was für diese Kriege besonders kennzeichnend ist, wird geschwiegen, weil es Israel infrage stellt: die zahllosen offiziellen Verlautbarungen mit genozidalem Charakter, der Einsatz von Hunger als Waffe, die obsessive Verwüstung von Friedhöfen, die massenhafte Verbreitung von Videos, in denen Soldaten ihre eigenen Verbrechen dokumentieren. All das sind Vorkommnisse, die sich zu einem klaren Angriff auf sämtliche Grundsätze der UN-Charta summieren und im öffentlichen Raum des Westens trotzdem fast geräuschlos verhallen.
Damit ein Krieg verstanden werden kann, braucht es einen Deutungsrahmen, der zwangsläufig den Blick auf die Realität verkürzt. Der US-amerikanische Einmarsch in den Irak 2003 zum Beispiel wurde in Frankreich und Deutschland als imperialer Eroberungskrieg gesehen und befeuerte einen gutartigen Antiamerikanismus. Russlands Angriff auf die Ukraine hat einen aus dem Kalten Krieg überkommenen Deutungsreflex neu belebt: das Bild eines verletzlichen Europa, das durch Großmachtrivalitäten bedroht wird. In anderen Konflikten wird, wie etwa im Fall Syrien, das Narrativ vom Freiheitskampf gegen grausame Unterdrückung mobilisiert.
Solche narrativen Muster entstehen dadurch, dass ein mit Bedeutung aufgeladenes Thema in den Vordergrund gerückt wird, das kollektive Emotionen weckt. Eines dieser Muster, das sich mit der Zeit fest etabliert hat, ist der „Krieg gegen den Terrorismus“.
In den Kriegen, die Israel derzeit führt, ist das vorherrschende Betrachtungsschema eine Kombination aus zwei verschiedenen Themen. Zum einen wird auch hier der Krieg gegen den Terrorismus hervorgeholt. Dieses Leitmotiv lässt den Umgang des Westens mit der arabischen und muslimischen Welt gern als Kampf gegen Obskurantismus und Barbarei erscheinen. Zum anderen wird eine neue, stark ausgeweitete Definition des Antisemitismus ins Spiel gebracht. Jeder Angriff gegen Israel, ja jede Kritik wird grundsätzlich mit dem Hass auf Juden erklärt und mit einer Aufkündigung des Existenzrechts des Staates gleichgesetzt, der ja symbolisch das Überleben der Juden verkörpert.
Diese Logik bildet dann mehr oder weniger explizit das Fundament für die Vorstellung eines Selbstverteidigungskrieges: Angesichts existenzieller Bedrohungen sind alle Mittel automatisch legitim.
Dieser Essenzialismus führt dazu, dass andere naheliegende Interpretationen ignoriert werden, wie das offenkundige Recht der Palästinenser und Libanesen auf Selbstverteidigung, wenn Israel eher der Aggressor als das Opfer ist. Solche Feinheiten werden aber nicht gehört: Sie prallen ab an einer Mauer aus absurd übertriebenen Formulierungen, die wie ein Mantra wiederholt werden. Etwa dass Israel „die einzige Demokratie in der Region“ sei, was erstens nicht stimmt und zweitens am Thema vorbeigeht.
Und dass die israelische Armee Ermittlungen zu ihren eigenen Verbrechen führe, sie sei „die moralischste Armee der Welt“, wie es ebenfalls heißt – als seien seine militärische Institutionen ein Musterbeispiel an Transparenz. Die israelische Gesellschaft sei den westlichen Gesellschaften zu ähnlich, um Gräueltaten zu begehen, denn schließlich stehe man auf dem gemeinsamen Fundament der „jüdisch-christliche Werte“, die allerdings weder heute noch in der Geschichte eine definierbare Realität darstellen.
Dieses wahnhafte Narrativ hat Folgen, die absurd und zugleich sehr konkret sind. So hat die deutsche Regierung einerseits die zivile Infrastruktur in Gaza zum legitimen Angriffsziel erklärt, während Deutschland zugleich über 1 Million ukrainischer Flüchtlinge aufgenommen hat, die vor genau solchen Zerstörungen durch die russische Armee geflohen sind.
Die Niederlande haben sich offiziell gegen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt, obwohl die Nation so stolz auf ihn ist. Und die Schweiz bekämpft die UN-Agentur UNRWA und wirkt damit an der Zersetzung eines internationalen Systems mit, das Genf zu Renommee und Wohlstand verhalf. Dieses Durcheinander von improvisierten Positionen und fatalen Widersprüchen ist bezeichnend für einen Konflikt, der offenbar dazu motiviert, die Dinge nicht zu Ende zu denken.
