09.01.2025

Ein Friedenspfad für die Ukraine?

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Ein Friedenspfad für die Ukraine?

von Christos Katsioulis

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Wie denkt Donald Trump über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der schon fast drei Jahre andauert? „Gotta make a deal“, erklärte der neu gewählte US-Präsident am 16. Dezember. Vor seiner Wahl hatte er getönt, er werde den Krieg innerhalb von 24 Stunden nach seiner Inauguration beenden.

Das militärische Geschehen ist seit dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive in einen Abnutzungskrieg übergegangen, in dem die Russen unter hohen Verlusten allmähliche Geländegewinne erzielen. Ein Politikwechsel in Washington hätte weitreichende Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine. Für Kyjiw sind die USA – als Lieferant von Waffen und Hightech-Aufklärung wie als westliche Führungsmacht – schlichtweg unersetzbar. Die Ernennung von Ex-General Keith Kellogg zum Sonderbeauftragten für die Ukraine und Russland lässt erkennen, wie die künftige US-Politik aussehen könnte.

Kelloggs Konzept eines „Friedens durch Stärke“ sieht vor, die aktuelle Front einzufrieren, eine demilitarisierte Zone zu schaffen und den Nato-Beitritt der Ukraine zu stornieren. Dazu Anreize für beide Kriegsparteien: Die Ukraine soll mit Waffenlieferungen verteidigungsfähig gehalten werden, für Russland ist eine Milderung der Sanktionen vorgesehen. Anfang Januar will Kellogg für Gespräche nach Kyjiw und in mehrere europäische Hauptstädte reisen.

In Antizipation eines Kurswechsels in den USA haben die Ukraine und einige ihrer Verbündeten hektische diplomatische Initiativen ergriffen. Und das mit zwei Zielen: Zum einen will man die neue Administration dazu bringen, die Unterstützung der Ukraine unvermindert fortzusetzen; zugleich soll bereits der Boden für Verhandlungen bereitet werden. Dabei zeigt sich die ukrai­ni­sche Regierung erstmals offen für eine Verhandlungslösung, selbst wenn sie eine längere russische Okkupation hinnehmen müsste. Allerdings verlangt Kyjiw im Gegenzug, die Sicherheit der Rest-Ukraine durch den Beitritt zur Nato langfristig zu gewährleisten.

Auch aus Moskau kommen erste Signale an die neue US-Administration. In seiner Pressekonferenz und Bürgersprechstunde zum Jahresende zeigte sich Putin bereit, ohne Vorbedingungen in Gespräche mit der Ukraine einzusteigen. Er sprach sogar von notwendigen Kompromissen, ließ aber nicht erkennen, zu welchen Zugeständnissen. Er signalisierte also Aufgeschlossenheit gegenüber Initiativen aus Washington, wollte zugleich aber keine der russischen Maximalpositionen aufgeben.

Beide Kriegsparteien setzen auf die politische Taktik, sich gesprächsoffen zu zeigen, aber gleichzeitig wichtige Claims abzustecken, nicht nur gegenüber der Trump-Administration, sondern auch gegenüber der eigenen Bevölkerung. Laut repräsentativen Umfragen in Russland und in der Ukraine vom September 20241 gibt es in beiden Ländern eine klare Zustimmung zu Verhandlungen. Sie ist jedoch an weitreichende Bedingungen gebunden.

76 Prozent der Rus­s:in­nen und 56 Prozent der Ukrai­ne­r:in­nen stimmen grundsätzlich Gesprächen zu. Allerdings ist diese Akzeptanz weder in Russland noch in der Ukraine bedingungslos. Die Bür­ge­r:in­nen haben – wie ihre Regierungen – klare Vorstellungen von ihren jeweiligen „roten Li­nien“. In der Ukraine bestehen 83 Prozent der Befragten darauf, dass Russland seine Truppen hinter die Grenzen von 1991 zurückzieht. Und in Russland fordern 73 Prozent der Befragten, dass die Ukraine die russische Souveränität über die annektierten Gebiete anerkennt.

Was die Vorbedingungen für Verhandlungen betrifft, so spiegeln sich die unnachgiebigen Positionen, die beide Regierungen kommunizieren, auch in den Ansichten der Bevölkerung. Verständlicherweise und auch völkerrechtlich legitim fordern in der Ukraine gut 80 Prozent, dass Russland ukrainisches Territorium nicht mehr angreift, während nur 29 Prozent akzeptieren, nicht auf russischem Territorium zurückzuschlagen. In Russland wiederum verlangen 61 Prozent als Vorbedingung, dass die Ukraine ihre Angriffe einstellt. Eine beidseitige Waffenruhe unterstützen immerhin 51 Prozent der Befragten.

Obwohl zentrale regierungsoffi­ziel­le Positionen unvereinbar sind, gibt es drei Schnittmengen, die anzeigen, welcher Weg zu Verhandlungen führen könnte. In beiden Ländern befürwortet eine große Mehrheit die Fortsetzung des Gefangenenaustauschs, die Einstellung von Angriffen auf lebenswichtige Infrastrukturen und die Anerkennung der ukrainischen Souveränität. Die größten Mehrheiten gibt es für den Austausch von Kriegsgefangenen: 90 Prozent in der Ukraine und 80 Prozent in Russland. Die Ausweitung dieses Prozesses könnte den Übergang zu einer breiteren Verhandlungsagenda insofern ebnen, als die Erfüllung kleiner und gut kontrollierbarer Bedingungen das Vertrauen stärken würde.

