Der Wind von Shark Island
von Charlotte Wiedemann
Ein hoher blauer Himmel über karger brauner Landschaft. Schnurgerade die Straße Richtung Atlantik, begleitet von den Schienen einer Eisenbahn, die einst von ausgemergelten Gestalten verlegt wurden. Zwangsarbeit war die letzte Phase des Genozids. Längst fahren hier keine Züge mehr, aber wo Fußwege die Schienen kreuzen, warnen uralte Blechschilder vor einer Dampflokomotive, gezeichnet wie in Frakturschrift. Eine Bahnstation ohne Dach, bewacht von einem verkrüppelten Baum.
Vergangenes wie eingefroren, ohne Botschaft für die Gegenwart.
Auf den Felsen von Shark Island liegt am frühen Abend ein unangebracht schönes Licht. Die Haifisch-Insel war von 1905 bis 1907 ein Konzentrationslager für Ovaherero und Nama. Ohne jede Behausung, ausgesetzt dem nasskalten Wind, der unablässig über das Eiland fegt, starben hier Tausende an Unterkühlung, Krankheiten und an Vernichtung durch Arbeit.
Shark Island ist mit dem Festland nunmehr durch einen Damm verbunden, und nichts deutet darauf hin, dass man hier einen Friedhof betritt, eine Erinnerungsstätte, heilige Erde. Zwischen den Felsen wurden Sand und Kies aufgeschüttet, ein Campingplatz angelegt, Hotels gebaut, „Seepferdchen“ und „Kormoran“, Zimmer mit Balkon zum Meer. Ein Leuchtturm in fröhlichem Rot fungiert als staatliches Rasthaus am höchsten Punkt der Insel, dort, wo weibliche Häftlinge die Schädel ihrer Leidensgefährten für die Verschiffung nach Deutschland präparieren mussten.
Grabplatten für deutsche Kolonialsoldaten, hell poliert, bilden einen weiten Halbkreis um eine Gedenkplatte für Adolf Lüderitz aus Bremen, den Gründer der Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Wie eine Randnotiz dazu, kleiner, bescheidener, auf viel weniger Raum, die Erinnerung an ein Opfer. Den Stein für Cornelius Fredericks stellten dessen Angehörige auf; er war ein Anführer der Nama im Krieg gegen die Deutschen. Die Fredericks hatten dem Kaufmann Lüderitz 1884 das erste Stück Land verkauft, bereits im Vertrag wurden sie betrogen, so begann alles, und zwei Jahrzehnte später waren sie enteignet, vertrieben, ausgelöscht.
Dem Genozid in Deutsch-Südwestafrika fielen 80 000 Menschen zum Opfer: ein Großteil der Ovaherero und etwa die Hälfte der Nama. Für beide Gemeinschaften ist Shark Island wie eine offene Wunde, Symbol eines Schmerzes, der nicht zur Ruhe kommen kann, weil er so wenig gewürdigt, respektiert, aufgefangen wird. Dass die Erinnerung in diesem einstigen Todeslager so unbehaust ist, liegt an deutscher Verweigerung und deutscher Kälte, verweist aber auch auf namibische Verantwortung. Warum lässt ein unabhängiger Staat es zu, wenn das Leid eines Teils seiner Landsleute durch eine Ehrung der Täter verhöhnt wird? Woher rührt diese Gleichgültigkeit, woher die Schwäche der Opfernachfahren?
Vielerorts in Namibia ist die Geschichte der Täter sichtbarer als jene der Opfer. Das gilt nicht nur für den Genozid, sondern für die gesamte Kolonialzeit; die Apartheid-Ära unter südafrikanischer Besatzung eingerechnet, erstreckte sie sich auf mehr als ein Jahrhundert. Vom Flughafen fährt man über den Bismarck-Fluss hinein nach Windhoek mit Von-Trotha-Straße, Schützen- und Schanzenweg, Ausspannplatz und Leutwein-Friedhof.1 Allenthalben Supermärkte von „Woermann Brock“. Die Hamburger Woermann-Reederei machte den Genozid durch Truppentransporte möglich, bediente sich der Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen.
