Srebrenica und das Völkerrecht
Für die völkerrechtliche Bewertung der israelischen Kriegsverbrechen in Gaza ist das Srebrenica-Urteil von 2007 des Internationalen Gerichtshofs maßgeblich. Darin hatte der IGH das Massaker an tausenden Bosniaken, das sich am 11. Juli 2025 zum 30. Mal jährt, als „Völkermord“ eingestuft.
von Philippe Descamps

Am 11. November 2024 veröffentlichten die Richter des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) ein Schreiben von Radislav Krstić. Der ehemalige Divisionsgeneral der Armee der Republika Srpska (RS) war der erste Europäer, der wegen Völkermords verurteilt worden war.
Der frühere Kommandant des Drina-Korps räumte in seinem Brief, der auch sein Ersuchen um Strafnachlass stützen soll, erstmals Verbrechen ein, die er zuvor stets geleugnet hatte: „Es ist erwiesen, dass die Armee, der ich angehört habe, im Juli 1995 einen Genozid an den bosnischen Muslimen in Srebrenica verübt hat und dass ich den Genozid durch Beihilfe unterstützt habe, als ich erfuhr, dass bestimmte Angehörige des Generalstabs diese Absicht verfolgten.“1
General Krstič war im April 2004 von der Berufungskammer des IStGHJ wegen „Beihilfe zum Völkermord“ zu 35 Jahren Haft verurteilt worden. Die Kammer hatte damit zwar seine Strafe gemildert, weil Krstič kein Verfechter des Vernichtungsplans war. Da er aber zuließ, dass das von ihm befehligte Drina-Korps für die Ergreifung der bosnischen Gefangenen eingesetzt wurde, habe er einen „substanziellen“ Beitrag zum Genozid von Srebrenica geleistet.2

Tatsächlich geht der Tatbestand „Völkermord“ weit über den des „Massenmords“ oder der „ethnischen Säuberung“ hinaus. Der IStGHJ hat – als Vorläufer des seit 2002 tätigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) – im Zuge seiner Ermittlungen zu den Kriegsverbrechen in Bosnien und Herzegowina den Rahmen für die strafrechtliche Verfolgung von Vergehen präzisiert, die unter die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (CPPCG) fallen. Die CPPCG wurde am 9. Dezember 1948 verabschiedet und seitdem von 153 Staaten ratifiziert.
Von den zahlreichen Massakern, die während des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawien registriert wurden, hat der IStGHJ die Kategorie „Völkermord“ nur auf den Massenmord angewendet, der nach der Einnahme von Srebrenica im Juli 1995 von bosnischen Serben an mehr als 7000 muslimischen Männern begangen wurden. Im Fall Krstič erklärte die Berufungskammer, das „Stigma“, das die für den Genozid von Srebrenica Verantwortlichen tragen, werde „als Warnung an jene dienen, die künftig erwägen könnten, eine solch furchtbare Tat zu begehen“.3
Aufgrund derselben Anklagepunkte wurden Radovan Karadžić, Präsident der Republika Srpska (der überwiegend serbischen Entität innerhalb von Bosnien und Herzegowina), und Ratko Mladić, deren militärischer Oberbefehlshaber, zu lebenslanger Haft verurteilt. Karadžić hatte den Befehl gegeben, die muslimische Enklave zu vernichten; Mladić hatte den Angriff auf die unter Schutz der UN-Blauhelme stehende Zone geführt und die Zivilbevölkerung terrorisiert.
Die Richter befanden, dass die zuvor von bosnischen Truppen in serbischen Dörfern begangenen Grausamkeiten in keiner Weise die als Militäraktionen ausgegebenen „Repressalien“ rechtfertigen konnten: „Vergeltung“ sei keine Rechtfertigung, und das internationale Recht sei genau dazu da, Vergeltung zu verhindern.4 Zudem seien unter den Opfern auch Zivilisten gewesen, da alle Männer über 16 Jahren deportiert wurden.
Nach dem Kriegsverbrechen von Srebrenica im Sommer 1995, dem seit Beginn des Kriegs im April 1992 zahlreiche Gräueltaten vorausgegangen waren, schlugen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International Alarm.5
Gemäß Artikel IX der Völkermordkonvention fallen strittige Fragen, die ihre Interpretation und Anwendung sowie auch die Verantwortlichkeit einzelner Staaten betreffen, in die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs. Der IGH hatte, von Bosnien-Herzegowina angerufen, bereits am 8. April 1993 die Bundesrepublik Jugoslawien angewiesen, „alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um das Begehen des Verbrechens des Genozids zu verhindern“.6
Der IGH betonte in seinem Urteil vom 26. Februar 2007, mit dem der Srebrenica-Prozess abgeschlossen wurde, die Definition des Begriffs „Völkermord“ sei eng zu fassen.7 Für den Tatbestand reiche eine schwere Menschenrechtsverletzung nicht aus, selbst wenn sich diese „systematisch“ gegen eine bestimmte Gruppe richtet. Darüber hinaus müsse eine „gezielte Absicht“ nachgewiesen werden, was aber nicht notwendig einen Vorsatz im Sinne eines vorab gefassten Beschlusses bedeute. Vielmehr könne die Absicht, eine Bevölkerungsgruppe zu vernichten, „auch erst im Verlauf einer Operation zum erklärten Ziel werden“.