Umfragen in Russland und der Ukraine

Bei dem zweiten Aspekt scheint ein Konsens schwieriger: In der Ukraine fordern 90 Prozent der Befragten, dass Russland seine Angriffe auf wichtige Infrastrukturen einstellt, was immerhin 51 Prozent der russischen Bevölkerung eine akzeptable Bedingung finden. Zugleich fordern 61 Prozent der Rus­s:in­nen, dass die Ukraine ihrerseits die Angriffe auf russische Infrastrukturen einstellt. Die Bereitschaft der russischen Seite, ihre Kriegsführung entsprechend zu ändern, würde also auch in der eigenen Bevölkerung Zustimmung finden.

Die dritte Schnittmenge betrifft die Anerkennung der ukrainischen Souveränität. Wäre diese Vorbedingung erfüllt, wären in der Ukraine 89 Prozent der Befragten zu Verhandlungen bereit. In Russland gibt es dafür eine relative Mehrheit von 45 Prozent, knapp 39 Prozent lehnen diese Bedingung ab. Was immerhin zeigt, dass ein signifikanter Teil die Existenz der Ukraine nicht infrage stellt.

Eines der bemerkenswertesten Resultate der Umfrage ist, dass sich die Meinungen der unter 40-jährigen Rus­s:in­nen deutlich von denen der älteren Generationen unterscheiden. Die Jüngeren zeigen durchweg eine höhere Bereitschaft, die Anerkennung der ukrainischen Souveränität oder die Einstellung der Kämpfe als Vorbedingungen für Verhandlungen zu akzeptieren.

Inwieweit Stimmungen in der Bevölkerung unter Kriegsbedingungen – und unter einem autokratischen Regime wie in Russland – überhaupt zu erfassen sind und inwieweit Umfrageresultate die Regierungspolitik beeinflussen, ist umstritten. In der Ukraine können nur Teile der Bevölkerung befragt werden, nicht aber die Menschen in den besetzten Gebieten und die Mil­lio­nen Ukrainer:innen, die das Land seit 2022 verlassen haben. In jedem Fall ist aber die Meinung der Bevölkerung ein zentraler Faktor für die Entscheidungen der ukrainischen Regierung: Bei jeder künftigen Wahl wird die Frage nach den Bedingungen für ein Kriegsende die zentrale Rolle spielen – und erst recht im Fall eines Referendums über einen Friedensschluss.

In Russland wiederum neigen die Menschen dazu, auch bei Befragungen unabhängiger Institute opportunistische Antworten zu geben. Das Zusammenwirken von Regierungspropaganda und Angst vor Repressionen kann das Meinungsbild verzerren. Doch gerade bei der jüngeren Generation zeigt sich, dass Teile der Bevölkerung den öffentlichen Medien misstrauen und die Regierungspolitik kritisch sehen. Die Umfrageergebnisse lassen also erkennen, dass eine eigenständige Meinungsbildung auch unter russischen Bedingungen noch möglich ist.

Aber kann die Stimmung der russischen Bevölkerung überhaupt Einfluss auf die Politik des Kreml nehmen? Putins rituelle Bürgersprechstunden zeigen immerhin, dass das Regime interessiert sein muss, die Sorgen der Bevölkerung zu kennen und – im Interesse des Machterhalts – auch ernst zu nehmen. Gewiss hat die öffentliche Meinung in Russland keinen direkten Einfluss auf Putins Bereitschaft zu Verhandlungen, sie ist jedoch nicht unerheblich, was den Spielraum in möglichen Verhandlungen betrifft.

Die in den Umfragen ermittelten drei Schnittmengen eignen sich womöglich als erste Bausteine für einen russisch-ukrainischen Verhandlungsprozess, der die internationale Dynamik, die von der neuen Trump-Administration ausgeht, in konstruktive Bahnen lenken könnte.

Das könnte insbesondere dann gelingen, wenn als Vermittler eine internationale Staatengruppe fungieren würde, zu der außer westlichen Staaten auch Akteure wie China, Brasilien oder Südafrika gehören. Möglicherweise würde das die Bereitschaft zu Verhandlungen sowohl in Moskau als auch in Kyjiw erhöhen. Als Ausgangspunkte könnten die drei als Schnittmengen beschriebenen Aspekte dienen, die ohnehin in allen bislang bekannten Friedensplänen enthalten sind.

Der Weg zu Verhandlungen ist dennoch steinig und erfordert politischen Willen in Moskau wie in Kyjiw. Angesichts einer internationalen Lage im Zeichen der neuen Trump-Regierung könnte dieser Prozess durch die wachsende Bereitschaft auf beiden Seiten, mindestens begrenzte Zugeständnisse zuzulassen, erleichtert werden. Die ­Umfrageergebnisse zeigen, dass es einen gewissen Raum für Verhandlungen, aber auch noch viele hohe Hürden gibt.

Die internationale Gemeinschaft sollte den bevorstehenden Wandel in Washington pragmatisch als Momentum für einen solchen Prozess nutzen. Der wird zwar nicht in 24 Stunden ein Ergebnis zeitigen, womit wohl nicht einmal mehr Trump rechnet. Aber er ist der einzige realistische Ausweg aus einem Konflikt, der weder durch einen schnellen Sieg noch durch einen diktatorischen Frieden zu beenden ist.

⇥Christos Katsioulis

1 Siehe Christos Katsioulis und Simon Weiss, „Nego­tiations yes, but in my terms!“, FES Regional Office for International Cooperation, Wien, Dezember 2024. library.fes.de/pdf-files/bueros/wien/21742.pdf.

Christos Katsioulis leitet das Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden der Friedrich-Ebert-Stiftung in Wien.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.01.2025, von Christos Katsioulis