Der Begriff postkolonial erhält in Namibia Farbe.
Der Wind von Shark Island, einst in Dienst genommen, um den Genozid mit anderen Mitteln fortzusetzen, soll dem heutigen Deutschland als Ressource für den Erhalt von Wohlstand und energiereichem Lebensstil dienen: durch die Produktion von grünem Wasserstoff auf einem immensen Areal nahebei. Es wird kolonialdeutsch „Sperrgebiet“ genannt, eine Reminiszenz an den Diamantenabbau früherer Tage. Für das neue Großprojekt müsste der Hafen in der Lüderitzbucht ausgebaut werden, Shark Island droht zusätzliche Entweihung.
Die Nachkommen der dort Ermordeten kämpfen an einer zweifachen Front: Deutschland wie Namibia verweigern ihnen Empathie und darüber hinaus das Recht, für sich selbst zu sprechen (siehe Kasten). Gegen den Widerstand der Opferverbände wollen beide Regierungen bald ein Schlussstrich-Abkommen unter Dach und Fach bringen. Das wirft eine exemplarische Frage auf: Wann ist ein Genozid wirklich anerkannt – politisch, moralisch, rechtlich? Und wann bleibt er negiert und verleugnet, trotz anderslautender Bekundungen auf den Papieren der Diplomatie? Antworten finden sich in den Lebensbedingungen der Nachfahren, ihrer Landlosigkeit, ihren Traumata – und immer wieder im Sand, der die Spuren der Taten verdeckt und enthüllt.
Auf dem städtischen Friedhof von Swakopmund trennt eine weite sandige Fläche zwei Sorten von Toten. Im Zentrum des Friedhofs die Gräber der Deutschen aus solidem Marmor; gepflegt, der Boden geharkt. Und dann die Peripherie, im großen Abstand zur ehrbaren Kaufmannschaft: Dort wurde das unwerte Leben verscharrt, Herero-KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiterinnen, in flachen namenlosen Gräbern, erkennbar allenfalls durch Buckel im Sand. Mehr als 2000 sollen es sein. Das Totenfeld erstreckt sich bis zu den Dünen am Meer und auf der anderen Seite bis zu einer Kette von Neubauten wohlhabender Namibier. Einige Villen stehen vermutlich auf Gebeinen.
Wenn der Wind vom Atlantik, erneut dieser Wind, in heftigen Böen über die kleinen Buckel der Namenlosigkeit fährt, treten manchmal Knochen zutage.
Um den notdürftigen Erhalt der Gräber kümmert sich Laidlaw Periganda, ein 50-jähriger Bildhauer mit langen Dreadlocks. Freiwillige helfen ihm, auch einige junge Deutschstämmige, gegen den Widerstand der Alten. Vor und nach 1945 kamen pulkweise Nazis nach Swakopmund und deren Gesinnung lebt fort. Periganda bekam Morddrohungen, in einer Nachricht stand, die Gestapo werde ihn holen.
Seine Urgroßmutter, die er als kleiner Junge noch kannte, zählte zu den Ovaherero-Überlebenden, die aus der Omaheke-Wüste ins KZ Swakopmund gebracht wurden. Sie schleppte Lasten von den Schiffen der Woermann-Linie, wurde vergewaltigt. Ihre Familie war wohlhabend, eine alte Herero-Dynastie mit viel Land und zehntausenden Rindern – vorher.