Der Historiker Henry Laurens verwendet den Begriff terres de sang (bloodlands), um die Gleichgültigkeit gegenüber den unvorstellbaren Gewalttaten zu begreifen, die in Europas Nachbarschaft verübt wurden und gut dokumentiert sind, etwa auch in Syrien oder im Irak. Der Ausdruck geht auf Timothy Snyders Buch „Bloodlands“ zurück1 – einer schreckenerregenden Bestandsaufnahme der Gräueltaten, die im Zeitraum 1933 bis 1945 durch Stalins Sowjetunion und Nazideutschland in Zentral- und Osteuropa verübt wurden. Über dieses Kapitel aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in Westeuropa bis heute wenig bekannt, gemerkt hat man sich nur die Vernichtungslager. Der Tod von Millionen ziviler – vor allem polnischer und ukrainischer – Opfer weckte lange kein nennenswertes Interesse.
Bloodlands sind Räume, in denen andere Regeln gelten und ein Menschenleben weniger wert ist. Die Nazitruppen setzten diese niederträchtige Unterscheidung im Zweiten Weltkrieg gewissenhaft in die Praxis um: Im Westen kam es zwar auch zu Massakern durch deutsche Truppen – etwa im französischen Oradour-sur-Glane am 10. Juni 1944. Aber die Verbrechen hatten nicht dasselbe Ausmaß wie in Polen, der Ukraine und Belarus. Diese Aufspaltung Europas in zwei Teile wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, durch die Jugoslawienkriege und neuerdings durch die russische Invasion der Ukraine allmählich überwunden. Inzwischen ist die „öffentliche Meinung“ im Westen für das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung empfänglich.
Das hat einen einfachen Grund: Die Bloodlands haben sich nach Süden verlagert. In Gaza werden Gräueltaten verübt, aber gebührende Beachtung erfahren nur die Verbrechen der Hamas. Von anderen Gräueln erfährt man fast nichts, obwohl sie lückenlos dokumentiert sind: unzählige palästinensische Kinder mit amputierten Gliedmaßen, von der israelischen Armee zum Sterben verurteilte Frühgeborene, die mit Bulldozer abtransportierten Leichen, die verharmlosten Fälle von Folter und Vergewaltigung in Gefängnissen, die Tötungen von Journalisten, die Einfuhrverbote für dringend benötigte medizinische Hilfsgüter und anderes mehr. Ein palästinensisches Menschenleben ist offensichtlich weniger wert als ein westliches. Die gleiche makabre Logik hat sich auch im Libanon, in Syrien, im Irak, im Jemen oder in Libyen durchgesetzt.
Auch das Mittelmeer ist gewissermaßen zu einem Bloodland geworden; zu einem Meer der Tränen, auf das Migranten sich zu Zehntausenden hinauswagen und ihr Leben riskieren. Die Parallele ist deshalb wichtig, weil die Pflicht zur Rettung aus Seenot den gleichen Ursprung hat wie das Recht auf Asyl und das Kriegsrecht: Diese vermeintlich universellen Grundsätze stammen aus Westeuropa und hatten den Zweck, vor allem das Leid von Europäern zu lindern. Heute würden die Europäer aus diesen Prinzipien gern ein Privileg für ihresgleichen machen und sie einem Teil der Menschheit vorenthalten, gestützt auf eine hierarchische, an koloniale und rassistische Traditionen anknüpfende Sicht der Welt.

Vorstellung zivilisatorischer Überlegenheit
Die Basis für ein solches Denken ist die Vorstellung der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit. Ihre Selbstbestätigung bezieht sie aus einer technologischen Vormacht, die als tautologischer Beweis dient: Der Westen ist besser, weil er der Stärkste ist. Israels Hightech-Kriege in Gaza und im Libanon bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die avantgardistischen Aspekte dieser Kriegführung lösen eine morbide Faszination aus: Es seien Kriege, die mit großer, beinahe wissenschaftlicher Präzision geführt würden, mit Lenkflugkörpern, gezielten Tötungen und Echtzeitaufklärung unter Einsatz von Drohnen und künstlicher Intelligenz.
Für die andere Seite wurden die altertümlichen Pager, die von der libanesischen Hisbollah zur Kommunikation eingesetzt wurden, zu ferngezündeten Bomben und explodierten in den Händen der Kämpfer. So entsteht ein Bild von Israel als einer Macht, die zwar Zerstörung anrichtet, aber ein so hohes Entwicklungs- und Wissensniveau erreicht hat und so zielgenau agiert, dass es im herrschenden Diskurs noch dafür gefeiert wird.