Im Fall Srebrenica kam der IGH zu dem Schluss, dass die entsprechenden Handlungen „in der konkreten Absicht begangen wurden, einen Teil der muslimischen Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina als solchen zu vernichten“. Der Angriff müsse sich aber nicht gegen eine Volksgruppe als ganze richten, es reiche aus, wenn „ein substanzieller Teil“ betroffen ist.
Zu diesem Aspekt des Urteils merkt der Völkerrechtler Olivier Corten, Professor an der Brüsseler Université Libre, kritisch an: „Dieser Präzedenzfall erlaubt es, von einem Genozid auch dann zu sprechen, wenn er sich nur gegen einen zahlenmäßig sehr kleinen Teil einer geschützten Gruppe richtet.“8
Im Fall Krstič urteilte der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, dass „es sinnvoll sein kann, nicht nur den mengenmäßigen Anteil an einer Bevölkerungsgruppe in Betracht zu ziehen, sondern auch dessen Relevanz innerhalb der betroffenen Gruppe“. Da die Enklave Srebrenica damals Zufluchtsort für eine Mehrheit der muslimischen Bevölkerung der Region gewesen sei, habe die Eliminierung dieser Enklave „das Ziel erreicht, die gesamte Region von ihrer muslimischen Bevölkerung zu säubern“.9
Im Juli 1996 hatte der IGH bereits eine richtungsweisende Entscheidung bezüglich der universalen Geltung der Verurteilung des Völkermords und der notwendigen Unterstützung seitens der Unterzeichnerstaaten getroffen: „Das Gericht stellt fest, dass die Verpflichtung, die mithin jeder Staat hat, das Verbrechen des Völkermords zu verhindern und zu bestrafen, durch die Konvention nicht territorial eingeschränkt ist.“10
Was die Beteiligung Serbiens betrifft, so hat der IGH am 26. Februar 2007 befunden, der serbische Staat habe „keinen Völkermord mittels seiner Organe oder Personen begangen“ und auch nicht zu diesem angestiftet oder sich der Komplizenschaft schuldig gemacht. Damit wies der Internationale Gerichtshof die Klage Bosnien-Herzegowinas ab, das Srebenica als Ausdruck einer umfassenderen genozidalen Absicht sehen wollte.
Der IGH kam jedoch zu dem Schluss, Serbien habe im Fall Srebrenica „gegen seine Verpflichtung verstoßen, Völkermord zu verhüten“. Präziser: Es habe weder die vom IGH bereits 1993 angeordneten Maßnahmen ergriffen noch „alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen, den Völkermord in Srebrenica im Juli 1995 zu verhindern“.
Zudem sei Serbien nicht seiner Verpflichtung nachgekommen, den des Völkermords angeklagten Ratko Mladič an den IStGHJ auszuliefern.11 30 Jahre nach diesem Urteil beschäftigen die anhaltenden Spannungen zwischen den drei Bevölkerungsgruppen in Bosnien-Herzegowina immer noch die internationale Politik. Am 23. Mai 2024 fand eine Resolution der UN-Vollversammlung, die den 11. Juli ab 2025 zum Tag des Gedenkens an den Völkermord von Srebrenica macht, keine ungeteilte Zustimmung: 84 Länder waren dafür, 19 dagegen, 68 enthielten sich der Stimme.
Ein solcher Gedenktag existiert bereits für die Opfer der Schoah (27. Januar) und für die des Genozids an den Tutsi in Ruanda (7. April). Das gespaltene UN-Votum und die ablehnenden Reaktionen des offiziellen Serbien haben General Krstič bewogen, an seine Richter zu schreiben. In seinem Brief bekannte sich der ehemalige General, der Srebrenica möglich gemacht hatte, zu seinem „unvorstellbaren und unverzeihlichen Verbrechen“. Und dann bat er, das Schreiben öffentlich zu machen, „damit meine Worte von möglichst vielen Menschen in dem Land, aus dem ich komme, gehört werden“.
2 IStGHJ-Urteil vom 14. April 2004, S. 77 (Ziffer 238).
3 Pressemitteilung der Berufungskammer des IStGHJ, 19. April 2004.
4 IstGHJ-Dokumentation „Facts about Srebrenica“.
6 IGH, „Order of 8 April 1993“, Ziffer 52.
9 IStGHJ-Urteil vom 14. April 2004, Ziffer 15.
10 ICC Judgement vom 11. Juli 1996, Paragraf 31.
Aus dem Französischen von Christian Hansen