Zum gepflegten Teil des Friedhofs gehört ein Schutztruppen-Denkmal, wo ein AfD-Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen heimlich einen Kranz niederlegte, während Periganda die Parlamentariergruppe über den Friedhof führte. Ihm fehlen dafür die Worte. Am Wochenende blickt er manchmal stundenlang aufs Meer hinaus, um sich seelisch zu stabilisieren, damit der Einsatz für das unwillkommen bleibende Gedenken ihn nicht ganz verschlingt. In seinem privaten Genozidmuseum, ein einziger Raum, kaum zehn Quadratmeter groß, ist auf einem alten Foto zu sehen, wie abgemagerte Menschen in Ketten ein Grab schaufeln am Rande der Dünen, bewacht von einem Deutschen zu Pferd.
Wo das weite Sandfeld heute die zwei Arten von Toten trennt, steht einsam ein grauer Granitstein, auch er von Opfer-Nachfahren, „in liebender Erinnerung“. Als sei der Genozid eine Familienangelegenheit.
Was bestimmt die Ökonomie der Empathie? Die ethnischen Gruppen Namibias erlebten die Kolonialzeit sehr unterschiedlich. Der Norden war nicht für weiße Besiedlung vorgesehen, weil den Deutschen dafür die Kapazität fehlte; die dort lebenden Ovambo, damals wie heute die Mehrheitsethnie, wurden weder ausgelöscht noch vertrieben. Einheit in Vielfalt, das Motto der Regierungspartei Swapo nach der Unabhängigkeit, hätte der Verschiedenheit der historischen Erinnerungen Rechnung tragen müssen. Doch es blieb nur das Einheitsgebot. Ein Beschluss des Parlaments im Jahr 2006, die Nachfahren der Genozid-Opfer gleichberechtigt an den Verhandlungen mit Deutschland zu beteiligen, wurde nie umgesetzt.
In den Schulbüchern kommt der Genozid durchaus vor. Aber die offizielle Geschichtspolitik missachtet die Spezifik der Auslöschungserfahrung, indem sie die Kämpfe von Ovaherero und Nama als Vorläufer des späteren Befreiungskampfs einem größeren Narrativ unterordnet. Symptomatisch dafür ist die Gestaltung des staatlichen Genozid-Denkmals in Windhoek: Im unteren Teil zeigt ein Relief erhängte Opfer, im oberen Teil zerreißt ein triumphierendes Paar, eher Ovambo ähnelnd, seine Ketten. Der Schriftzug „Ihr Blut wässert unsere Freiheit“ ist eine Zeile aus der Nationalhymne, gemünzt auf die Toten im Ringen um Unabhängigkeit.
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Während die meisten ihrer Parlamentskolleg:innen in die Viertel der Wohlhabenden gezogen sind, ist Ida Hoffmann in Katutura wohnen geblieben, Windhoeks Schwarzensiedlung aus der Apartheid-Zeit. Nama Location, so wird die Gegend, in der ihr Häuschen steht, noch heute genannt. Ein Begriff der ethnischen Segregation; früher stand ein „N“ vor jeder Hausnummer.
Auf ihrer Veranda erzählt die 77-Jährige aus einem Leben, in dem sich persönliche Emanzipation, nationaler Befreiungskampf und die Bewusstwerdung der Nama-Community verbinden. Sie kam von ganz unten: eine Halbwaise, herumgestoßen, misshandelt, nur wenige Jahre Schule, dann Hausmädchen. Mit Anfang 20 schloss sie sich der Swapo an, wurde als furchtlose Aktivistin bekannt, saß im Gefängnis.
Nach der Unabhängigkeit war sie es, „eine Frau!“, die als Erste die männlichen Nama-Führer an einen Tisch holte. Die Ovaherero waren längst organisiert; die Nama, zerteilt in ein Dutzend Untergruppen, fanden durch Ida Hoffmann zu einer gemeinsamen Stimme. Sie trug ihre Forderungen nach Deutschland: Schuldanerkennung, Entschädigung, Repatriierung der Schädel. Aber sie schaute auch nach innen, in die Community hinein, konfrontierte sie mit Versäumnissen. Hoffmann stammt aus Warmbad, ganz im Süden, Heimat des legendären Jacob Marengo2 , der die Nama mit den Worten „Ihr werdet deren Sklaven werden!“ vergeblich davor warnte, einen Vertrag mit den Deutschen zu unterschreiben. Hoffmann, fromme Katholikin, kniete in Warmbad nieder, „um Gott um Vergebung zu bitten für die Fehler, die wir in der Vergangenheit gemacht haben“.