Doch das Reden über den Hightech-Krieg dient vor allem dazu, von banaleren Wahrheiten abzulenken. Eine dieser Wahrheiten ist die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt. Gaza ist nicht durch „chirurgische“ Angriffe auf Tunnelsysteme zur Mondlandschaft geworden, sondern weil Israel über die technologischen Möglichkeiten verfügt, kurzerhand alles zu verwüsten – einschließlich der zivilen Infrastruktur und normaler Wohnhäuser. Um den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah in Beirut zu töten, setzte Israel 80 schwere bunkerbrechende Bomben ein. Den USA reichten 24 solcher Bomben, um das komplette Regime von Saddam Hussein zu beseitigen. In der Praxis führt der Hightech-Krieg nicht zu größerer Zurückhaltung, sondern schafft die Voraussetzungen für eine Entgrenzung auf ganzer Linie.
Was durch die Hochtechnisierung ebenfalls verschleiert wird, sind die obszönsten Aspekte dieser Konflikte. Israels Waffen sind zwar sehr „fortschrittlich“, von seinen Soldatinnen und Soldaten und deren Vorgesetzten lässt sich das jedoch nicht sagen. Die Bodentruppen führen sich in Gaza wie im Libanon exakt so auf wie Kolonialtruppen: Sie leisten sich zahllose Disziplinlosigkeiten, zerstören mutwillig, plündern, entweihen religiöse Stätten, demütigen und foltern Menschen, alles gefilmt von Kameraden, die anschließend die Videos im Netz verbreiten.
Israelische Offiziere und Politiker haben zu Verbrechen aufgerufen, indem sie behaupteten, Zivilisten gebe es nicht in der palästinensischen Bevölkerung und palästinensische Kinder seien angehende Terroristen. Sie stellten kollektive Vergeltungsmaßnahmen als legitim dar und benutzten ohne Reue und Bedenken das Vokabular der Kolonialisierung, der ethnischen Säuberung und des Genozids. Dieser „Porno-Krieg“ wird in der Öffentlichkeit totgeschwiegen, ist aber das komplementäre Gegenstück des Hightech-Kriegs.
Den westlichen Unterstützern Israels sind diese Äußerungen und Praktiken bekannt; Medien und Regierungen in Europa und Nordamerika haben Zugang zu umfangreichen Dokumenten über diese Vorgänge. Auf dieser Grundlage haben der Internationale Strafgerichtshof, Amnesty International und Human Rights Watch das, was der Bevölkerung von Gaza angetan wird, juristisch als Genozid eingestuft.2 Dieser schwere Vorwurf hat an der militärischen und politischen Unterstützung für Israel allerdings kaum etwas geändert. Warum macht man sich so bewusst zum Komplizen dieses Kriegs und hält daran fest, obwohl alles dafür spricht, sich zu distanzieren?
Diese Gleichgültigkeit ist ein eher neues Phänomen. Das Massaker von Srebrenica, bei dem die Armee der Republika Srpska 8000 bosnische Muslime tötete, wurde 1995 umgehend als Völkermord eingestuft. Die Bilder von Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib lösten 2004 einen Riesenskandal aus und zwangen die US-Armee, hart durchzugreifen. Die unsäglichen Haftbedingungen in Guantanamo wurden von Anfang an eher als beschämender Regelverstoß empfunden denn als neue Normalität. Doch im aktuellen Kontext vertraut der Westen nicht mehr auf seine humanistischen Werte und demokratischen Grundsätze, seine Rechtsstaatlichkeit und seine wissenschaftliche Aufgeklärtheit, die doch allesamt die Welt erleuchten sollen.
Der Westen befindet sich inzwischen in einer paranoiden Rückzugsbewegung. Er lässt jeden Universalismus fahren und entwickelt ein kleinkariertes Provinzdenken. Große Teile der westlichen Gesellschaften träumen von Polizei, Sicherheit und Männlichkeit, suchen sich Fremde als Sündenböcke und wittern Verräter in den eigenen Reihen.
Israels Kriege entsprechen und befördern diese regressiven Fantasien: Ist Israel nicht im Grunde auf dem richtigen Weg? Ist sein Umgang mit den Barbaren und Wilden, die nur die Sprache der Gewalt verstehen, nicht die einzig richtige Lösung? Sollte der Westen, statt sich über Details aufzuregen, nicht von Israels handfesten Methoden lernen und inspirieren lassen?
Hier tritt koloniales Denken zutage wie etwas Verdrängtes, das nun wiederkehrt. Parallel dazu zeigt sich immer hemmungsloser eine neue europaweite Welle der Fremdenfeindlichkeit. Diesmal sind es nicht die Juden, die als unassimilierbar und als heimtückische Bedrohung identifiziert werden, sondern Araber und Muslime. Von hier ist es dann nur noch ein kurzer Schritt zu der Vorstellung, dass Israel an vorderster Front einen gemeinsamen Kampf führe.
1 Timothy Snyder, „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“, München (C. H. Beck) 2022.
2 Siehe Akram Belkaïd, „Genozid-Vorwürfe mehren sich“, LMd, Januar 2025.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Peter Harling ist Leiter der Informationsagentur Synaps in Beirut.