Im Parlament, dem sie 13 Jahre angehörte, forderte sie die Swapo-Granden beim Thema Genozid heraus – bis sie nicht mehr aufgestellt wurde. Sie blieb dennoch Parteimitglied, selbst als das Schlimmste zur Gewissheit wurde: Ihr erstgeborener Sohn, der lange als vermisst gegolten hatte, war in Angola in den berüchtigten „Dungeons“ dem innerparteilichen Terror der Swapo gegen vermeintliche Verräter zum Opfer gefallen. Im Haus erinnert ein Foto an ihn, ein junger Mann mit zarten Zügen, so sah sie ihn zuletzt. „Trotz aller Schmerzen, ich bin dem Kampf für unsere Rechte treu.“
Ins Abseits geriet die Eigensinnige schließlich auch in der eigenen Community. „Die Nama-Männer wollen keine Frau, die stark und klug ist“, so erklärt sie es. Ihre Beine schmerzen, sie geht nur noch mit Mühe. Trotzdem besteht sie darauf, dass wir den Kindergarten besuchen, den sie vor 40 Jahren gründete, damit Township-Kinder bekommen, was sie selbst nicht hatte: einen guten Start ins Leben. Hier wird sie mit Respekt gegrüßt.
Beim Verlassen der Nama-Location sagt der Taxifahrer unvermittelt: „Die Nama sind wie Tiere, sie wollen nicht arbeiten und trinken viel.“ Rassismus und soziale Konkurrenz: Viele wissen nicht, was der Genozid war, ob es ihn wirklich gegeben hat. Und während die Opfer-Nachfahren befürchten, vom sogenannten genocide money aus Deutschland gar nichts abzubekommen, wird es ihnen schon geneidet.
Das Royal House in Bethanie hat ein Wellblechdach und eine Toilette über den Hof. Royal House, so nennen sich wichtige Chief-Familien der Nama. Hier sind es die Verwandten von Cornelius Fredericks, der als Kommandant des Widerstands 1907 auf Shark Island enthauptet wurde. Für die!Aman,3 seinen Zweig der Nama, ist Bethanie der Stammsitz. An den Wänden der Wohnstube hängen die Hobbymalereien einer jungen Frau aus der Familie; sie ist in Arbeitskleidung gekommen, fährt einen Lastwagen der Müllabfuhr. „Für eine königliche Familie leben wir sehr bescheiden“, klagt ihr Onkel Hartmut Fredericks. Er spricht Deutsch, hat in Köln als Kfz-Mechaniker gearbeitet. „Uns fehlt auch Bildung. Als vom Genozid Betroffene sind wir heute Bürger zweiter Klasse.“
Die Begegnung begann mit einem Gesang aus dem methodistischen Gebetbuch. Der Einfluss der Missionare ist bis heute spürbar, nicht zuletzt in biblischen Ortsnamen wie Bethanie. Doch teilen sich die Nama in diverse kirchliche Zweige, neben anderen Trennlinien entlang von Herkunft und historischer Verortung. Auch sind Chief-Erbfolgen heute umstrittener als früher. So haben die Fredericks einigen Aufwand getrieben, um mit Dokumenten aus Archiven zu beweisen, dass ihr Royal House seit der Einwanderung aus der Kapkolonie im 19. Jahrhundert durchgängig existiert hat. „Die Blutlinie, die Abstammung ist wichtig. Wir mussten manchen in unserem Clan beweisen, dass die Blutlinie den Genozid überlebt hat.“
Begriffe wie aus einer anderen Zeit. Während die Nama-Vertreter:innen auf der internationalen Bühne ihre Stimme in der universellen Sprache von Völkerrecht und restorative justice erheben, ist an der Basis der Identitätsanker die Sub-Community, ihre Geschichte, ihre legendären Anführer. Die Nachfahren der Genozid-Opfer sind sich der kulturellen Verluste durch die Kolonialisierung besonders deutlich bewusst, spüren Leerstellen in der Lebensweise und im eigenen Inneren.
Die Fredericks brechen auf zu einem Gespräch mit Vertretern des staatlichen Ombudsmanns für Menschenrechte; sie hoffen auf Unterstützung, um Shark Island vor der drohenden Erweiterung des Hafens zu bewahren. Was sich dann im Konferenzraum des Dorfrats abspielt, gleicht eher einem Clash zweier Kulturen. Die Abgesandten des Ombudsmanns gehören zur Mehrheitsethnie der Ovambo, tragen gutgeschnittene Anzüge und eröffnen forsch: „Wir wollen wissen, was ihr fordert; dann entscheiden wir, ob wir dazu Ja oder Nein sagen.“ Ein Fredericks meldet sich zu Wort. Er war unter den Straßenarbeitern, die vor Jahren den Damm zur Insel erneuerten und dabei menschliche Gebeine fanden, am Ende waren es ein Dutzend Säcke voller Knochen. „Es waren unsere Ahnen“, sagt er leise. Die Männer in Anzügen machen sich eine Notiz.
Die Spiritualität einer Erinnerungskultur, in der die Sorge um die unbestatteten Vorfahren eine große Rolle spielt, auch die schuldhafte Verpflichtung ihnen gegenüber, lässt sich aus europäischer Warte nur in Ansätzen begreifen. Deportierte Schädel, vom Meer verschlungene Gebeine machen aus Gedenken unendlich verlängerte Totenwachen.4 Performative Formen kollektiven Erinnerns sind leicht misszuverstehen als „Tradition“. Herero-Frauen trugen in der vorkolonialen Ära einen Kopfschmuck, der aus Rindsleder Hörner andeutete. Nach dem Genozid und dem Verlust der Herden banden sie sich erst nur ein Tuch um den Kopf, später kam die Otjikaiva auf: eine von Stoff umwickelte Rolle Papier symbolisiert nun die Hörner. Das wirkt stolz und expansiv, aber nur noch ältere Frauen tragen die Otjikaiva im Alltag, farblich passend zum Kleid. Für Jüngere ist sie pures Requisit für feierliche Anlässe.
So steht die Hörner-Symbolik für die Klage über Verlorenes, für die Erfindung einer neuen Tradition und für die Mühe, sie zu erhalten. Den Rindern werden heutzutage die ausladenden Hörner meistens abgeschnitten, denn sie verletzen einander damit bei Kämpfen, und das können sich die Besitzer nicht leisten.
Die Zersprengung der Gemeinschaften und das Bemühen, nach dem Genozid das Leben wieder zusammenzusetzen: Beides drückt sich bei den Nama in ihren Patchworkstoffen aus. Sie gehen zurück auf die armseligen, aus Fetzen zusammengefügten Bekleidungen der Überlebenden; später wurde daraus ein Merkmal der Resilienz. Im Vergleich zu den Herero-Kostümen, zumal den Fantasieuniformen der Männer, spricht die Erinnerungskultur der Nama eine verhaltenere Sprache, und vielleicht sind beide so verschieden wie einst die antikolonialen Kampfformen: offene Feldschlacht bei den Herero, Guerillataktik bei den Nama.
Gibeon ist ein weit auseinandergezogenes, schattenloses Dorf im Süden Namibias, gezeichnet von einer ländlichen, abgeschiedenen Armut. Manche leben in zusammengenagelten Blechhütten; ein Steinhaus kann nur bauen, wer Verwandte mit festem Einkommen hat, in der Stadt. Schwer vorstellbar, dass hier die Heroes Days, die Heldentage stattfinden werden. Das jährliche Ritual erinnert an Hendrik Witbooi, einen charismatischen Anführer, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Waffe gegen die Deutschen erhob. Wegen seiner frühen klarsichtigen Kritik am Kolonialismus „Afrika den Afrikanern!“5 gilt er als namibischer Nationalheld, abgebildet auf Banknoten.
Tatsächlich tauchen am nächsten Morgen Schwärme von Reitern auf, junge Männer und Halbwüchsige, sie tragen die charakteristischen rituellen Hüte der Witbooi, mit weißem Stoff umwickelt, ein Zipfel nach oben weisend. Auf dem Battlefield, einer Freifläche am Ortsrand, bekommen die Reiter letzte Instruktionen für ihre jeweiligen Rollen. Eine Blaskapelle spielt auf, wechselt zwischen Kirchen- und Popmusik, Lautsprecher schallen über den Platz. Am Mikrofon fungiert ein Gemeindeoberer als Erzähler, in atemloser Dramatik führt er durch die Handlung, ein Kriegsgeschehen in drei Akten.
Im ersten Akt bleiben drei Deutsche tot auf dem Battlefield (einer der Toten schüttelt sich den Sand aus den Schlappen), im nächsten Akt kommen die Deutschen mit Verstärkung, aber tumb wie sie sind, fallen sie auf einen Hinterhalt herein: Die Witbooi-Krieger haben ihre weißen Hüte als Attrappen in die Bäume gehängt, die Deutschen kommen herangaloppiert, sind irritiert, ballern auf die Hüte, und schon prescht von hinten die Guerilla heran und nimmt die Deutschen mitsamt Pferden gefangen.
Nun erlischt die Heiterkeit. Der letzte Akt stellt den 29. Oktober 1905 nach, den Tod des 70-jährigen Hendrik Witbooi. Erkennbar an seinem weißen Pferd, nur von zwei Getreuen begleitet, reitet er aus dem Gesichtsfeld der Zuschauer, im Lautsprecher fällt ein Schuss, alle Reiter stürzen hinterher. Sie bringen den Toten auf seinem Pferd liegend zurück, verschwinden dann mit dem Leichnam hinter Bäumen. Um ihn vor der Schändung durch die Deutschen zu schützen, bekommt der Held ein unmarkiertes Grab. Man weiß bis heute nicht, wo es ist.
Die Zuschauer stimmen die Clan-Hymne an, ein getragener Gesang, manchen treten Tränen in die Augen. Der Erzähler steigert sich zu einer letzten Botschaft, mahnt die Anerkennung des Genozids durch Deutschland an; danach die Nama-Hymne, Nationalhymne genannt. Als die meisten gegangen sind, wehen über das verlassene Battlefield die wehmütigen Töne einer Tuba.
Später suchen zwei ältere Frauen das Gespräch, stellen sich vor als Frau Hübsch und Frau Otto. Sie hatten deutsche Großväter, gaben ihren Kindern deutsche Namen. „Wir sind auch Deutsche“, sagen sie zur Erklärung, „Nama-Deutsche“. Das Wort Vergewaltigung fällt in diesen Gesprächen nicht; es wird stillschweigend mitgedacht. Sexualisierte Gewalt war verbreitet in der Kolonie, und nach den zahlreichen Feldzügen des Militärs gegen die Witbooi waren weibliche Kriegsgefangene leichte Opfer. Später gab es Siedler, die mit einheimischen Haushälterinnen in einer Art Konkubinat lebten, und manche hatten Kinder mit mehreren Frauen. „Mein Großvater hieß Lehmann“, sagt eine Frau in Gibeon. „Er besaß die Farm auf dem Land, das vorher unseres war. Er starb 1961, ich habe ihn noch gesehen.“ Sie hält einen Moment inne und sagt dann sanft: „Da ist noch etwas, das es von den Deutschen anzuerkennen gilt.“
Pässe für Nachfahren von Genozid-Opfern – könnte nicht auch dies, wie bei Juden und Jüdinnen, eine Form von Reparationen sein? Und wenn Deutschland seine verleugneten Nachkommen wertschätzen würde, könnten vielleicht die nicht ausgesprochenen Worte hörbar werden.
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Zäune – über endlose Kilometer ziehen sie sich beidseits von Straßen und Pisten durch das karge Land. Namibia ist extrem dünn besiedelt und dabei sozial extrem ungleich, und beides wird durch die Zäune illustriert: 70 Prozent des kommerziell nutzbaren Agrarlands gehören einer weißen Minderheit von weniger als 5 Prozent der namibischen Bevölkerung. Bei deutsch- und burisch-stämmigen Großgrundbesitzern ist eine Farm von 40 000 Hektar keine Seltenheit.
Westlicher Druck sorgte beim Übergang zur Unabhängigkeit dafür, die Interessen der Weißen zu schützen. Folglich machte die Verfassung von 1990 Land zu deren Privateigentum, das die Nachfahren der Genozid-Opfer bis heute als besetzt betrachten, als ihr enteignetes kommunales Ahnenland. Es gab Anläufe für Landreformen, doch nichts von Belang geschah. Manchmal verdingen sich die Enkel und Urenkel der einst Vertriebenen als Farmarbeiter bei den Nachfahren der Vertreiber.
So ist es im Süden, im Nama-Gebiet, aber auch am Waterberg, im Hereroland, wo ein alter Mann sagt: „Wir müssen betteln, wenn wir nur unsere Toten dort begraben wollen, von wo unsere Ahnen vertrieben wurden.“ Die Deutsche, die ihm auf seiner Parzelle mit ein paar Ziegen Fragen zum Genozid stellt, verstärkt nur seine Bitterkeit. „Alles ringsum war unser Land, und jetzt gehört es deinen Brüdern und Schwestern. Was willst du von mir?“
Okakarara, Hauptort der Herero am Waterberg, ist ein Kaff entlang einer asphaltierten Straße. Nach Sonnenuntergang, wenn in der letzten Verkaufsbude die Glühbirne erloschen ist, fällt Okakarara ins Dunkel, und nur um die Bierbars herum regt sich schattenhaft Leben. Auf die Frage, was die Menschen hier am meisten brauchen, sagt der örtliche Herero-Chief: „Hilfe bei seelischen Problemen.“ Hilfe bei Depressionen und Alkoholismus. Gemessen am heroischen Selbstbild der Herero-Kultur eine berührend intime Auskunft.
Nahebei, auf der „Hamakari Jagd- und Gästefarm“, können deutsche Touristen eine Safaritour zu den Stätten der Gefechte gegen die Ovaherero buchen. Die Geschichte der Farm ist auf ihrer Website nachzulesen, es ist die Geschichte der Familie Diekmann aus Diekmannshausen am Jadebusen, die 1907 mit einer Kiste Werkzeug einwanderte und auf Vermittlung der Schutztruppe, so die Chronik, das erste Stück Land erwarb. Vom Genozid keine Rede. Terra nullius, das Land war einfach da. Ist nicht, wer von den Folgen eines Genozids profitiert, in das Unrecht verwickelt – so wie eine Generation später jene Deutschen, die zum Schleuderpreis das Hab und Gut deportierter Juden und Jüdinnen erwarben?
In den Intellektuellenzirkeln der Ovaherero hat früh ein Bewusstsein dafür eingesetzt, dass der Genozid in Deutsch-Südwestafrika und die Verbrechen des Nationalsozialismus miteinander verflochten sind. Auf Anregung eines anglikanischen Geistlichen, der in den 1940er Jahren ihr Bemühen um internationale Aufmerksamkeit unterstützte, nahm Raphael Lemkin den Fall der Herero in seine Arbeit am Genozid-Konzept auf.6 Für den polnisch-jüdischen Juristen war koloniale Massengewalt an Zivilisten ein zentrales Thema seiner Studien, bevor der Holocaust dann die Abfassung der Anti-Genozid-Konvention bestimmte. Lemkin diskutierte in New York auch mit Herero-Studenten, die bei den noch jungen Vereinten Nationen Lobbyarbeit machten. In den 1960ern Jahren verglichen prominente Unabhängigkeitskämpfer aus den Reihen der Herero erstmals die Auslöschung ihrer Vorfahren mit der Judenvernichtung, auch als Reaktion auf die NS-Nostalgie bei damaligen revanchistischen Feiern von Deutschen am Waterberg. In jüngerer Zeit wurde eine Entschädigungsklage gegen Deutschland in den USA einem Anwalt übertragen, der zuvor erfolgreich jüdische Opfer gegen die Bundesrepublik vertreten hatte.
Den Umgang mit dem Holocaust als Modell für Anerkennung, Aufarbeitung und Entschädigung zu betrachten und mit Nama und Ovaherero zu verhandeln wie mit der Jewish Claims Conference, hat Deutschland stets im Tonfall moralischer Empörung zurückgewiesen. Aus dem deutschen Völkermord an Schwarzen Menschen hat sich keine Ethik entwickelt und keine Selbstbefragung. Als habe die fundamentale Erfahrung des Genozids, dass die Zugehörigkeit zum Menschsein aberkannt werden kann, mit seelischen Folgen über Generationen, im Fall der Ovaherero und Nama keine Gültigkeit.
1 Theodor Leutwein war Gouverneur der Kolonie von 1894 bis 1904.
2 Auch Morenga genannt, siehe den dokumentarischen Roman von Uwe Timm, „Morenga“, Köln 1985.
3 Das! steht für den in Khoisan-Sprachen vorkommenden Klicklaut.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien: „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Berlin (Propyläen) 2022. Die Recherche in Namibia wurde zum Teil von Medico International unterstützt.
© LMd, Berlin
Wegverhandelt
von Charlotte Wiedemann
Deutschland verweigert bis heute eine Anerkennung juristischer Folgen des Genozids (1904–1908) sowie direkte Gespräche mit den beiden repräsentativen Verbänden der Opfernachfahren, der Nama Traditional Leaders Assocation und der Ovaherero Traditional Authority, über deren Forderung nach Reparationen. Stattdessen wird seit 2015 mit der namibischen Regierung hinter verschlossen Türen über eine „Joint Declaration“ verhandelt1 , derzufolge 1,1 Milliarden Euro, über 30 Jahre verteilt, in regionale Entwicklungsprojekte fließen sollen. Obwohl gegen dieses Vorgehen seit 2023 eine Klage der Opferverbände beim Obersten Gericht Namibias anhängig ist, hat die soeben neu gewählte Regierung in Windhoek der Declaration zugestimmt. Sie billigt damit über die Köpfe der Opfernachfahren hinweg auch die Annahme einer offiziellen deutschen Entschuldigung. Beide Staaten verstoßen mit diesem Vorgehen gegen die United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples von 2007. Unberücksichtigt bleiben ferner die Communitys der Damara und San, von denen – ohne Vernichtungsbefehl – ebenfalls ein großer Anteil getötet wurde. Einziger Fortschritt: Dem Vernehmen nach wird Deutschland in einem Addendum zur Joint Declaration den Genozid vorbehaltlos anerkennen, ohne die einschränkende Formel, es sei nur „aus heutiger Sicht“ ein Völkermord. Der Paramount-Chief der Ovaherero forderte dennoch jüngst einen Neustart der Verhandlungen unter Aufsicht der UN und der Afrikanischen Union.
1 Text auf der Website der Deutsch-Namibischen Gesellschaft e.V. https://www.dngev.de